Unter der Lupe: Literarische und Lesesozialisation

Rein vom Gefühl her lesen Kinder immer weniger in Büchern, umgekehrt aber mehr auf technischen Geräten. Das Lesen wird jedoch flüchtig und die kurzen Informationstexte lassen jegliche literarische Qualität vermissen. Welchen Stellenwert besitzt Literatur in Erziehungs- und Bildungsprozessen noch? Wie können Lese- und literarische Kompetenz im Kindesalter optimal angeleitet werden?

 

Eine kleine Reise durch die Wissenschaft.


Begriffliche Annäherung

 

Die Lesesozialisation und die Literarische Sozialisation werden als sich überschneidende Felder innerhalb der Mediensozialisation betrachtet. Medien sind Teil der sozialen und materiellen Umwelt von Kindern, weshalb ein adäquater Umgang mit diesen erlernt wird und werden muss. Sie gelten nicht als eigene Sozialisationsinstanzen, wirken aber immer als Bestandteil bzw. innerhalb anderer Sozialisationsinstanzen (z.B. Schule, Elternhaus). Nachfolgend konzentriert sich die Auseinandersetzung auf Medien, die der Literatur zugehörig sind (v.a. Bücher) bzw. Leseprozesse erfordern.

 Lesesozialisation
  • Aneignungsprozess der Kompetenz zum Umgang mit Schriftlichkeit in Medienangeboten (Lesekompetenz)
    • umfasst verschiedene schriftliche Medialitäten (z.B. Zeitschriften, Internet)
    • umfasst verschiedene Modalitäten (z.B. fiktional, persönlich, sachbezogen)
  • notwendig für Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben
 Literarische Sozialisation
  • gesellschaftlich vermittelter Aneignungsprozess der Kompetenz zur Rezeption und Verarbeitung von fiktional-ästhetischen Texten
  • einerseits enge Definition, da ausschließlicher Bezug auf literarische Texte
    • Texte mit gezieltem Einsatz von sprachlichen Mitteln, mit Mehrdeutigkeit etc.
    • Texte aus Epik, Lyrik und Dramatik
  • andererseits weite Definition, da unabhängig von Medialität (nicht an Schriftlichkeit gebunden!)
    • auch Theater, Film, Vorlesen und Multimedia der Literatur zugehörig

Bleibt die Frage nach der Henne und dem Ei: Welcher Prozess ist grundlegend (für den anderen) bzw. findet zuerst statt? Klaus Hurrelmann sieht die Lesesozialisation als maßgeblich, da die erworbene Kompetenz leichter empirisch überprüfbar und für die Teilhabe in der heutigen Mediengesellschaft essentiell ist. Die Literarische Sozialisation dagegen empfindet er grundsätzlich als schwammig. Cornelia Rosebrock und Irene Pieper argumentieren umgekehrt: Sie bezeichnen literarische Texte als »Kern der Lesesozialisation«, da über sie der Weg zum eigenen Lesen und zur konzeptionellen Schriftlichkeit geebnet wird. Da ein Großteil der literarischen Erfahrungen z.B. über audiovisuelle Medien gemacht werden, erheben sie die Literatur gleichsam zum »Kern der Mediensozialisation«.


Erwerbsmodell und Verlaufsformen (nach Werner Graf)

 

Schon früh werden Kinder über Mündlichkeit an Schriftlichkeit herangeführt: Vorlesen, Bilderbücher, Spiele, Lieder und Reime stehen im Mittelpunkt, die das kognitive, emotionale, motivationale und kommunikative Fundament für das Lesen ausbilden.
Im Vorschulalter findet die primäre literarische Initiation statt: Kinder lesen zwar noch nicht selbst, festigen ihren Kontakt zur Literatur aber durch Vorleseprozesse von (Bilder-)Büchern und jeweilige Erzählerlebnisse (Anschlusskommunikation). Diese Phase initiiert den Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Rezeption. Als maßgeblich für den »Erfolg« dieses Prozesses gelten die verbale Interaktion innerhalb der Familie sowie die Nutzung medialer Ergänzungsangebote (z.B. Filme oder Spiele zur Literatur). Spätere Vielleser empfinden diese Phase rückwirkend als eine »Erfahrung der Geborgenheit«, während spätere Wenigleser von einer »qualvollen Zeit« sprechen.

Während der Zeit des Schuleintritts und der Vorpubertät stellt sich die erste Lesekrise ein, der anspruchsvolle Erwerb von Lese- und Schreibkompetenzen verunsichert die Kinder und verlangsamt ihre Rezeptionsprozesse. Abhängig von den bereits vorhandenen literarischen, medialen und Lesekompetenzen aus der Vorschulzeit führen der v.a. anfänglich hohe Aufwand des Lesenlernens und später eine mangelhafte Lesekompetenz zu einem Ausweichen auf alternative Medienangebote (u.a. Filme oder Videos). Ein erfolgreicher Schriftspracherwerb, der aufgrund positiver Vorerfahrungen und -kenntnisse geschmeidig gelingt, befördert dagegen das lustvolle Rezipieren unterschiedlichster Kinderlektüre. Außerdem kristallisieren sich in dieser Zeit zwei verschiedene Lesemodi heraus, die sich z.B. in der Art und Weise des Lesens, der Intention als auch der Auswahl der Texte unterscheidet: Das private und das schulische Lesen.

In der Pubertät folgt die zweite Lesekrise, Lesemotivation und Lesetätigkeit sinken aufgrund einer nachhaltigen Interessensverschiebung. Zeitgleich verschärft sich die Kluft zwischen privaten (Lese-)Interessen und dem Anspruch bzw. den Inhalten der schulischen Lektüre. Umgekehrt kann das Überwinden dieser Krise in der sekundären literarischen Initiation münden und das bisherige Lesen verstärken.

 

Als Ziel seines idealtypischen Erwerbsmodells, welches jedoch noch aus der Zeit vor den digitalen Medien stammt und sich rein auf eine bildungsbürgerliche Mittelschicht bezieht, formuliert Werner Graf die flexible Anwendung aller sieben Lesemodi:

Pflichtlektüre extrinsische Motivation, eingebettet in z.B. schulische Kontexte
 Instrumentelles Lesen  freiwillige Informationsbeschaffung
Konzeptlesen  Auswahl nach Kanon/Autor:in/Thematik 
Partizipatorisches Lesen   Teilhabe an sozial-kommunikativen Prozessen (»Mitreden«)
 Lesen zur diskursiven Erkenntnis  Analytische Durchdringung, Suche nach Erkenntnis
 Ästhetisches Lesen  zweckfreies Lesen, Freude an ästhetisch-künstlerischer Form
Intimes Lesen  unterhaltungsorientiert, subjektive Bedürfnisbefriedigung 

Einflussfaktoren der Sozialisationsprozesse

 

Sowohl die Lese- als auch die Literarische Sozialisation sind individuelle Prozesse, die sich in allen Phasen abhängig von Umwelteinflüssen und einer vorbereitenden, begleitenden und/oder reflexiven Anschlusskommunikation entwickeln. Die Einflussfaktoren, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene, können intentionalen (z.B. Schule, Familie) oder nicht-intentionalen Charakter (z.B. Geschlecht, Schicht) besitzen.

 

a) Geschlecht

Das Geschlecht ist ein zuverlässiger Faktor für die Prognose von Viel- und Weniglesern, denn die Mehrzahl der erwachsenen Vielleser ist weiblich. Bereits ab der zweiten Klasse und dem Übergang vom Anfangsunterricht zum weiterführenden Lesen & Schreiben sind beträchtliche Unterschiede bei Lesequalität, Lektüreauswahl und Lesefreude festzustellen, die sich spätestens während der Pubertät festigen. Auch PISA bestätigt große Differenzen zwischen den Geschlechtern z.B. in Bezug auf Lesegeschwindigkeit, die auf eine höhere Lesemotivation der Mädchen zurückzuführen sind. Die Unterschiede im Hinblick auf Lesepräferenzen, -erfahrungen und -hemmungen sind teils gewaltig: Mädchen lesen quantitativ und qualitativ anders als Jungs.

Ein Erklärungsversuch für diese Abhängigkeit der Sozialisationsprozesse vom Geschlecht stellt die »Feminisierung des Lesens« bzw. die »weiblich konnotierte Lesepraxis« dar. Die familiären und schulischen Lesevorbilder sind zu einem großen Teil weiblich (Mutter, Lehrerinnen), was zudem die Auswahl der verfügbaren und genutzten Bücher beeinflusst. Vor allem in der Pubertät hemmen die kulturell verankerten Geschlechtsstereotypen die Ausbildung von Lesemotivation und -kompetenz bei den Jungs, die sich stattdessen in Ersatzmedien flüchten.

 

b) Medialer Wandel

Grundsätzlich steht die Buchkultur unter Druck: Unabhängig vom Geschlecht sind TV, PC und Internet die meistgenutzten Medien. Die Verfügbarkeit von diesen neuen Medien muss nicht zwingend negativ bewertet werden: In vielen Fällen und vor allem auf Seiten der Mädchen werden Schrifttexte gleichberechtigt genutzt oder Bücher mit ihnen ergänzt (z.B. von den Harry Potter-Bücher zu den Filmen, multimediale Rezeption eines literarischen Erzeugnisses). Jungs dagegen nutzen neue Medien eher als Substitutionsphänomene, das Buch wird durch sie ersetzt. Für das Eintauchen in die Welt der Bildschirmmedien zeichnet sich häufig der Vater verantwortlich, was das entsprechende Angebot für sie gleichsam attraktiver macht. Gerade Videospiele erfüllen ihr Bedürfnis nach Spannung und Herausforderung, bei kompetitiven Spielen können sich die Jungs zusätzlich miteinander messen.

 

Die ausschließliche Nutzung neuer Medien wird in der Wissenschaft kritisch betrachtet, oft im Kontext bildungsferner Schichten. Andererseits registriert sie gleichzeitig eine Aufwertung der Literatur bzw. der Schriftkultur, weil die häufig genutzten Medien als »normal«, Bücher jedoch als »intellektuell« bzw. »besonders« angesehen werden. Deshalb stehen Bücher für Wissens- und Kulturvermittlung auch bei Kindern noch immer auf Platz 1. An der stetig sinkenden Lesemotivation des Nachwuchses ändert das allerdings nichts. Lesen wirkt auf Kinder »anstrengend« im Vergleich zum passiven Rezipieren neuer Medien, besonders dann, wenn kein hohes Leseniveau vorhanden ist. Auch die Schule trägt hierzu ihren Teil bei, weil der schulische Mediengebrauch auf inhaltlicher und methodischer Ebene im krassen Kontrast zur alltäglichen Nutzung elektronischer Medien steht.

Umgekehrt bietet sich heute die Chance, Literatur multimedial rezipieren zu können (z.B. Medienverbund aus Filmen, Serien und Videospiele zum Buch) bzw. über neue Medien an Literatur heranzuführen, was wiederum eine Erhöhung der Motivation nach sich ziehen kann. Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass auch neue Medien Lesefähigkeit fördern bzw. benötigen, man denke hier vor allem an komplexe Videospiele oder das Surfen im Internet. Die Lesezeit, die sich früher rein auf das Buch bezog, verteilt sich heutzutage auf mehrere mediale Schultern. Dieses Nebeneinander verschiedener Medienformen und ein jeweilig kompetenter Umgang mit ihnen sind durchaus wünschenswert.

 

c) Elternhaus

Das Elternhaus gilt als äußerst wichtiger Einflussfaktor, denn er zeichnet sich verantwortlich für die primäre literarische Initiation und fungiert damit als essentielle Starthilfe für Lesemotivation und -kompetenz. Der Erfolg dieser Sozialisationsinstanz in Bezug auf das Lesen ist jedoch abgängig von schichtspezifischen Faktoren, z.B. der medialen Ausstattung, dem Leseverhalten der Eltern (»Vorbildfunktion«) und dem allgemeinen Interaktionsverhalten zwischen Kindern und Eltern.

Das Leseverhalten der Kinder hängt stark mit der elterlichen Bildung zusammen, der Umgang der Kinder mit Print-Medien entspricht häufig dem der Eltern. Bildungsferne Familien sind mit weniger Print-Medien ausgestattet und fokussieren eher TV und Internet. In diesen Familien besitzen die Kinder häufig eigene Geräte und nutzen diese unkontrolliert. Ein großer Teil der Jugendlichen entstammt schriftfernen Lebenswelten, ihre geringe Lesekompetenz von Haus aus führt schnell zu ersten negativen Erfahrungen mit Schrifttexten. Eine emotionale oder motivationale Bereitschaft, sich mit Printmedien auseinanderzusetzen, ist kaum wahrnehmbar oder zu entfachen. Eine besondere »Risikogruppe« stellen hier Migrantenkinder dar, deren fehlende Zweitsprachenkenntnisse eine Auseinandersetzung mit hiesigen Print-Medien massiv behindert. In medial gut ausgestatteten Haushalten entwickeln die Kinder dagegen sozialisationsunabhängig individuelle Nutzungsmuster. Kinder, die viel lesen, bringen gleichsam auch mehr Zeit mit anderen Medien zu, es findet also eine gemischte, sich gegenseitig befördernde Nutzung statt.

Die Leseaktivität (im familiären Kontext) ist besonders dann motivierend, wenn sie kommunikativ eingebunden ist: Ein offenes, aktives Familienklima begünstigt das Lesen und das gemeinsame Sprechen darüber. Beobachten die Kinder außerdem die Erwachsenen beim Bücherlesen, sorgt dies wiederum für eine höhere Lesequote auf Seiten der Kinder (Alltagsrelevanz). Gemeinsames (Vor-)Lesen sowie die Beschäftigung mit Reimen und Gedichten sind essentiell für den Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Die Leseförderung innerhalb der Familie liegt jedoch meist ausschließlich in den Händen der Mutter (s.o.), was eine bestimmte Geschlechterrolle in den Köpfen der Kinder verankert.

 

d) Schule

Die Schule ist neben dem Elternhaus die wichtigste Sozialisationsinstanz und soll in der Theorie eine schwach ausgeprägte familiäre Lesesozialisation kompensieren (können). Der Literaturunterricht nimmt sich u.a. vor, Lesefreude und -motivation zu wecken, Wissen über Literatur und ihre Kontexte zu vermitteln, das Textverständnis zu schärfen und inhaltliche Interpretationen zu ermöglichen.

Jedoch steht die schulische Kompetenzvermittlung auch in diesem Bereich unter einem gewaltigen Selektionsdruck. Die Grundschule wird von vielen Kindern noch nicht als leistungsbezogen und instrumentell angesehen, weshalb Kompetenzvermittlung und Selektionsdruck noch in einem relativ harmonischen Verhältnis stehen. Die unterschiedlichen familiären Leseentwicklungen lassen sich zu diesem Zeitpunkt noch einigermaßen ausgleichen. Doch bereits ab der 2. Klasse nimmt die Lesemotivation leseschwacher Kinder ab, wenn literarische Werke nicht im Medienverbund behandelt werden. Spätestens in der Sekundarstufe nimmt der Selektionsdruck zu, der Literaturunterricht wird nun aufgrund der Methoden, Ziele und Texte als demotivierend empfunden, literarische Werke werden für fremde bzw. Prüfungszwecke »missbraucht«. Zusätzlich kontrastieren sich private Leseinteressen und die vorgegebenen Pflichtlektüren, die Mediennutzung innerhalb der Schule missachtet die mediale Realität des Alltags. Laut PISA trägt der Unterricht der Sekundarstufe de facto kaum noch zur Kompensation einer vernachlässigter Lese- und Literatursozialisation bei. 

 

e) Peergroup

Der Freundeskreis zählt vor allem während der Pubertät als zentrale Sozialisationsinstanz und beeinflusst maßgeblich, ob und wie viel (noch) gelesen wird. Die zweite Lesekrise kann nur dann überwunden werden, wenn die Peergroup Kommunikation über Literatur zulässt und die Jugendlichen sich gegenseitig Leseanregungen geben.


Konsequenzen für die Lesepädagogik

 

Aus der Forschung sind konkrete Handlungsempfehlungen ableitbar, die die beiden wichtigsten Instanzen der Literarischen und Lesesozialisation möglichst effektiv machen sollen.

 

a) Elternhaus

Für das Elternhaus wird empfohlen, die das Lesen betreffende Geschlechtsstereotype aufzulösen: Ein engagierter Vater als Leseförderer bzw. Lesevorbild kann vor allem Jungs animieren, dem Lesen eine Chance zu geben bzw. Relevanz zuzusprechen. Allgemein sollten Leseprozesse als alltäglich empfunden werden und zusätzlich kommunikativ eingebunden sein. Weil die Leseentwicklung vor der Lesefähigkeit beginnt (primäre literarische Initiation), sind anfangs vor allem Reime, Lieder, Gedichte und das Vorlesen wichtige Elemente, um Freude am Lesen, der Literatur und an Sprache zu kreieren. Eltern sollten dabei nicht als Leseerzieher, sondern Lesepartner wirken: Zwang zum Lesen wirkt demotivierend und hemmend, erreicht letztlich also nur das Gegenteil. Außerdem ist es wichtig, den eigenen Büchergeschmack nicht auf Kinder überstülpen zu wollen, sondern bestenfalls gemeinsames Interesse an bestimmten Lektüren herauszuarbeiten bzw. zu entwickeln. Um multimediale Gebrauchsmuster und die notwendige Medienkompetenz auszubilden, die Kinder auf den späteren Alltag und Beruf vorbereitet, sollte sich die häusliche Medienpädagogik jedoch nicht ausschließlich auf ein einziges Medium konzentrieren - auch nicht auf Bücher.

 

b) Schule

Der Deutschunterricht sollte viel gezielter auf individuelle Leseerfahrungen und Textsorteninteressen Rücksicht nehmen. Dabei gilt es, auch geschlechtsspezifische Unterschiede bzw. Vorlieben zu beachten, da aktuell vor allem die Mädchen von der schulischen Textauswahl profitieren. Hierzu bietet es sich z.B. an, die Freizeitlektüre der Kinder in den Unterricht einzubeziehen und an diese anzuknüpfen. Missachtet die schulische Leseförderung die individuelle Lesemotivation (z.B. durch eine riesige Kluft zwischen schulischem und privatem Lesen), kann das zum Bruch mit dem Lesen führen, schlimmstenfalls sogar im außerschulischen Bereich. Es empfiehlt sich ein Aufbrechen der starren und von der Lehrkraft vorgegebenen Analyse- und Interpretationsverfahren, um motivierende und offene Settings kreieren zu können.

Die außerschulischen Medienpräferenzen sollten gleichsam mehr in den Unterricht getragen werden. Wichtig erscheint, die veraltete Denkweise der »Medienkonkurrenz« aufzugeben und einen Unterricht zu gestalten, der alle Medien gleichberechtigt zu integrieren versucht. Besonders Jungs könnten von einer Leseförderung im Medienverbund profitieren.

Weiterhin sollte auch auf die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder geachtet werden. Die Schule als eine Sozialisationsinstanz unter vielen ist abhängig von der Wirkung zeitlich vorrangiger Instanzen (v.a. Elternhaus), es kann also nicht von einer einheitlichen Niveaustufe in Bezug auf Medien-, Lese- und literarischer Kompetenz ausgegangen werden. Den (literarischen) Rezeptionsvorgang auf eine rein technische Lesefertigkeit herunterzubrechen, schadet der Motivation der »Problemleser« zusätzlich. Viel wichtiger erscheint die kommunikative Einbindung der Lesetätigkeit: Über eine anregende Anschlusskommunikation (z.B. in Gruppen) kann Literatur auch von leseschwächeren Kindern erschlossen und zudem persönlich bedeutsam gemacht werden. 


Was ist eigentlich... Lesekompetenz?

 

Die Erlangung von Lesekompetenz ist das Ziel von Lesesozialisationsprozessen und gleichzeitig Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sowohl die Definition der Lesekompetenz als auch ihre mögliche Messbarkeit sind jedoch Inhalt zahlreicher wissenschaftlicher Auseinandersetzungen.

PISA bezeichnet die Lesekompetenz als essentiell, um eigene Ziele erreichen, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, das eigene Wissen weiterentwickeln sowie geschriebene Texte verstehen, nutzen und reflektieren zu können. Das Lesekompetenzmodell von PISA rückt also vor allem die praktische Nutzung von Texten in den Fokus. Die Lesekompetenz selbst wird in drei Komponenten aufgeteilt: Die Ermittlung von Informationen, das textbezogene Interpretieren und die kritische Reflexion bzw. Beurteilung. Zu den Vorteilen des Modells zählen die internationale Vergleichbarkeit und die Verortungsmöglichkeit von Lesestärken und -schwächen. Kritisieren lässt sich jedoch die ausschließliche Funktion als Diagnoseinstrument, welches die institutionellen, sozialen und medialen Sozialisationserfahrungen gänzlich außer Acht lässt. Die Analyse bezieht sich rein auf die technische Leseleistung, also die kognitiven bzw. reflexiven Elemente der Lesekompetenz, während die deskriptive Ebene (z.B. Motivation, Emotion, Anschlusskommunikation) außen vor bleibt. Aus diesem Grund entwickelte Klaus Hurrelmann sein Kompetenzmodell unter der Maxime, die sozialen, schulischen, personalen und medialen Entstehungsbedingungen mehr zu berücksichtigen. Deshalb erweitert er die Lesekompetenzmodell um weitere drei Komponenten: Die Lesemotivation (Erwartungshaltung), die Emotion (Erfahrung) und die Anschlusskommunikation (Interaktivität) stellen seiner Meinung nach das Fundament für die kognitiv-reflexiven Elemente der Lesekompetenz dar, die PISA in den Mittelpunkt stellt.

Cornelia Rosebrock kritisiert an PISA vor allem den fehlenden Bezug zu Didaktik und Förderung sowie die Missachtung der vorangehenden Leseentwicklung und ihrer sozialen Eingebundenheit. Ihr Lesekompetenzmodell soll als Basis für eine systematische Leseförderung dienen, die alle drei Lernprozesse zu erfassen versucht: Zu diesen gehören die Schriftwahrnehmung (Prozessebene, u.a. Identifikation von Wörtern, Sätzen und Kohärenz), die Schriftverarbeitung (Subjektebene, u.a. Wissen, Beteiligung, Motivation, Selbstkonzept) und die Schrifterfahrung (Soziale Ebene, u.a. Sozialisationsinstanzen, Kultur, Anschlusskommunikation).

 

a) Wie lässt sich Lesekompetenz fördern?

Viele schwach lesende Kinder haben noch in der Sekundarstufe I (Klasse 5-10) Schwierigkeiten mit basalen, hierarchieniedrigen Leseprozessen, worunter wiederum die Lesemotivation leidet. Verfahren zur Verbesserung der Leseflüssigkeit (sinngemäße Betonung, Lesegeschwindigkeit, Automatisierung, Dekodierfähigkeit) sind also auch in diesen Jahrgangsstufen unverzichtbar und gleichzeitig Grundlage für die Erfassung der Gesamtbedeutung gelesener Texte (Textverstehen).
Eine Möglichkeit, die oben genannten Komponenten des Lesens zu trainieren, sind Lautleseverfahren: Diese Übungsformen bzw. -routinen konzentrieren sich auf eine Verbesserung der Leseflüssigkeit, erhöhen jedoch beiläufig die Motivation und sind vor allem für leseschwache Kinder geeignet. Sie nutzen außerdem die Heterogenität der Schulklassen und etablieren ein kooperatives Tutorsystem: Der Tutor, also das stark lesende Kind, liest begleitend mit, achtet auf Fehler und spricht mit dem schwach lesenden Kind anschließend über das Gelesene. Alternativ ist abwechselndes Vorlesen vorgesehen, in beiden Fällen wird das schwach lesende Kind mehr und mehr in die Lage versetzt, längere Textpassagen vorzulesen und damit sein Selbstkonzept als (erfolgreicher) Leser zu stärken. Trotz der sehr konzentrationsbedürftigen Arbeit sind Wirksamkeit und Nachhaltigkeit in Bezug auf Leseflüssigkeit und auch Leseverstehen empirisch bestätigt.

Eine weitere Option sind Vielleseverfahren, die umgekehrt vorgehen: Sie fokussieren Selbstkonzept und Motivation, um beiläufig die Leseflüssigkeit zu steigern. Freie Lesezeiten und eine freie Buchauswahl (unabhängig ihrer Qualität) sollen Kindern v.a. in offenen Lernarrangements zum Lesen anregen. So können z.B. »Leseolympiaden« etabliert werden, die nach Abschluss einer bestimmten Anzahl von Büchern in Ehrungen bzw. Belohnungen resultiert. Technische Leseschwierigkeiten werden jedoch nur indirekt aufgefangen, im Mittelpunkt steht das Ausgleichen einer unzureichenden Lesesozialisation. Die Forschung bemängelt an diesen Verfahren, dass sie eher wenig Einfluss auf die Lesekompetenz besitzen, was vor allem an der extrinsischen Motivationsstrategie liegt. Das Lesen wird lediglich als weitere Abarbeitungsaufgabe empfunden, außerdem würden die Kinder stets ähnliche Bücher in Bezug auf Komplexität und Inhalt auswählen statt ihr literarisches Spektrum zu erweitern oder sich an höheren Niveaustufen zu versuchen.

 

b) Zwei diagnostische Instrumente zur Erfassung der Lesekompetenz

Das Salzburger Lesescreening (SLS) kann eingesetzt werden, um die basale Lesefertigkeit von Kindern der fünften bis achten Klasse zu messen. Als basale Lesefertigkeit wird das fehlerfreie, mühelose und schnelle Lesen definiert, vor allem die Lesegeschwindigkeit gilt als wichtiger Indikator des Screenings. Im Fokus steht also der technische Aspekt des Lesens, das Leseverständnis spielt dagegen keine Rolle. In der Praxis wird das SLS hauptsächlich hinzugezogen, um Kinder mit Leseproblemen zu identifizieren. Zur genaueren Diagnostik sind aber differenzierte bzw. individuelle Zusatztests vonnöten (z.B. SLRT, ELFE).

Das Konzept des SLS besagt, dass Kinder innerhalb von 3 Minuten einfache Sätze auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen sollen. Der theoretische Hintergrund argumentiert, dass schnell lesende Kinder dabei mehr Zeit hätten, die Sätze zu verstehen und zu bewerten, während schwach lesende Kinder viel Zeit für das Lesen an sich benötigen würden. Der Test kann einzeln oder in Gruppen durchgeführt werden, es gibt außerdem Parallelvarianten in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Häufig wird der Test in zeitnahen Abständen wiederholt, um die Effekte von Fördermaßnahmen (z.B. Lautleseverfahren) zu überprüfen. Zu den weiteren Vorteilen zählen seine zeitökonomische Durchführung und Auswertung (ca. 10 Minuten). Anhand einer »Normtabelle« sind Einzel- wie auch Klassenleistungen anhand ihrer »Lesequotienten«, also den korrekt gelesenen Sätze im Verhältnis zu allen gestellten Aufgaben, leicht vergleichbar. Die Norm berücksichtigt jedoch keine Mehrsprachigkeit und geht von Muttersprachlern aus.

 

Lautleseprotokolle sind dagegen nicht-standardisierte Verfahren, welche Informationen zu Lesegeschwindigkeit und -genauigkeit sammeln. Das diagnostische Ziel lautet, die Leseflüssigkeit von schwach lesenden Kindern der Sekundarstufe I zu erfassen, um nachfolgend unterstützende Maßnahmen (z.B. Lautleseverfahren) anzubieten. Aufgrund ihres informellen Charakters benötigen sie jedoch eine reflektierte Anwendung und Auswertung: Sowohl die Textauswahl als auch das Erfassen des Ergebnisses liegt in den Händen der Lehrkraft.

Grundsätzlich gilt: Kinder lesen 1 Minute lang einen (von der Lehrkraft in angemessenem Niveau) gewählten Text laut vor. Die Lehrkraft stoppt dabei die Zeit, markiert Lesefehler, stockende Passagen und die Endstelle nach  60 Sekunden. Die Zahl der gelesenen Wörter ist dabei entscheidend für die Bewertung der Lesegeschwindigkeit, ab ca. 100 Wörtern pro Minute kann von einem flüssigen Lesen gesprochen werden. Die Lesegenauigkeit wird dagegen über die markierten Fehler (Aussprachefehler, Umstellungen, Auslassungen, Ersatzwörter) bewertet, 95% richtig gelesene Wörter werden für ein verstehendes Lesen benötigt. Sich wiederholende oder eigens verbesserte Fehler fallen dabei aus der Wertung. Werden die Ziele nicht erreicht, sind Fördermaßnahmen angebracht. Zur Überprüfung kann der Test in regelmäßigen Abständen wiederholt werden.

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