Der Unsichtbare

Wie ein Schatten huschte der Mann durch die Stadt. Unbemerkt schlängelte er sich durch die unerträgliche Menge an Menschen, die sich wie umtriebige Ameisen in alle Himmelsrichtungen über die Straßen bewegten. Es regnete, und obwohl ihm das nichts ausmachte, zog er sich seine Kapuze über den Kopf.

Die Stadt war sein Zuhause, aber keine Heimat, die ihn willkommen hieß. Auf den überfüllten Wegen fühlte er sich wie ein Fremder, ein Geist, der zwischen den Menschen dahintrieb, wie ein Luftballon vorbei an Wolken, wie ein Laubblatt, das von der Strömung eines Flusses geschickt um Felsen herum manövriert wird...

Meist stand er einfach so da, in einem Park oder einer Gasse, oder saß auf einer Bank, stundenlang. Er beobachtete das geschäftige Treiben der Menschen, ihre eiligen Schritte und lebhaften Gespräche, ihre Rendezvous und Streitigkeiten. Umgekehrt schenkte ihm niemand einen Blick, niemand sah ihn, während er unsichtbar Zeuge des Lebens und Wirkens anderer war. 

 

Die Nächte empfand er als die schlimmsten Momente, obwohl sie leise waren und seine Unsichtbarkeit weniger auffiel als tagsüber. Wenn die Stadt in einen tiefen Schlaf versank und die Sterne ihn durchschienen, fühlte er sich noch verlorener. Er streifte durch verlassene Gänge, grübelte und traf manchmal die Schatten seiner Vergangenheit. In der tristen Stille der Nacht spürte er die Glückseligkeit der Menschen um ihn herum, die warm und rot aus den Häusern strahlte. Sie träumten selig, erschöpft von ihren Pflichten und Vergnügungen, im wohligen Arm von Familie und Freunden, tankten neue Energie und konnten den Beginn des nächsten Morgens kaum erwarten. Er selbst hatte es sich abgewöhnt, schlafen zu gehen, denn sein Werk wird immer unverrichtet bleiben.

 

Manchmal versuchte er, in seinem Lieblingscafé ein wenig menschliche Nähe oder zumindest eine vage Begegnung zu finden, welche er so sehr herbeisehnte. An diesen Ort ging er damals schon, er mochte die angenehm zurückhaltende Einrichtung und den leckeren Cappuccino, in dessen Schaum früher liebevoll eine Zeichnung angelegt wurde, manchmal ein Herz, manchmal ein Baum, manchmal ein glückliches Gesicht, manchmal mit Kakaopulver verfeinert. Doch neuerdings wurde er auch hier nicht länger groß beachtet, so als wäre er nicht wirklich da. Der Cappuccino kam kalt, der Milchschaum wirkte fahl und maschinell. Seine Worte wurden vom Lärm der Gespräche verschluckt, seine aufmerksamkeitssuchenden Gesten verloren sich in der Hektik der Leere. Er war nur noch ein Echo in einer Welt, die nicht länger zuhörte. Trotzdem kehrte er regelmäßig hierhin zurück, weil er nichts anderes kannte.

 

Eines Tages schwebte er wieder pausenlos durch die Stadt und bemerkte plötzlich eine Frau, die ihn magisch anzog. Ihre roten Haare leuchteten, ihr Lächeln war so strahlend und einnehmend, dass hinter ihr immer die Sonne schien. Sie war ein Farbklecks inmitten des Graus und der Gleichgültigkeit, und er beschloss, sich an ihre Fersen zu heften. Aus sicherem Abstand heraus beobachtete er sie weiter, folgte ihr auf Schritt und Tritt und spürte etwas in seinem Inneren, was er lange als verschollen geglaubt hatte. Einmal drehte sie sich um, und ihr neugieriger Blick traf ihn direkt ins Mark. Ihr Sommerkleidchen flatterte im Wind, plötzlich hörte er Vögel zwitschern.

Sie ging in sein Café. Vor der Tür studierte sie die Karte und trat danach ein. Mit einer herzerwärmenden Freundlichkeit bestellte sie am Tresen ein Heißgetränk und setzte sich dann an einen Tisch mit zwei Stühlen. Er fasste sich ein Herz und nahm gegenüber von ihr Platz, hoffend, dass sich ein Moment ergäbe, in dem er mit ihr sprechen könnte.

Doch egal wie sehr er sich auch bemühte, sie schien seine Anwesenheit nicht zu spüren. Er betrachtete sie dabei, wie sie ihr Buch mit grauem Einband las und währenddessen immer wieder lächelte. Wenn sie über etwas nachdachte, was sie gelesen hatte, knabberte sie auf ihrem Bleistift und blickte verträumt durch den Mann hindurch, aber sie sah ihn nicht an. Er blieb ein Geist, so nah, und doch so fern. Sie machte sich Notizen auf hellblauen Zettelchen, und manchmal kicherte sie, wenn sie auf ihr Handy blickte. Mutig öffnete er sein Herz und sprach zu ihr: "Mit dir möchte ich gemeinsam allein sein." Seine Worte verhallten, obwohl sie kurz zuckte, aber sie hatte bloß einen Einfall, der ihr in den Kopf schoss, und notierte ihn. Es sprudelte aus ihm heraus, er erzählte von seinem Schmerz, seiner Unsichtbarkeit und seiner Sehnsucht nach einer Verbindung. Seine Stimme war ein Flüstern, das niemand hörte, und doch hoffte er, dass sie seine Worte auf irgendeine Weise empfing.

 

Enttäuscht von der Wirkungslosigkeit seiner Rede ging er und wanderte bekümmert durch die verwirrenden Winkel der Stadt. Er wollte nicht so schnell resignieren, dieses Mal nicht, und begann, Gedichte zu schreiben und Bilder zu malen, die er ihr bei ihrem nächsten Treffen zeigen wollte, um seinen Gefühlen und Gedanken sichtbar Ausdruck verleihen zu können. Tagelang und wochenlang saß er im Café, kritzelte und formulierte und dichtete, eifrig wie nie zuvor. Endlich besaß er ein wieder ein Ziel und eine Richtung. Er wartete auf sie, und als er die Hoffnung bereits aufgeben wollte, trat sie ein, und ihre Schönheit und Unbekümmertheit ließ den gesamten Raum erzittern. Sie setzte sich, und vor ihr türmten sich seine Werke. Sie sah in seine Richtung und schien ihn direkt anzuschauen. Ein flüchtiges Lächeln schimmerte aus ihren Mundwinkeln, ihre Augen funkelten suchend, aber auch anerkennend. Für einen flüchtigen Moment glaubte er, dass sie seine Existenz spürte, dass sie ihn sah, dass sie das sah, was vor ihr auf dem Tisch lag und für sie geschaffen wurde. Aber dann wandte sie ihren Blick ab und fuhr fort, ihr Buch zu lesen, welches sie aus ihrer Handtasche zog. 

 

Erst lächelte er, dankbar für den kurzen Moment der Zusammengehörigkeit und des Erkanntwerdens, den er empfunden hatte. Doch dann überwog der Frust und die Angst, nie mehr gesehen zu werden, und er schleuderte seine Texte und Gemälde vom Tisch und mitten durch das Lokal. Doch auch das schien niemanden zu interessieren. Er ging und versuchte, dieses Kapitel zu beenden, die Frau und das Café zu vergessen. Es fiel ihm schwer, und weil er nun gar nichts mehr hatte, nahm er innerlich endgültig Abschied von dieser Welt. Seine Einsamkeit fraß ihn auf, seine Seele verkümmerte. Er sehnte sich nach einem Ort, an dem er wirklich dazugehörte, nach Menschen, die ihn sahen und verstanden. Doch die Welt schien ihn auszuspucken, ihn abzustoßen wie einen Fremdkörper oder ihm den Eintritt zu verwehren, egal, was er tat und versuchte.

 

Die Monate vergingen, und der Mann wurde immer unsichtbarer. Selbst sein Geist verblasste, während er weiterhin rastlos durch die Straßen irrlichterte, wie eine Nebelschwade ohne Bedeutung. Als er bemerkte, dass er im Matsch der verregneten Wege des Stadtparks keine Spuren hinterließ, beschloss er, aufzugeben.

Er stieg auf das Dach eines hohen Gebäudes und blickte hinunter auf die Stadt, die ihn mied. Der Wind strich sanft über seine Haut, und sein Herz war erfüllt von der bitteren Erkenntnis, dass sein Schicksal unausweichlich war. Das Hupen der Automobile verband sich zu seinem Abschiedslied. Die kalten Lichter der Häuserschluchten wiesen ihm den Weg in Richtung Freiheit und Geborgenheit.

Er schloss die Augen und ließ sich in die Tiefe fallen. In seinem letzten Moment des Daseins fühlte er eine seltsame Leichtigkeit, eine Erlösung von der Schwere des Lebens. Die Welt würde ihn nicht vermissen, er sie jedoch ein bisschen, wenngleich nur heimlich. Aber vielleicht erreichte er nun endlich einen Ort, an dem er Frieden fand – eine Oase fernab von der Wüste aus Einsamkeit und dem Gefühl der Fremdheit.

Die Welt drehte sich weiter, unberührt von dem Schicksal eines einsamen Mannes, der in der Leere verschwand. Während die Menschen weiterhin unbekümmert ihr Leben lebten und die Schatten der Unsichtbaren unbeachtet blieben, verblasste seine Geschichte und niemand sollte sich an ihn erinnern, wie er zu wissen glaubte.

Im Flug drehte er sich auf den Rücken und blickte zurück nach oben, in den blauen Himmel statt auf den grauen Asphalt, und seine Augen schienen ihm einen Streich zu spielen, als er einen rothaarigen Schopf erblickte, der vorsichtig über die Kante des gerade verlassenen Hausdaches spähte. Noch einmal spürte der Mann alle Gefühle gleichzeitig, bevor er dumpf aufschlug und das Nichts ihn sich einverleibte.

 

Gleichzeitig entdeckte die Reinigungskraft des Cafés unter einem Tisch einen hellblauen Notizzettel, der mit Kaugummi angeklebt worden war. Empört zog sie ihn ab, bewunderte  dann aber die saubere, elegante Handschrift, die nur von einem Mädchen stammen konnte, und las leise: "Mit dir möchte ich gemeinsam allein sein.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0