(K)ein Liebesbrief

Meine Beine liegen auf dem hölzernen Tisch, der Rücken lehnt an das weiche Polster des Loungekissens. Gemächlich versinkt die Sonne hinter dem teuren Einfamilienhaus meines Nachbarn. Das Viertel wirkt beunruhigend friedlich, wie leergefegt, bis auf das emsige Surren der Insekten. Bienen arbeiten, Fliegen nerven, Käfer krabbeln, Spinnen lauern. Die ersten Stechmücken heben vorsichtig ihre Köpfchen und erwachen, nur noch wenige Minuten, bis sie ihr schrecklich schräges Konzert veranstalten und ihre Gier nach Blut stillen werden.
Das zweite Bier perlt geschmeidig und erfrischt. Ich nutze die Ruhe, das flüchtige Alleinsein und den kurzen, vergänglichen Moment der Freiheit vor ihrer Rückkehr, um in mein schwarzes Notizbuch zu kritzeln und etwas vorzubereiten, was schon lange umgesetzt gehört...

Darüber sind wir uns eigentlich beide im Klaren. Es ist notwendig, um abzuschließen, aber nicht abzurechnen. Um mich zu rehabilitieren, Dinge richtig zu stellen und alte Wunden verheilen zu lassen. Um ein Fazit zu ziehen, aber auch einen Schlussstrich.

 

„Liebes Du,

dies ist ein Liebesbrief, jedoch gleichzeitig unser Testament und mein Abschiedsgruß. Ein Schreiben, vollgepackt mit Zuneigung und Schwärmerei, aber in der tiefen Hoffnung auf eine wirkliche, echte, endgültige Trennung. Ein Abgesang, der erforderlich ist, der unvermeidlich ist, der unausweichlich ist. Neben der realen, körperlichen Entzweiung sind die folgenden Zeilen der aller letzte Versuch, dich endlich aus meinem Kopf zu verbannen. Denn es war nie etwas zwischen uns und das wird es leider auch niemals sein. Dieser Brief ist ein Eingeständnis meiner Schuld, unserer Fehler und gleichzeitig deine Absolution. Ich gebe mich und mein inständiges Verlangen auf, in der gleichen Weise, wie ich dich aufgebe. Und uns gebe ich damit frei.“

 

Tiefer Schluck aus der Pulle. Die Kohlensäure macht mir kurz zu schaffen, dann fahre ich fort.

 

„All dies zu schreiben fällt mir nicht leicht. Dir all dies zu schreiben, fällt mir noch schwerer. All dies geheim zu halten, musste und muss mir jedoch leichtfallen. Jeder besitzt ein offenes Geheimnis, und du warst das meine.“

 

Meine Hand verkrampft, ich schüttele sie kurz aus und schreibe dann weiter:

 

„Du warst mein Licht in der Dunkelheit, aber gleichzeitig Teil der Finsternis, die mich umklammert. Du warst mein Rettungsboot auf dem tobenden Meer des Lebens, aber gleichzeitig die Skylla meines inneren Ozeanes. Du warst Wegbereiterin, aber gleichzeitig Stolperstein. Du standst am Anfang, aber ich bildete das Ende. Du warst meine Flamme, gleichzeitig die Nacht erhellend wie den Horizont schwärzend.

Du spiegeltest viele meiner Fähigkeiten und Eigenschaften und warst mir deshalb so unglaublich nah, gleichzeitig zeigtest du mir meine Schwächen und Trugschlüsse auf, aber konstruktiv statt verachtend. Wir dachten oft dasselbe, auch wenn es nicht richtig war. Du besaßest keine schlechten Seiten, warst selbst aber eine meiner schlechtesten Seiten. Ich konnte dir vertrauen und mich auf dich verlassen, weshalb ich dich nun verlassen muss.“

 

Mein Kopf wird überschwemmt von schimmernden, intensiven Bildern. Metaphorische Erscheinungen, die im rötlichen Licht der Abendsonne auf Papier gebracht werden möchten.

 

„Du saßest auf dem wilden Karussell meines rasenden Herzens, aber gleichzeitig knotetest du dicke Seile straff um meine Lungen. Du warst mein größter Reichtum, aber gleichzeitig die Prophezeiung meines kommenden Ruins. Du warst eine Göttin für mich, aber gleichzeitig Beweis für meine sündhafte Verbindung mit dem Teufel. Du hast mich verzaubert, aber gleichzeitig verflucht. Du warst mein tiefster Wunsch, aber gleichzeitig meine größte Angst. Du warst mein Sonnenschein, aber gleichzeitig mein inneres Gewitter. Du warst das Feuer meiner Leidenschaft, aber gleichzeitig mein höllisches Inferno. Du warst der Auftrieb unter meinen Schwingen, aber gleichzeitig die Strömung in den Untergang. Du warst gleichzeitig Gift und Gegenmittel. Du warst der Farbklecks in meinem grauen Alltag, aber gleichzeitig der Rotweinfleck auf meiner ehemals weißen Weste. Du warst meine frische Luft im nebligen Dunst des Trotts, jedoch gleichzeitig mein Asbest in den Wänden. Du rochst nach Freiheit, hieltst mich aber gleichzeitig gefangen, in einer Welt unter einem Himmel aus Frischhaltefolie. Du warst mein Beruhigungsmittel, aber gleichzeitig mein wilder Ritt auf der Rasierklinge. Du warst meine süße Vollmilchschokolade, jedoch mit zartbitterem Abgang. Du machtest mich auf verbotene Weise schwach, aber gleichzeitig auch stark. Du warst echt und in deiner Echtheit wunderbar, aber gleichzeitig war alles falsch.“ 

 

Ein erneuter, tiefer Zug aus der Flasche, der die Kehle reinigt wie dieser Brief mich von meiner Schande entbinden soll.

 

„Du warst in allem, was du tatst, toll, obwohl du nichts für mich oder wegen mir getan hast. Du konntest albern sein, aber gleichzeitig weise und bestimmt. Du warst frech, und dabei liebevoll. Du warst scheu, aber dabei so selbstlos und mutig. Du warst wunderschön, und dabei so zurückhaltend. Du warst so vernünftig und erwachsen, aber gleichzeitig behieltst du dir dein inneres Kind auf so herzensgute Weise. Du konntest alles, wenn du dich trautest, und warst dennoch so bescheiden. Du warst wie der Wald, so still, so normal, so verkannt, und gleichzeitig der Inbegriff des Lebens.

Du wusstest, was du möchtest, aber gleichzeitig auch und vor allem, was du nicht möchtest. Ich mochte und möchte dich, aber gleichzeitig auch nicht. Du mochtest mich auch, aber anders.“

 

Panisch zucke ich zusammen. Habe ich da ein Geräusch an der Tür gehört? Ich lausche gebannt und mache mich bereit, aufzuspringen und mein Notizbuch im geöffneten Maul der Diskretion, meiner Tasche, versinken zu lassen.

Falscher Alarm. Welch ein Glück. Ich kann weiterschreiben.

 

„Es tut mir weh, all diese Sätze im Präteritum verfassen zu müssen. Nicht nur, weil es sich schrecklich liest. Denn die Wahrheit ist: Noch bist du Präsens. Aber ich muss verhindern, dass du Futur wirst. Denn ich darf nicht, und wir dürften noch viel weniger. Denn ich sollte nicht, und wir sollten noch viel weniger.“

 

Meine Augen beginnen zu brennen, ein paar kümmerliche Tränen löschen den Brand notdürftig.

 

„Du verbrachtest die Tage mit mir, ich mit dir die Nächte. Unsere Seelen verschmolzen, bevor unsere Körper dies überhaupt tun konnten. Ich war von dir besessen, ohne dich je richtig besessen zu haben.

Ich war mir meiner Empfindungen anfangs nicht bewusst. Du wusstest noch weniger und bis zum Ende gar nichts von meinen Gefühlen, von meinem Begehren. Ich teilte alles mit dir, aber dies nicht. Bis jetzt, aber jetzt ist es zu spät, weil es zu früh ist. Nicht der richtige Ort, nicht die richtige Zeit, wenngleich vielleicht die richtigen Menschen.“

 

Der letzte Schwall Bier ergießt sich in meinen Rachen.

 

„Ich werde dich nie vergessen, fürchte ich, obwohl ich das schon längst hätte tun sollen. Ich will ohne dich nicht leben, aber ich muss. Du bist ein vierblättriges Kleeblatt, aber ich lediglich ein gemeiner Löwenzahn.

Vergiss das bitte nie, liebste Anna-Maria. Die Welt steht dir offen. Und offener ohne mich.“

 

Die Wohnungstür klackert und schwingt auf. Hektisch klappe ich mein Buch zu und stopfe es lieblos in den Rucksack. Ich versuche eine gleichgültige Miene aufzusetzen, zu schauspielern, mich einigermaßen neutral zu verhalten.

 

Hey, ich bin wieder da!“ Nein, echt? Eine wirklich überflüssige Aussage. Ich ertrage es nicht mehr.

Hey, na, auch Lust auf ein Feierabendbier?“ Ich nutze diese Frage, um unauffällig in die Küche zu entschwinden, während sie an der Garderobe hantiert und ihren geschmacklosen, aber teuren Mantel verstaut. Das gibt mir Zeit, mein Gesicht zu nullen, zurückzusetzen oder zumindest unter Kontrolle zu bringen.

Ja, sehr gerne, was ein Tag. Ich bin schon mal draußen, muss dringend die Füße hochlegen.“ Puh, Schwein gehabt, noch mehr kostbare Sekunden gewonnen. Ich öffne zwei hopfige Kaltgetränke, lasse sie aber erst einmal wie ein Rabenvater alleine auf dem Tresen stehen. Um ihr nicht sofort unter die Augen treten zu müssen, entscheide ich mich für einen eigentlich unnötigen Gang auf die Toilette. Dort setze ich mich auf den zugeklappten Deckel und warte. Worauf, weiß ich nicht genau. Auf Mut? Auf ein Zeichen?                                                                                                               

Der übliche Griff zum Smartphone, ab in die Galerie. Ich betrachte die wenigen Fotos, die ich von ihr besitze und hingebungsvoll hüte. Wieder dampft es in meinen Augen, und das Schlucken fällt mir schwer.

 

Vorsichtig, aber in einer gespielten Aura der Normalität, gehe ich einige Minuten später Richtung Balkon. Mir entgleitet fast eine Flasche aus meinen schwitzigen Fingern, als ich sie auf dem gemütlichen Loungesofa erblicke: Sie hält das Notizbuch in ihren Händen. Scheiße. Erwischt. So war das definitiv nicht geplant. Habe ich es in meiner Eiligkeit nicht in die Tasche bugsiert bekommen? Ließ ich es gar einfach und sorglos auf dem Tisch liegen? Mein Kurzzeitgedächtnis setzt ruckartig aus, erwürgt durch den Anflug von Beklemmung und durch die Ahnung eines aufkommenden Sturmes, der mich zu übermannen droht.

 

Wie wird sie reagieren? Und wie soll ich reagieren? Diese Situation trifft uns beide nun doch etwas unvorbereitet, obwohl sie lange in der Luft lag. Soll ich beobachten oder intervenieren? Ich bin unschlüssig, was das Bessere wäre. Auch wenn sie noch kein Wort gelesen hat, könnte ich ihr das Büchlein wohl kaum einfach beiläufig entreißen. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich das möchte. Irgendetwas hält mich zurück. Der Anfang ist gemacht, der Stein kommt ins Rollen, so oder so. In mir keimt der merkwürdige Drang, sie lediglich bei ihrer Tat zu betrachten, zu beschatten, zu bespitzeln. Als wäre ich ein Voyeur bei meinem eigenen Suizid.

 

Sie begutachtet das noch geschlossene Buch interessiert, aber auch ein bisschen verunsichert. Sie scheint sich Gedanken darüber zu machen, ob es eine gute Idee wäre, das Buch zu öffnen, und zwar jetzt sofort. Sie scheint mit sich zu kämpfen, und in ihr ringt die Neugier mit dem Sinn für Privatsphäre. Sie schaut einmal kurz in meine Richtung, erkennt mich aufgrund der Spiegelung des Fensters jedoch nicht. Ich stehe unsichtbar im Schatten. Dabei bin ich überall: Sie trägt meinen Hoodie, sitzt auf meiner Couch, liest gleich mein Buch und hat mit meinem Schlüssel meine Wohnungstür aufgeschlossen, eine Tür, die sich nun von alleine schließen wird. Und zwar anders als gedacht.

 

Sie zieht das Gummiband vorsichtig zur Seite und klappt das schwarze Büchlein auf. Nicht eilig, sondern eher behutsam, als würde sie ein altes, kleines Schatzkästchen öffnen, das Lesezeichen dient als rotes X ihrer Karte der Neugierde. Sie liest die Zeilen und versucht, sie zu verarbeiten. Auf ihrem Gesicht eine Dia-Show ihrer Emotionen: Freude bei den ersten sechs Worten, dann Ungläubigkeit, Verwunderung, vielleicht sogar Fassungslosigkeit, einerseits über den Inhalt, andererseits über meinen Schreibstil und dass ich überhaupt schreibe. Eine meiner Facetten, die sie nie interessierte, der sie nie Beachtung schenkte, die nicht gut genug, sondern sterbenslangweilig erschien.

Sie liest weiter. Dann zieht plötzlich Ärger auf, Wut, aber auch ein wenig Furcht.   

 

Ich trete hinaus, meine eigene Erschrockenheit hinter einem gespielten, dümmlichen Grinsen verbergend, das das Feuer löschen soll, bevor es sich entzündet. Ein künstliches Lächeln in der guten Hoffnung auf eine beschwichtigende oder zumindest ablenkende Wirkung.

Sie lässt sich von meiner körperlichen Anwesenheit nicht beirren und liest meinen Text zu Ende. Angriffslust und Besorgnis paaren sich in ihrem Blick, den sie dann auf mich richtet. Sie fleht wortlos, nur mit ihren Augen, um eine Antwort auf eine Frage, die sie noch nicht zu stellen wagt. Mein Schweigen und meine lächerlich anmutende Unschuldsmiene reichen ihr als Reaktion nicht aus, doch sie zögert weiterhin. Ich überlege mir indessen, ob ich den Brief als Fiktion, als Phantasiegebilde, als gute Geschichte verkaufen soll. Doch sie würde dem lauwarm dargereichten Braten nicht trauen. Dafür besitzt sie ein zu gutes Gespür und eine mehr als gesunde Portion Paranoia, was eine hochentzündliche Kombination ergibt.

 

Ich spare mir den aussichtslosen Aufwand, nuckele an meinem Gerstensaft, stelle ihr die zweite Flasche auf den Tisch und lasse den Text als das stehen, was er ist: Ein Produkt der Wirklichkeit. Ein Tatsachenbericht.

Nach einigen unangenehmen Minuten der Stille, die das gesamte Dorf erfasst hatte, flüsterte sie endlich mit brüchiger Stimme:

Wer zum Henker ist Anna-Maria?

Kommentar schreiben

Kommentare: 0