Der Spaziergang

"Junge, geh doch mal raus an die frische Luft – das wird dir gut tun. Beweg' dich ein bisschen, das belebt, und du kannst abschalten und ein bisschen Dampf ablassen. Schau mal, die Sonne scheint, ein wunderbarer, ein goldener Oktobertag erwartet dich. Los geht's!"

 

Klingt alles nach Küchenpsychologie, aber auch irgendwie gut und tröstlich. Deswegen dachte ich am Wochenende: Ach komm, wenn das alle ständig behaupten, dann muss da doch was dran sein. Raus aus der Höhle, rein ins Leben, ein gemütlicher Spaziergang, Beine an, Kopf aus. Doch ich hatte die Rechnung ohne mein dämliches Gehirn gemacht, welches aktuell strapazierter ist und merkwürdiger denkt als je zuvor. Ein Streitgespräch.

Ich [frohen Mutes, motiviert]: "Mensch, ist ja wirklich schön. Die angenehm erfrischende Luft, die mir in die Nase strömt und den Muff des Selbstmitleids und der Unzufriedenheit vertreibt."

 

Gehirn: "Aber schau mal da hinten, da liegt der Weg im Schatten. Könnte frostig werden für dich Vollidiot ohne Jacke. Lieber zurück? Und by the way: Fühlst du, wie hinter der kühlen Brise der wuchtige Herbststurm lauert?"

 

Ich [cool]: "Ich ignoriere dich einfach. Das war mein Ziel, deswegen bin ich unterwegs. Ich mach's wie diese komische Emoticon-Affen, die die WhatsApp-Chats der Welt erobert haben: Augen zu, Ohren zu, Mund zu."

 

Gehirn: "Augen sind ein gutes Stichwort."

 

Ich [irritiert]: "Was meinst du?"

 

Gehirn: "Fällt dir nicht etwas auf, wenn du dich mit den anderen Spaziergängern vergleichst?"

 

Ich [erregt]: "Hör auf damit, ich will mich von dir nicht schon wieder deprimieren lassen. Ich bin für mich hier, die anderen sind mir egal. Lass mich jetzt einfach diese eine halbe Stunde genießen, du hast den Rest der Woche bestimmt, gönn mir das."

 

Gehirn: "Also ich finde es spannend genug, das muss ich dir unter die Nase reiben: Alle anderen schauen in die Welt, zum Horizont, ins Licht, in den blauen Himmel. Nur du guckst auf den Boden. Die ganze Zeit."

 

Ich [trotzig]: "Lalalala, ich hör' dich nicht."

 

Gehirn: "Du wendest dich ab von der Sonne, als wäre sie ein Monster, das dich mit seinen Strahlen auffressen möchte. Du siehst die farbenfrohe Schönheit der Herbstes gar nicht wirklich, mit der du dich zu motivieren versuchtest. Alles, was du wahrnimmst, ist das harte Grau des Asphaltes, die Steinchen, die von deinen krummen Plattfüßen zermahlen werden. Dich gibt es nur noch mit gesenktem Kopf. Lass doch mal nach oben schauen."

 

Ich [verärgert]: "Das blendet, ich bin photosensitiv."

 

Gehirn: "Bullshit. Du hättest ja eine Sonnenbrille einpacken können, du Hirni. Wir wissen aber beide, dass die Sonne nicht der Grund ist für dein gesenktes Haupt."

 

Ich [empört]: "Ja, weil du mir wieder einen Scheiß einredest, wie immer. Was ist es dieses Mal? Ich verachte die Welt, ich entkoppele mich von ihr, ich habe kein Selbstvertrauen und kein Recht, meinen Kopf oben zu tragen? Dass ich niemandem begegnen und ich von niemandem gesehen werden möchte? Das Übliche eben?"

 

Gehirn: "Ja."

 

Ich [nachdenklich]: "Ja..."

 

Gehirn: "Jetzt habe ich dich. Erinnere dich mal an gestern: Du weichst nicht nur den Blicken der Umgebung aus, sondern auch denen anderen Menschen."

 

Ich [fuchsig]: "Alter, ich hab' mich anderen offenbart, um Hilfe gebeten, die Situation erklärt. Was willst du noch von mir?"

 

Gehirn: "Ach ja, hast du das? Konntest du deinen Gegenübern in die Augen schauen? Nein. Du hattest Angst davor, dass sie über deine Pupillen in dich hineinblicken, in das Chaos deiner Seele. Dass sie sehen, ob du dramatisierst, ob du übertreibst, ob du lügst, ob du nicht nur nicht kannst, sondern auch nicht willst."

 

Ich [abwiegelnd]: "Lass das. Es war halt keine einfache Situation. Das war alles."

 

Gehirn: "Nein, du weißt einfach selbst nicht, was wahr ist, was war, was ist, was sein soll und sein darf. Du bist ein hilfloses Baby auf der Suche nach einer schaukelnden Wiege. Mit so einem baumelnden Mobile oben drüber."

 

Ich [wütend]: "Fick dich. Verschwinde! Ich lass mir das jetzt nicht kaputt machen, nicht schon wieder. Ich konzentriere mich auf die bunten Blätter, die hier überall liegen, um meine Füße tanzen, im schönsten Gelb, im knalligsten Rot. Sieht toll aus."

 

Gehirn: "Es sieht toll aus, wie Blätter, die gleichgültig vom Baum abgestoßen wurden und öffentlich zum Sterben auf den Straßen verteilt werden, dahinsiechen und ihre letzten Atemzüge erleben? Wie sie hilflos dem nebligen November und seinen Schergen zum Fraß vorgeworfen werden? Du bist echt makaber. Der Baum verscharrt Bestandteile seines selbst, um sich selbst zu retten, weil sie zu viel Energie fressen und ihn belasten. Das würdest du auch gerne mit mir machen, was? Aber, tja, da muss ich dich enttäuschen. Ohne mich bist du erst recht nichts."

 

Ich [gespielt bockig]: "Die Farbenpracht ist trotzdem wunderschön."

 

Gehirn: "Wie Menschen, die bluten. Todeskampf eben. Es sind Hilfeschreie in Farbe, Testamente in bunt." 

 

Ich [frustriert]: "Kannst du mir einmal nicht in die Parade fahren?!"

 

Gehirn: "Nope."

 

Ich [wild]: "Muss ich jetzt ständig jemanden um mich herumhaben, der dich aus meinem Bewusstsein vertreibt?!"

 

Gehirn: "Wer würde sich das antun wollen?"

 

Ich [erzürnt]: "Lass mich in Ruhe!"

 

Gehirn: "Spar dir deine Energie. Ach, ne, du hast ja gar keine."

 

Ich [resigniert]: "Fuck ey... zum Glück sind wir wieder daheim. So war das nicht geplant. Ich kann nicht mehr..."

 

Gehirn: "Siehste, das passiert, wenn du versuchst, dich zu verändern. Du wolltest spazieren gehen, ich nicht. Du hast dich mir widersetzt. Genau, zieh wieder die Decke über den Kopf, schlaf ein Ründchen. Hier ist es doch schön, oder? Warm, ruhig, nur wir beide. Apropos: Wir sprechen uns später. Du musst schließlich noch eine gute Ausrede erfinden, heute Abend nicht zu deinem vereinbarten Treffen zu gehen."

 

Ich [weinend, niedergeschlagen]: "Ich hasse dich!"

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