Hüter des Lichts

Es ist wieder einer dieser ungestümen Tage: Das triste Winterwetter überschwemmt uns mit Regen, Schnee und Sturm. Leere und Erschöpfung drohen, ein bedrohlicher Dunst senkt sich über die Welt, hüllt sie ein und unterdrückt ihren Lärm. Die dunkle, ungemütliche und wie stillstehende Atmosphäre, durchbrochen nur von flackerndem Kerzenschein und dem stechenden Geruch des schäbigen Glühweins, erinnert uns gleichzeitig an die Wichtigkeit der Kunst. Der Herbst und der Winter dienen ihr als Inspiration und schenken ihr gleichzeitig eine Aufgabe...

Um mich herum, aus den grauen Tiefen der Kälte, beginnt es zu flüstern. Die Eiszapfen vibrieren, und ich fühle, wie etwas meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte, irgendwo dort draußen in der lichtlosen Ferne. Die merkwürdigen Stimmen rufen mich nach Rettung, nach Freiheit, nach Erlösung. Mich, einen von tausenden namenlosen Schriftstellern und Künstlern, gefangen im Ozean der Gesichtslosigkeit, im Dickicht der Beliebigkeit. Wer da nach mir ruft? Nun, es sind die Geschichten. Denn auch ich bin, wie viele andere auch, ein Hüter der Phantasie, eine Bewahrer der Märchen, ein Sprachakrobat, der für Bewegung sorgt, ein Schreiber, der aus der Schwärze schöpft, um Licht zu bringen. Besonders in dieser Zeit.

 

Viel zu oft schreibe ich von der Dunkelheit. Doch was ist sie eigentlich?
Nun, sie ist ein undurchdringlicher Nebel, ein klebriger Sturm, der sich in der Realität windet und uns zu verschlingen versucht. Aber in dieser Dunkelheit schlummern Geschichten, strahlende Erzählungen, wie Lagerfeuer in tiefster Nacht, und sie warten nur darauf, aus ihrer Gefangenschaft befreit zu werden, sich endlich losreißen zu können. In ihrem Herzen trägt die Dunkelheit Hoffnung. So wie ein Bergmann nach wertvollen Schätzen gräbt, so durchforste ich die Finsternis nach den funkelnden Juwelen der Phantasie, grabe in der Erde, um zu entdecken, was unter der Oberfläche schlummert.

 

Denn in den Geschichten, in der Fiktionalität, in den Träumen, ja, dort liegt die wahre Realität, abseits von all dem, was wir tagein, tagaus riechen, sehen, schmecken, berühren, hören und fühlen, beeinflusst und gesteuert von den Klauen der Dunkelheit. In der Phantasie ist alles möglich, aber gleichzeitig auch nichts, aber sie ist dehnbar, anpassbar, viel mehr und intensiver, als es das vermeintlich echte Leben ist, weil wir allein sie steuern können. Die Realität ist nur ein fades und lausiges Abbild dessen, was sein könnte. Kunst und Phantasie sind keine Ablenkung, sie sind echt. Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen, und trauerte viel zu lange einer Welt nach, die hilflos und verloren ist. Immerzu beschäftigte ich mich mit der Düsternis, anstatt das kleine Fünkchen Licht, welches in ihr schlummert, am Leben zu erhalten, zu beschützen und zu vermehren. Zwischen den Zeilen steckte das Samenkorn, aus dem Neues und Gutes erwachsen könnte, wenn man es denn zuließe.

 

In dieser Erkenntnis liegt aber auch eine Verpflichtung, eine Notwendigkeit: Es ist die Berufung jeglicher Kunst und Schriftstellerei, jede einzelne der verborgenen und verschwundenen Geschichten zu finden und zu retten aus der einschnürenden, gleichförmigen und schrecklichen Einfallslosigkeit der Realität. Wir greifen nach den Sternen, damit ihr ruhig schlafen könnt. Wir legen rechtzeitig knisterndes Reißig nach, damit das Feuer in euch nicht erlischt. Wir lösen die Ketten und mindern die Angst. Wir lüften eure Oberstübchen durch, um Schimmelbildung zu vermeiden.
Beachtet aber: Die Geschichten sind dabei nicht unser Werk. Sie werden von uns lediglich gefunden und umsorgt. Wir spüren sie auf und hüten sie, um sie euch zu schenken.

 

Arno Schmidt sagte einmal:
"Die Welt der Kunst und der Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare."
Diese Worte hallen in meinem Kopf wider, während ich meinen Federkiel über das Papier tanzen lasse. Ich kreiere eine neue Welt, die wahre Welt. Sie kann bekannt wirken, kann vertraute Worte und Bildern enthalten, oder stellt alles auf den Kopf. Jede Welt, die ich erschaffe, ist formbar wie ein Schneeball, und transformiert sich in den Gedanken der Leserinnen und Lesern wiederum zu anderen Welten, angereichert mit eigenen Erfahrungen und Ideen. Es entsteht ein gemeinsames Multiversum, welches uns verbindet wie eine Familie, und das sich auflehnt gegen die Unterdrückung durch die Realität. Denn die wahre Magie der Geschichten entfaltet sich erst, wenn sie die Grenzen des eigenen Geistes überschreitet. Und nur wer verlernt, seine Phantasie zu nutzen, der wird attackiert und erstickt von der Finsternis, die sich wie ein nie endender Albtraum in den Köpfen einnistet und sie stummschaltet. Jedes Wort, jeder Satz, jeder Einfall kann zum Rettungsanker werden, zur Fackel, die den Weg weist.

 

Für mich am Schreibtisch fühlt es sich an, als würde ich mit einer schwächlichen Taschenlampe durch das schlammige Unterholz der Dunkelheit kriechen, und die Geschichten, die ich finde oder von mir gefunden werden wollen, sind wie leuchtende Glühwürmchen, die um mich herumschwirren. Ich höre ihr leises Surren, ihre tiefen Seufzer, aber auch ihre elendigen Schreie. Sie wollen gehört werden. Sie wollen erkannt werden. Sie wollen gelebt werden. Sie wollen gerettet werden. Und ich bin hier, um sie zu loszulassen, auf Papier, auf Leinwand. Die geretteten Geschichten werden zu Botschaftern des Lichtes, die die Finsternis in euch zu vertreiben versuchen, Wärme bringen und einen Ausweg bieten.

 

Andre Heller formulierte einst:
"Die wahren Abenteuer sind im Kopf."
Wie recht er doch hat. In meinem Kopf entfalten sich Welten, die größer sind als die Realität, die lebendiger sind als der graue Alltag, die erfüllender, inspirierender, tiefsinniger sind. Die echten Abenteuer, die edlen Helden, die Intelligenz und Kreativität der Menschheit, sie existieren nur in den Seiten von Büchern, in den Zeilen, in den Bildern. In den verwirrenden Schatten der eigenen Gedanken wohnt das Licht. Phantasie ist eine Quelle des Mutes, die uns dazu anregt, über die Grenzen der eigenen Realität hinauszublicken.

 

Also schreibe ich. Ich schreibe, um die Dunkelheit zu vertreiben, um die Geschichten freizulassen, um die Kraft der Phantasie zu entfachen. Denn in den Taten und Werken der Kunst liegt die Macht, die Welt zu gestalten, zu verändern, zu erhellen und zu verbessern. Wenn die Geschichten frei sind, sind wir es auch. 

 

Und so werde ich weiter schreiben, weiter graben, weiter kämpfen gegen die Dunkelheit, die uns unterjocht und einengt.
Denn am Ende des Tages sind es die Geschichten, die die Wahrheit erzählen, während die Realität verkümmert.

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