Krieg der Meinungen

Wer mich kennt, weiß: Ich bin kein Freund und Vertreter von ideologischen Gruppierungen und Denkgebilden – egal, ob auf politischer, religiöser, gesellschaftlicher oder esoterischer Basis. Nur einem Paradigma fühle ich mich zugehörig: Der Rationalität. Und auch wenn dies überheblich und sogar in gewisser Weise selbst wieder ideologisch klingt: Rationalität sollte einen viel größeren Stellenwert in Debatten und Diskussionen erhalten dürfen, als ihr aktuell zugestanden wird.

Warum? 

Weil sie die einzige Anschauungsweise ist, die eigene Fehler einräumt und einen sich wandelnden Inhalt – zum Beispiel aufgrund wissenschaftlichen Fortschritts – begrüßt und begünstigt. Sie räumt sich selbst kein Monopol auf Allwissenheit ein, sondern bleibt stets variabel und lernfähig. Sehr sympathisch.

Das hat allerdings zur Folge, dass rationale Entscheidungsprozesse langwierig sind und drastisch entschleunigt stattfinden, da diverse Perspektiven miteinbezogen, (wissenschaftliche) Erkenntnisse konsultiert oder Kosten-Nutzen-Relationen aufgestellt werden müssen. Ein Umstand, welcher sie für die heutige Diskussionskultur unbrauchbar macht, die geprägt ist von der Schnelllebigkeit des Internets und seiner aufmerksamkeitsökonomischen Mechanismen. Lediglich ausgesprochen linke und äußerst rechte Meinungen finden Gehör und werden wahlweise abgefeiert oder zerfleischt. Die Stimme der Vernunft dagegen – und damit die der großen Mehrheit, wie ich hoffe – verschwimmt im tobenden Kampf der besonders lauten Minderheitenmeinungen der ideologischen und politischen Flügel. Denn weder die rechten Phrasendrescher noch die »Twitter-Linken« sind der echte Mainstream. Sondern freie Radikale. Schwarz und Weiß dominieren, das Grau wirkt uninteressant, weil es keine Likes generiert, keine leicht(fertig)en Lösungen anbietet und auch meist nicht ganz so prägnant und fetzig auf den Punkt zu bringen ist. Und obwohl in vielen Angelegenheiten einfach kein schnelles und pauschales Fazit zu ziehen ist oder zu ziehen sein darf.

 

Was beide politischen Ränder vereint, ist der Hang zur universalen Meinungshoheit, welcher sich in einem andauernden »Empörialismus« manifestiert. Kennzeichen: Wildes Umherschießen, Revier markieren, destruktive Beschimpfungen statt konstruktiver Vorschläge, sich selbst über seine Gegensätzlichkeit zum anderen definieren. Besonders ironisch bei linken Akteuren, die in der Art und Weise ihrer Meinungsäußerung fast schon wieder rechts sind, wenn sie ihre moralisch und intellektuell ach so überlegenen Ansichten postulieren. Denn dabei betreiben sie aktiven »Meinungsrassismus«, weil sie versuchen, sich über die abweichenden Stand-punkte und vor allem die Menschen, die sie einnehmen, zu erheben.

Dies scheint mittlerweile – auf beiden Seiten – ein regelrechter Sport zu sein: Zahlreiche Menschen mit zu viel Zeit und zu wenigen Hobbys durchstreifen wie auf Patrouille das Netz und die digitale Welt, aus Paranoia vor differenten Gedanken. Mit dem merkwürdigen Ziel, sich selbst auf den Schlips getreten oder gekränkt fühlen zu können. Um bei jeder noch so unwichtigen Kleinigkeit mit dem moralisch-mahnenden oder verschwörerisch-verklärenden Zeigefinger herumfuchteln zu können, mit dem Messer zwischen den Zähnen. Wer auf dem Eis des Internets einen Ausrutscher wagt, wird von einer Horde gewalttätiger Meinungswächter verfolgt, die mit ihren Stichsägen einen sauberen Kreis um den zum Abschuss freigegebenen Übeltäter zeichnen, statt ihm aufzuhelfen und ihn in ein trockenes, fusselfreies Handtuch der Aufklärung zu hüllen. Dass die selbsternannte Speerspitze des Fortschritts zu solch rückständigen Methoden greift, sollte eigentlich mehr Sorgen machen als der erwähnte Ausrutscher.

Der Kabarettist Serdar Somuncu findet für die Erläuterung dieser toxischen Sheriff-Tätigkeit, wenn sie von straight links ausgeführt wird, schönere Worte als ich: Er beschreibt sie u.a. als „ein Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, [die] zum oberflächlichen Fetisch“ verkommen ist. Courage nur noch um ihrer selbst willen. Schade um den eigentlich guten Ansatz, die Idee dahinter und unsere gesellschaftliche Aufgabe, nämlich rechtspopulistischen Äußerungen entgegenzutreten. Was aber rechtspopulistisch ist, bestimmen nun die linken Speaker, die mittlerweile jeglichen Bezug zur Wirklichkeit vermissen lassen und ihr eigentliches Faible für Toleranz vergessen haben.

Der Inhalt von Aussagen ist aktuell beinahe zweitrangig. Alles, was ins Visier des moralischen Radars gelangt und der selbstauferlegten Zensur – neumodisch »political correctness« genannt – widerspricht, wird sofort angegriffen, sogar und vor allem auf persönlicher statt auf sachlicher Ebene. Es wird pauschalisiert, es wird der Untergang des modernen Deutschlands vermutet, es wird rigoros gecancelt und verleumdet – welch ein absurdes Spiegelbild zu rechten Hasstiraden.

 

Für alle Linken, die sich bereits jetzt zusammenreißen müssen, ihre Keule nicht auch auf mich niederknüppeln zu lassen, ohne die Aussage meines Textes verstanden zu haben: Ich fürchte einfach, dass ihr euer eigentliches Ziel aus den Augen verliert, indem ihr die naiven Mittel der Rechten kopiert.

Prinzipiell möchte ich aber natürlich beide radikalen Lager verurteilen – sowohl den linken als auch rechten Populismus. Ganz im Sinne der Meinungsfreiheit; und mit der Mahnung versehen, dass den gemäßigten Stimmen endlich wieder Relevanz zugesprochen wird. Auch wenn diese meist nicht so laut und polternd daherkommen, machen sie einen großen prozentualen Anteil unserer Gesellschaft aus. Und die Mehrheit besitzt in einer Demokratie eigentlich die Macht.

Alle befürworten die Individualisierung der Gesellschaft, wieso dann nicht auch eine Individualisierung der Meinungen propagieren? Und nur, weil sich manche eigenhändig Scheuklappen oder Maulkörbe aufsetzen, was Wahrheitsfindung, die Grenzen des Humors, das Denken oder die Moral betrifft – muss das dann für alle anderen Menschen gelten? Definitiv nein. Andere Meinungen, Humorverständnisse u. Ä. nicht aushalten zu können und darauf hypersensibel zu reagieren, ist zutiefst undemokratisch. Womit sich die Katze in den Schwanz beißt.                                                                                      

Deshalb müssen wir unsere Diskussionskultur – vor allem, wenn sie medial stattfindet – notwendigerweise rationalisieren und optimieren. Die Meinungen anderer sind grundsätzlich zu tolerieren, wenn auch logischerweise nicht zwingend gutzuheißen.

Ein Beispiel: Wenn eine Person etwas gegen den Zuzug von Geflüchteten in die Nachbarschaft oder die Homo-Ehe einzuwenden hat, ist das ihre individuelle Meinung und erlaubt. Sie ist dann noch lange kein Nazi oder ein rückständiges Arschloch – die wüsten Attacken bitte einstellen, nur weil es dem eigenen Weltbild widerspricht. Diese Ansicht fällt unter die Meinungsfreiheit und stellt keine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die offene Gesellschaft dar. Es ist damit zu dulden und zu ertragen – so, wie die Person umgekehrt die Aufnahme der Geflüchteten oder die Legalisierung der Homo-Ehe tolerieren und dulden muss, weil die Mehrheitsgesellschaft das so entschieden hat. In gleicher Weise dürfen einer Person übrigens auch beide Themen gänzlich gleichgültig sein, das ist ebenfalls zulässig. Niemand ist dazu verpflichtet, eine Position einzunehmen und schon gar nicht, sich (öffentlich) dafür oder dagegen einzusetzen.

Nicht-tolerierbar werden die oben als Prototypen herangezogenen Einstellungen erst, wenn Folgendes eintritt: Ruft diese Person beispielsweise zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Geflüchteten in der Nachbarschaft oder Homosexuelle auf, ist diese Meinungsäußerung nicht hinnehmbar und muss mit den Mitteln des Rechtsstaates – und nur mit diesen! – bekämpft werden. Zugegeben: Die Grenze zwischen zu tolerierenden und nicht tolerierbaren Aussagen bzw. Tätigkeiten ist nicht immer so leicht herauszuarbeiten, wie in diesem vereinfachenden Beispiel.

 

Das Tolerieren von abweichenden Meinungen, die vom Grundgesetz gedeckt sind, beinhaltet übrigens nicht, diese ignorieren oder akzeptieren zu müssen. Hier beginnt die eigentlich gute Idee der Kommentierenden, diesen Ansichten entgegenzutreten, aufzuklären, zu informieren. Völlig zu Recht, denn zu viel Toleranz trägt die Toleranz langsamen Schrittes zu Grabe. Um zu verhindern, dass eine einzelne, zu tolerierende Meinung sich dergestalt ausweitet, dass sie in der Folge zum Beispiel politisch die Oberhand gewinnen und damit die offene Gesellschaft gefährden könnte, sollte das »Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung« (vgl. Carlo Strenger) angewandt werden. Betont wird hier das Adjektiv verantwortlich: Ein schlechter Gag beispielsweise gefährdet z.B. weder das Wohl aller, noch gibt er zwingend die politische Einstellung des Urhebers wieder. Kein Grund also für eine Hetzjagd. Doch in einer solchen endet die anfänglich gute Idee der Kommentierenden leider oft, nämlich in ihrer eigenen Pervertierung.

Das Vorgehen Strengers – und damit schließt sich der Kreis zur Einleitung – erfordert allerdings Arbeit: Jeder Einzelne muss sich einen Überblick über die Argumente verschaffen, den aktuellen Wissensstand reflektieren, eine zivilisierte Streitkultur pflegen und Emotionen in den Hintergrund rücken. Fakten statt Fake-News. Erscheint natürlich fürchterlich anstrengend und unsexy, hat des-wegen wohl im Alltag und in der Politik aktuell nur wenig Chancen, auch aufgrund ihrer jeweiligen medialen Prägung. Draufhauen, die eigene »richtige« Meinung auf Teufel komm raus und ohne Rücksicht überstülpen wollen und generalisieren ist eben deutlich einfacher. Dabei treibt es die Menschen – die in diesem Falle rechte Bemerkungen äußern und in ihrem Konservatismus gefangen sind – nur noch weiter in ihre Isolation und ihren Frust.

Die Sorgen und Ängste aller Menschen müssen ernst genommen werden, nicht nur die der selbsternannten Guten bzw. derer, die um ihr altes Deutschland fürchten – was auch immer das sein mag. Und meine Angst als Stimme der vielfältigen Mitte ist es, zwischen beiden Polen zerrieben zu werden, falls ich mich einmischen wollen würde. Oder ich mich gar nicht mehr traue, irgendetwas zu sagen.

 

Versteht mich nicht falsch: Ich stimme nicht ein in den Kanon der Rechten, dass man in Deutschland nichts mehr sagen dürfe. Ganz im Gegenteil, nie waren die Möglichkeiten, seine eigene Meinung kundzutun, größer als aktuell. Mit Reaktionen muss man ebenfalls immer rechnen, wenn man etwas öffentlich in die Welt hinausposaunt. Aber es herrscht mittlerweile ein solch ekliges, denunziatorisches Klima, dass es sich viele Menschen zweimal überlegen, überhaupt etwas zu sagen. Und falls sie dann tatsächlich etwas sagen möchten, müssen sie dreimal darüber nachdenken, wie sie es sagen dürfen, ohne dafür auf das (digitale) Schafott geschickt zu werden. Das beißt sich dann doch ziemlich mit meinem Freiheitsverständnis.

Nur durch die »verantwortliche Meinungsbildung« kann in der Gegenwart und in der Zukunft eine rationale und damit demokratische Streitkultur gesichert werden. Es ist zu akzeptieren, dass jeder das gleiche Recht besitzt, seine Meinung zu äußern. Allein diese Erkenntnis würde viele eskalierende Kommentarbereiche des Internets überflüssig machen. Man muss nicht mit der Einstellung des Gegenübers einverstanden sein, aber man sollte die Menschen nie auf persönlicher Ebene attackieren, sondern lediglich den Inhalt der Äußerung bzw. der Position (mit stichhaltigen Fakten!) kritisieren. Nur so lässt sich die Entstehung von Grabenkämpfen, verhärteten Fronten und vor allem von Hass verhindern.

Denn hinter den (meisten) Posts, Nachrichten und Beurteilungen stecken Menschen, die im Lichte ihrer individuellen Rollen und Biographien zu sehen sind. Menschen, die von ihrer individuellen Lebenswirklichkeit und ihrer jeweiligen Erziehung geprägt worden sind. Menschen, die möglicherweise unter dem indoktrinierenden Einfluss von Ideologien (bzw. Religionen) und Traditionen aufgewachsen sind oder noch immer leben. Das dürfen natürlich alles keine Ausreden sein und noch weniger stellt es einen Freibrief aus. Nichtsdestoweniger sollte man dieses Bewusstsein eigentlich von jeder Person erwarten, die an einer politischen Diskussion teilnimmt, egal ob von linker oder rechter Seite. Ideologien und Meinungen kann und darf man verachten, – vor allem dann, wenn es zu keiner rationalen Debatte kommt – aber die Menschen hinter den Aussagen eben nicht. Das würde einer offenen Gesellschaft widersprechen.

Ich persönlich spreche mich beispielsweise regelmäßig gegen den Einfluss der Kirche und der Religionen im Allgemeinen aus. Das heißt aber nicht, dass ich Menschen, die nicht meiner Meinung sind oder schon als Kind der kirchlichen Gehirnwäsche unterworfen waren, nicht wertschätzen kann. Es tut mir zwar leid für sie und ich würde mir ein wenig mehr Vernunft und Wille zur Rebellion wünschen – ich berufe mich in der Interaktion auf Ereignisse und Tatsachen –, aber letztlich ist es ihre persönliche Sache.

 

Treibt die moderne Diskussionskultur – falls sich diese überhaupt noch als Kultur bezeichnen lässt – weiterhin derartig seltsame Blüten wie aktuell, erreichen die Teilnehmenden trotz womöglich nobler Absichten nur das Gegenteil. Und eine anwachsende Spaltung oder eine weitere Radikalisierung der Gesellschaft kann und darf nicht das Ziel sein. Feuer bekämpft man nicht mit Feuer, Hetze bekämpft man nicht mit Hetze.

Meist erlangen z.B. rechte Trolle im Internet nur aufgrund massiver Anfeindungen linker Streithähne erhöhte Aufmerksamkeit, woraus dann ein irrationaler Streit zwischen Rechten und Linken in den Kommentarspalten resultiert und eskaliert. Damit hat der rechte Troll sein primäres Ziel erreicht, nämlich Zwietracht zu säen und ein schon von weitem sichtbares Feuer des Streits zu entfachen. Die linken Speaker begeben sich auf das Niveau des Trolls und kommen dabei ebenfalls nicht gut weg. Nur die Plattform und ihre Werbepartner profitieren von der munteren verbalen Schlägerei. Im schlimmsten Fall außerdem die cleveren, aber schäbigen Kernaussagen des triggernden Trolls.

Die Folge ist eine zutiefst undemokratische Kultur, welche sich dann auch in der hohen Politik widerspiegelt – wie man an populistischen Parteien (z.B. AfD), Akteuren (z.B. Trump) und plumpen Phrasen (z.B. »America first«) sieht und weiterhin sehen wird. Prävention kann hier nur durch zwei Dinge erfolgen: Sachliche, aber empathische Aufklärung statt Schubladendenken und Dialog statt Diffamierung.

Und genau nach dieser Maxime sollten wir handeln und denken. Für uns, unsere Demokratie und unsere offene, tolerante und freie Gesellschaft, die wir entgegen der Meinung vieler Akteure im Netz (geworden) sind. Davon bin ich überzeugt. Anstrengend ist diese Maxime, ja, möglicherweise – aber definitiv im Dienst der guten Sache.

 

 

P.S. Ein ähnliches Statement, wenn auch deutlich kürzer, verfasste ich zu den Ergebnissen der Bundestagswahl 2017, bei der die AfD erschreckende 13,5% der Stimmen erlangen konnte. Auch hier battelten sich rechte und linke Speaker in ekelerregendster Art und Weise:

Die Gruppe an Menschen, die 13,5% der Bundesbürger/-innen und die entsprechende Partei pauschal denunziert, sich alles leicht machen möchte und kernige Schuldenböcke (»Nazis«, »dummes Pack«) sucht sowie die Legitimität dieser demokratischen Wahl nicht anerkennen will, ist genauso unerträglich und zum Kotzen, wie die radikale Teilmenge innerhalb der 13,5% an Wählerinnen und Wählern, welche Andersdenkende aller Parteien und das System als Ganzes pauschal denunziert, sich alles leicht machen möchte und einprägsame Schuldenböcke (Flüchtlinge, Merkel etc.) sucht sowie die Legitimität bisheriger demokratischer Entscheidungen anzweifelt.

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Kommentare: 1
  • #1

    Klamsi (Mittwoch, 06 Mai 2020 11:27)

    Danke!
    Einfach danke.

    Wundervoll geschrieben.

    Ich wünsche mir mehr intellektuelle Menschen, mit neutralem, weitem Blick,
    die ihre eigene Meinung nicht so wichtig nehmen und sich die eigene Fehlbarkeit eingestehen,
    und den Unterschied zwischen Information und Wissen verstehen.

    Welche wundervolle Welt wäre es, wenn jeder mit Demut - im Bewusstsein der eigenen subjektiven Weltsicht -
    synthetisch an einer kollektiven Wahrheitsfindung teilhaben könnte.

    Es wird Zeit, dass die "grauen Jedi" gehört werden.