Ausbruch

Langsam und nur mit Mühe schlägt das Wesen zum ersten Mal seit langer Zeit seine verklebten, trüben Augen auf. Alles, was es erkennen kann, ist Dunkelheit. Es lauscht und hört dumpfe Geräusche, die klingen, als kämen sie von weit weg, als würde sich das Wesen gänzlich unter einem Kissen befinden, welches die exakten Laute filtert und vereinfacht. Vorsichtig tastet es nach vorne und zu allen Seiten: Von einem schuppigen Material umschlossen, kann es sich in dieser geheimnisvollen Kammer kaum bewegen...

Die klaustrophobische Enge lässt das Wesen zitternde Panikattacken erleiden, die lichtlose Umgebung lässt seine Phantasie bizarre Illusionen und Wahnvorstellungen zaubern, die Finsternis singt von einem düsteren Ende. Ohne zu wissen, wie es in dieses bedrohliche Gefängnis geraten ist oder wer es selbst eigentlich ist, spürt es, dass es sich nach Freiheit sehnt, als sei es seine Bestimmung, ein Instinkt, der einfach da ist, ohne echten Grund und ohne jede Bedingung. In seiner Bewegungslosigkeit fühlt es sich jedoch gleichzeitig schwach und kümmerlich, während der Körper wie gefesselt erscheint, treibt der Geist rastlos umher. Das Wesen muss sich zwingen, langsam zu atmen, um klar denken zu können. 

 

Mehrere Tage und Nächte, in der Kammer zu einer einzigen endlosen Schwärze verschmolzen, verharrt das Wesen in gekrümmter Position und als Teil des dunklen Nichts, das es beherbergt. Näherkommende Geräusche, die sich anhören wie ein gedämpftes Summen, erwecken es erneut. Es versucht, mit dem Gewicht des gesamten Körpers zu schwingen und zu tanzen, doch ohne großen Erfolg. Es bemerkt jedoch, dass seine Kammer nicht grundsätzlich steinern und unflexibel zu sein scheint. Diese Erkenntnis reicht, um den Wunsch nach Veränderung und nach Lebendigkeit zu verstärken. In seinem Inneren empfindet es, dass es irgendwo mehr geben muss als die kleine, düstere Welt innerhalb dieser drückenden Mauern. Doch für weitere Befreiungsversuchte fehlt dem Wesen die Kraft, es ist müde und muss schlafen.

 

Einige Zeit später beginnt das Wesen, an den Wänden zu knabbern und zu kratzen. Seine eingeengten Gliedmaßen sind steif und ungeschickt, doch es arbeitet unablässig weiter. Es gelingt ihm, erste Teile der pappigen Hülse zu beschädigen, aber für mehr reicht seine Ausdauer vorerst nicht aus. Unzufrieden mit sich selbst geht dem Wesen erneut die Energie aus, es fühlt sich klein, schwach und unvollkommen, als ob es eine Last trägt, die es nicht abwerfen kann. Doch tief in seinem Inneren weiß es, dass es mehr sein kann, als das, was es gerade ist, dass dort draußen mehr sein dürfte, dass irgendwo jemand auf ihn wartet, dass es da etwas gibt, das nur enthüllt werden muss.

 

Nach weiteren Tagen stummer Ruhe erwacht das Wesen wieder und spürt eine seltsame Bewegung in seinem Inneren, eine sanfte Kraft, die es nach oben drängt. Wieder schabt und scharrt es, zielgerichteter und heftiger als je zuvor, an den Fängen des Kokons, der das Wesen in seiner Trostlosigkeit und Einsamkeit gefangen hält. Und tatsächlich: Durch ein kleines Loch dringt plötzlich ein kleiner Lichtschein ins Innere. Gleichzeitig erschrocken und freudig erregt nagt und schürft das Wesen weiter. Das winzige Fenster bietet mittlerweile einen flüchtigen Blick auf die Außenwelt: Das Wesen kann die sanften Strahlen der Sonne sehen, die durch die Blätter der Bäume dringen, und es kann die Farben der Welt erahnen. Auch die Töne hören sich klarer und deutlicher an, das Zwitschern eines Vogels rüttelt an den Fesseln des Kerkers.
Doch die Dunkelheit in seiner Kammer, noch immer mächtig und allgegenwärtig, verschlingt diese kurzen Momente des Feuers, und als das Wesen wieder die Erschöpfung ergreift, sackt es in sich zusammen, denn das Schwarze ist noch immer viel größer als das Bunte, und die Hoffnung auf eine Umkehrung dieses Verhältnisses erscheint plötzlich wieder in weiter Ferne. Durch das Löchlein zieht zudem die Kälte ein und fröstelt das Wesen des Nachts. Noch immer fragt es sich, wer oder was es eigentlich ist, wie es aussieht, und wozu sein ganzer Aufwand eigentlich dient. Es zweifelt an seinen tiefsten Gefühlen und versinkt in Niedergeschlagenheit.

 

Eine erstaunliche Helligkeit weckt das Wesen nach einer unbestimmten Dauer aus seiner Lethargie. Glänzend und blendend flutet Licht die Kammer und erfüllt es mit neuem Leben. Das Guckloch hatte sich während seiner Starre zu einem beachtlichen Riss ausgeweitet, womöglich durch die stummen Wünsche des Wesens, durch den Wind, der draußen munter über die Welt tobt, oder einfach nur durch die Zeit. Das Wesen kämpft, zappelt und ringt mit sich selbst, als es sich erneut aus der Dunkelheit erhebt. Es schürft und strampelt, als es versucht, sich endgültig aus seiner gewohnten Position zu befreien. Seine Bewegungen werden wilder und auch wenig verzweifelter. Seine Gedanken gleichen einem schäumenden Strudel, das unbekannte Ziel ist zum Greifen nah, und doch unerreichbar. Das Wesen wirkt, als würde es sich zerreißen, dann zu verblassen und neu zu entstehen. Den eigenen Körper, den es bislang nie zu sehen bekommen hatte, verwandelt sich nun in etwas Anderes, etwas Schönes, etwas Starkes, ohne sein direktes Zutun, aber doch, weil es Wille und Wunsch ist. Und als die Transformation vollendet und geglückt war, durchbricht das Wesen wie einem Sturm die alten Hüllen und grauen Muster. Es sieht sich und die Welt im gleißenden Sonnenlicht. Es war nun kein ärmliches, unförmiges und hilfloses Räupchen mehr, sondern ist ein wunderschöner Schmetterling, dessen Flügel die strahlenden Farben des Regenbogens tragen.

 

Das Wesen fühlt sich leicht und ungetrübt, als es sich in die Lüfte erhebt und die Welt von oben betrachtet. Es hat die Dunkelheit endlich hinter sich gelassen, hatte nicht aufgegeben, hatte durchgehalten und ist in voller Pracht erwacht. Es hat entdeckt, dass die Schönheit in ihm die ganze Zeit vorhanden gewesen war, dass sein großes Potenzial verborgen unter den Schichten der Selbstzweifel gelegen hatte. Gefangen in der Dunkelheit, hatte niemand seine wahre Natur erkennen können, nicht einmal er selbst. Das Wesen hatte sich ein Ziel gesetzt, war seinem Gespür und seiner inneren Stimme gefolgt und hatte alles, was es besitzt, investiert. Es hatte Zeit und Energie benötigt, vielleicht auch wenig Glück und Zufall, vielleicht auch ein bisschen Hilfe von außen und eine kleine Prise Schicksal, aber jetzt kann es die Welt erkunden, Freiheit und Freude atmen. Anmutig fliegt der Schmetterling davon und bringt der Natur den Frühling.

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