Ein Tag auf Schwedisch

Ich ziehe die Schnürsenkel noch einmal fester, wuchte mir den prall gefüllten Rucksack auf die Schultern – und verlasse den Mietwagen in Richtung des kleinen, verschnörkelten Wanderweges.

Meine Wenigkeit in Schweden – ein kurzer Reisebericht.

Meine kommende Reise wird kurz sein, nur ein paar wenige Kilometer, die sich aber zeitlich ziehen wird, aufgrund des holprigen Untergrundes, der willkürlich angeordneten Steine, der Wurzeln, die sich kunstvoll winden und sich mir mutig in den Weg schlängeln, weil der felsige Untergrund kein Wachsen in die Tiefe zulässt. Zusätzlich ist mir der Rucksack, gerade bei den Aufwärtspassagen, eine Last, aber eine notwendige, ich bin auf ihn und seinen Inhalt für die nächsten Stunden angewiesen, und ich weiß, dass sich sein Mitführen auszahlen wird. Obwohl der Weg so knapp ausfällt, er teilweise sogar daran scheitert, ein echter Fußweg zu sein, da die wuchernde, niemals harrende Natur seine Fläche bedroht und zurückerkämpfen möchte, er beinahe zu einem schmalen Trampelpfad degradiert wird, ist die Welt um ihn herum eine völlig andere, als die, in der ich normalerweise schreite.

 

Die Luft, so frisch, dass eine Atemlosigkeit, trotz teils herausfordernder Anstiege und stetiger Bewegung, schlicht unmöglich erscheint. Eine kühle Brise, die immer wieder, in den richtigen Augenblicken, für Leben sorgt, indem Ästchen fallen, Blätter verwehen und meine Haare in alle Richtungen zerzausen. Das Sonnenlicht, welches sich tapfer durch das Dickicht manövriert und für faszinierende Farbspielereien sorgt, in Pfützen, und in malerischen Spinnwebengeflechten von achtbeinigen Künstlern.

Und jedes Mal, wenn ich den Blick von diesem verschlungenen Waldpfad abwende – was gar nicht so häufig der Fall ist, weil jeder Schritt konzentriert gemacht werden muss, die Chance des Abrutschens oder Umknickens allgegenwärtig – entdecke ich, so kitschig es klingen mag, die ersten flatternden Schmetterlinge der Saison, bemerke ich riesige Pilze an dickrindigen Bäumen, frage ich mich, ob die umgestürzten Bäume mit ihren nun in die Höhe gestreckten, erdigen Wurzelanlagen, dies selbstlos taten, um neuem Leben unter ihnen Platz zur Entfaltung zu gewähren, oder der Zahn der Zeit sie hat umwerfen lassen.

Mein erstes Ziel, ein Zwischenziel, ist ein eiförmiger Fels, ein in seiner ovalen Schlichtheit beeindruckendes Steinmonument. Er steht auf einer Anhöhe, von der Sonne beschienen, so als ob er, und nur er, das Recht hätte, genau dort, an dieser steinernen Küste, mit einem herrlichen Blick über das gesamte Waldgebiet, zu stehen, reglos, aber genießend, ohne zu wissen, wie er überhaupt an diesen Ort gelangt ist, und aus welchen Gründen. Seine poröse Haut ist stellenweise mit Moos bewachsen, eine natürliche Decke, die er eigentlich gar nicht braucht, eine uneigennützige Symbiose, die nur dem Moos und seinen Auswüchsen die besten Plätz beschert.

Ich erklettere ihn, lege mich auf ihn, spüre seine wohlige Wärme, obwohl es mir ironisch vorkommt, von einem leblosen steinernen Klumpen Wärme zu empfangen, genieße die Ruhe, die nur durch gelegentliches Rascheln im Unterholz und angeregtes Vogelzwitschern, so vorsichtig wie flüchtig, unterbrochen wird – und ich verschmelze mit diesem Stein zu einem starren Standbild in der Sonne, leise, schweigsam, sich erholend, mit sich im Reinen.

Nach fünfzehn, vielleicht auch zwanzig oder gar dreißig Minuten, ich habe keinerlei Zeitgefühl, stärke ich mich mit einem Käse-Weißbrot-Sandwich für die weitere Reise, die nun, regeneriert und gestärkt zugleich, wie im Fluge vergeht.

An der Bestimmung meiner Wanderung ins Nichts, fern der Zivilisation, angekommen, stelle ich den Rucksack relativ sorglos – aber wer soll ihn hier, an diesem Ort, denn auch stehlen? – an der, nein meiner Hütte für diese Nacht, einer etwas anderen Unterkunft, ab. Denn mein Auge führt mich ein paar Meter weiter, nun erreichen die elektrochemischen Impulse auch meine Beine, die beinahe zu diesem Ort rennen, obwohl eigentlich keinerlei Dringlichkeit besteht: Ein süßer, wackliger Steg in den See – meinen See? –, in das eiskalte Wasser, garniert mit einer kleinen Feuerstelle, die mir helfen wird, mein Dosenfutter zu erwärmen und meine pampigen Marshmallows zu karamellisieren.

 

Ich öffne ein Bier, ein Starköl, wie es hier heißt, nur in speziellen Monopol-Alkoholläden zu ergattern, und genieße die Bitterkeit des Gebräus, endlich mal wieder ein richtiges Bier, nicht nur ein nach Bier schmeckendes Wasser.

Viel Physisches, Körperliches, tue ich an diesem Tag nicht mehr, ich strecke maximal die Beine ins trübe Nass, bis es wehtut – also jeweils so zwei, drei Sekunden –, ansonsten sitze ich da, auf hölzernen Klappstühlen, in der Sonne, solange es geht, am Feuer, sobald es nötig wird. Trotzdem vergeht die Zeit rasant, obwohl ich nur sitze, nachdenke, runterkomme vom Stress des Alltags – wobei man sich dann schon manchmal fragt, ob der Alltag wirklich so stressig und eintönig ist, wie man immer so sagt, wie man sich so einredet, ob das nicht einfach so ein Klischee, eine gängige Floskel ist, dass ein Alltag eben stressig und eintönig sein muss, damit Urlaub davon funktionieren kann, ein guter Urlaub braucht davor eben einen beschissenen Alltag – und die absolute Stille und Bewegungslosigkeit genieße, die nur durch das Huschen von flinken Mäuschen und dem Quaken der überraschend zutraulichen Frösche in (meinem) See, die munter und gemütlich in perfekter Haltung vorbeischwimmen, aus dem Gleichgewicht gebracht wird.

In der Nacht dreht sich der Wind, die liebliche Stille wird plötzlich eine gefährliche, oder zumindest einschüchternde. Zügiger als angedacht ziehe ich mich in die Hütte zurück, mein Alleinsein scheint bedroht und gleichzeitig eine Bedrohung, ich höre Geräusche aus Nah und Fern, die vielleicht gar nicht existieren, mein Gehirn spinnt die wildesten Szenen aus Filmen und Videospielen zusammen und spielt diese nach, ein Schrotflinten-Mörder aus einer noch tiefer im Wald gelegenen Behausung, oder ein riesiger Elch, der plötzlich vor der wackligen Holztür steht, die lediglich mit einem kleinen Häkchen verschlossen ist, und nicht so zahm und tollpatschig wirkt wie die bei der familienfreundlichen Safari ein paar Tage zuvor, sondern wild entschlossen, meine Hütte notfalls einzureißen, um an Futter – an mich? – zu gelangen.

 

Dabei sitze ich weiterhin da, höre lediglich dem Knistern meines kleinen Holzofens zu, und alles, was ich wirklich merken sollte, ist, dass es eben nicht mein Wald, mein See und mein Steg ist, sondern das Leben um all das herum weitergeht, größtenteils im Verborgenen, dass ich keinerlei Besitzanspruch habe, weil ich gerade der Eindringling bin, und nicht der fiktive Elch vor meiner Hütte, dementsprechend sollte ich mich also verhalten. Dennoch bin ich dann froh, als ich endlich eingeschlafen bin, und meine Ängstlichkeit, auch aufgrund fehlender Ablenkung zu begründen, von meiner Müdigkeit besiegt wurde.

Erholt und fit wache ich früh morgens auf – Sonnenaufgang ist bereits gegen 5 Uhr, die schwedischen Tage sind bereits jetzt, Mitte April, äußerst gestreckt – und begebe mich zur Morgentoilette, ein hölzernes Plumpsklo ein paar Schritte westlich der Hütte, innen von lästigen Stechmücken und lustigen 50er-Jahre-Angel-Postern bewohnt, mit einer zweiteiligen Tür, den oberen Teil lasse ich offen, in erster Linie aus Lüftungsggründen.

Aber dann: Während ich da so sitze, ein Klogang mit der wohl besten Aussicht, die ich je bei einem Gang auf die Toilette genießen durfte, wie auf einem exklusiven Thron, betrachtend, wie der Steg langsam von der Sonne erobert wird, wie das Leben des Waldes gemächlich aufwacht, wie auch ich langsam von der Sonne erleuchtet und beschienen werde, lasse ich den gestrigen Tag und seine Empfindungen, die ich hatte, Revue passieren, mit einer inneren Zufriedenheit, und denke mir, noch bevor mich die Flut an Stechmücken vertreiben und mein göttliches Erlebnis auf diesem alten Plumpsklo etwas ruinieren, dass ich, dass vielleicht jeder so eine Tour, so einen Tag, etwas häufiger erleben sollte. Oder dürfte. Oder müsste.

 

Ohne groß etwas zu haben, ohne Eitelkeiten, in Ruhe, allein und dennoch geborgen, ohne Hektik, ohne andere Menschen, einfach nur man selbst und die Natur, ein bisschen Nervenkitzel, aber nicht zu viel, einfach atmen und denken, die Feinheiten des Lebens wahrnehmen, die Kleinigkeiten wertschätzen.

 

Ich verscheuche die grell surrenden Mücken, trete wieder hinaus, in den Schein der Sonnenstrahlen, die mich freudig empfangen – und frage mich: War das Glück?

 

War ich… glücklich?

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Kommentare: 1
  • #1

    Samy (Montag, 06 Mai 2019 22:21)

    Wie immer, zum Nachdenken anregend und super geschrieben