Das Buch der Erinnerungen

Ich sitze auf meinem Lieblingsmäuerchen. Du weißt schon, das mit diesem herrlichen Blick über die Stadt. Das Wetter ist angenehm kühl und trocken.
Ich setze mich möglichst bequem hin, schabe mit dem Stoff meiner Jeans an dem faserigen und löchrigen Gestein. Mit dabei habe ich mein altes Notizbüchlein. „Das Buch der Erinnerungen“, wie ich es liebevoll verklärend nenne, beinhaltet Texte aus beinahe jeder meiner Lebenslagen und jedes Lebensalters. Mein inoffizielles Tagebuch, eine kurze persönliche Biographie, verfasst in scheinbar kryptischen Worten.

Die Texte – eine Mischung aus Fiktion und Realität. Die, dich mich kennen, können die Hintergründe der Zei­len womöglich entschlüsseln. Alle anderen zweifeln an meiner emotionalen Belastbarkeit, halten mich für einen hilflosen Denker, werden dadurch aber bestenfalls selbst zum Nachdenken angeregt. Und ist nicht dies das Ziel eines jeden kleinen unbedeutenden Schriftstellers?

 

Ebenso anwesend ist der abgenutzte und abgearbeitete Bleistift, er wechselt beliebig aus meinen dünnen, willigen Fingern hinter mein nachdenkliches Ohr oder zwischen meine verarbeitenden Zähne. Dementsprechend sieht er auch aus, er dokumentiert das Fortschreiten des Schreibens und Rekapitulierens durch verwesendes Abblättern, jede Zeile eine Kerbe. Aber er ist nun einmal mein Stift, wir haben eine persönliche Verbindung, er verwandelt meine mal depressiven, mal aggressiven oder mal witzigen Gedanken zu mehr oder minder gelungenen Buchstabensalaten auf den vergilbten Blätter meines ranzigen Notizblocks.

 

Ich öffne ein Bier – Bier habe ich dabei, selbstverständlich – nehme einen großen Schluck, schmecke die zarte Bitterkeit des Hopfensaftes. Ein Schluck Inspiration, ein Schluck Glück. Denn ich bin kein Poet, wahrlich nicht, ich bin eher ein Betrunkener mit einem zittrigen Stift. Manchmal versuche ich krampfhaft zu schreiben, manchmal fließt es aus mir heraus, manchmal will ich bestimmten Leuten vorsätzlich den Spiegel vorhalten, manchmal gänzlich ohne Ziel und Motivation. Der Alkohol, oft ein Katalysator für meine innere Denk- und Schreibfabrik, aber keinesfalls immer, zum Glück.                         

 

Noch ein Schluck, dann wandert meine Hand zwischen die fauligen, aber wertvollen Seiten meines Büchleins und schlägt zufällig eine willkürliche Doppelseite auf. Und plötzlich verändert sich die Szenerie um mich herum: Ich sitze immer noch auf dem Mäuerchen, aber sie ist dabei. Sie lehnt sich genüsslich an mich, ihr weicher Kopf an meiner Schulter, eine Hand in den Taschen meines und gleichzeitig ihres flauschigen Lieblingskapuzenpullovers. Mein rechter Arm um ihren zarten Körper, per­fekt kompatibel zu meiner eher schmalen als fitten äußerlichen Erscheinung. Ihr süßes Kichern bringt mich zum Lachen, das Sonnenlicht verstärkt die strahlenden Farben ihrer Augen.

 

Ihr langes Haar riecht nach Sommer – und tatsächlich, ich bli­cke ausnahmsweise von ihr ab, um uns herum eine vergessene Welt: Eine herrliche Aussicht über die fröhlich-betriebsame Stadt, überall grüne Wiesen und bunte Blüten, ein würziges Aroma, welches nur diese Jahreszeit bietet. Es schmeckt nach Spontaneität, Lebenslust und Gelassenheit. Aus der Ferne hört man ein heiteres Lachen, nur zu erklä­ren durch ein gemütliches Barbecue und kalte Getränke. Untermalt durch das Zirpen der Grillen und den grellen, aber angenehmen Lärm von glücklichen Kindern aus dem renovierten öffentlichen Schwimmbad ein paar hundert Meter weiter, durch die erfrischende, kühle Brise zu uns herangetragen.

 

Wir müssen einander nichts sagen, nehmen immer mal wieder ein dezentes Schlückchen aus unserem naturtrüben Radler, genießen den Moment. Als würden wir nicht wissen, dass all diese gemeinsame Zeit vergänglich sein wird. So sehr wir uns auch das Gegenteil einreden. Später scheint der volle Mond mit seinem fahlen Licht genau auf uns, wir im Spotlight der Nacht. Die Stadt leuchtet friedfertig und aufgeweckt zugleich, dezent im Hintergrund. Zwei Menschen, eine Geschichte.

 

Wie aus einem nächtlichen Fiebertraum komme ich wieder zu mir. Ein rauschendes Testbild auf dem Fernseher, plötzlich ein anderer Film. Ich blicke mich um, realisiere die Aktualität und die echte Welt. Um mich herum: Der Abend, seine finsteren Klauen der Dunkelheit langsam Richtung Mäuerchen ausstreckend. Mein Körper zittert, es fröstelt mich. Stechmücken nerven mich mit ihrer bloßen Anwesenheit, ihrem hochfrequenten Gesurre und ihrer kontrolliert zappligen Flugweise. Die wild wuchernden Hecken wurden viel zu lange nicht mehr geschnitten, der marode Rasen sieht traurig aus mit seinen durch den Re­gen geknickten Halmen. Die Stadt scheint auf etwas zu warten, verlassen und düster.

 

Sie ist nicht da. Mittlerweile wohnen wir in verschiedenen Kapiteln, die gemeinsame Geschichte ist beendet. Ob gerechtfertigt, zu früh, zu schnell oder nicht, bleibt unklar in den Weiten meines Buches. Der Lauf der Zeit hat uns getrennt, was würde ich geben für nochmals einen solchen Tag oder eine letzte Nacht, angereichert mit all den Erinnerungen, die damals noch keine Erinnerungen waren.

 

Aber manchmal ist es einfach besser, das Buch zuzuschlagen oder weiterzublättern, anstatt immer wieder die gleichen Passagen zu lesen und die Vergangenheit virtuell, im Geiste aufleben zu lassen. Niemals sollte ich aber Seiten herausreißen, denn sie sind ein Teil von mir – aber manchmal versperrt einem die Vergangenheit den Blick auf das Wesentliche, nämlich die Gegenwart und die Zukunft.

 

Ein neuer Schluck Bier. Kurzes Blinzeln. Doch noch mal eine Fahrt in den Tiefen des persönlichen Lebens, eine Runde Erinnerungslotterie? Vergangenen, schönen Dingen gedenken, die man nur wegen der bösen Enden mutwillig und fahrlässig zu streichen versucht?     

 

Nein. Reicht. Ich schließe „das Buch der Erinnerungen“.

 

Für heute. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0