Lieblingslied

Trübes Herbstwetter.

Ununterbrochen und reglos sitze ich in meiner schwach beleuchteten Kammer im Dachgeschoss und denke viel, aber tue nichts. Ich vegetiere vor dem Laptop und lasse mich von den schwermütigen Lyrics meiner Lieblingslieder beeinflussen, inspirieren und emotional mitreißen...

Im Zimmer ein schaler Geschmack, keinerlei Luftzug, ein deprimierend warmes Bier, die Kohlensäure längst entflohen, traurig-vibrierende Tropfen im Kampf gegen das todbringende Abrutschen auf den schmutzigen Fensterscheiben, ein ruhiger Ort, abgeschlossen und segregiert von der restlichen Welt, stillstehend. Fehlt nur noch der hartnäckige Zigarettenrauch (aber ich rauche nicht) und kalte, nicht-aufgegessene Pizza (niemals würde ich eine Pizza nicht aufessen) zu einem perfekten, wie durch Milchglas betrachteten Setting eines beginnenden Psychodramas.

 

In meinem Kopf ein Rummelplatz, eine ewigwährende Karussellfahrt. Mein innerer Antrieb macht mir an heutigem Abend einige durchaus überlegenswerte Vorschläge, es fühlt sich gut an, Motivation durchflutet kurz und stoßweise meinen gleichmäßig atmenden Körper, ähnlich eines Ideen statt Stromstöße aussendenden Defibrillators.

Einen Moment später verwerfe ich meine spontanen Pläne wieder, erwache nicht zum Leben, lasse alles weiterdümpeln und verspiele zukünftige Chancen leichtfertig, bevor sie überhaupt richtig entstehen. Wieso auch sollte ich mich überwinden? Spätestens am kommenden Morgen hätte der allgegenwärtige Dämon der Antriebslosigkeit höhnisch mit dem Finger auf mich gezeigt, laut über all meine Vorhaben gelacht und mich sanft, aber bestimmt ins Bett oder auf das Sofa zurückgestoßen.

 

Bis sich das Karussell aus neuen Ideen und alter Stagnation eine neue Runde dreht, immer im Kreis, immer die gleiche Abfolge. Es beschleunigt zunehmend, ohne Pause, der polternde Rekommandeur begleitet das Geschehen mit Häme und lauten Tönen, bis hin zu einer Geschwindigkeit, bei der alles verschwimmt. Das besonders Ärgerliche daran: Es passiert bewusst, man hat den Bremshebel fest in den eigenen Händen, aber man kann sich nicht überwinden, ihn zu betätigen, aktiv aufzustehen oder, als Notlösung, sich passiv aus dem Fahrgeschäft wirbeln zu lassen und auf eine überraschend weiche Landung zu hoffen.                  

 

Ein einziges, akut wirkendes Rezept existiert: Ich mache mein aktuelles Lieblingslied an. Laut. Unabhängig vom eigentlichen In-halt, sofort erfüllt es mich mit Zufriedenheit, Energie und Kraft. Ich gehe ab, in meiner kleinen ganz eigenen Welt, bewege mich dazu, lebe das Lied, jedes Riff, jede Zeile.

Mein schäbiges Kämmerlein verwandelt sich währenddessen instinktiv: Helles Licht dringt ein, die maue Einrichtung wirkt nun einladend und freundlich, viele mir gutgesinnte Menschen sitzen um mich herum, Spaß, Lachen, gekühltes Bier, Glück. Dreieinhalb Minuten später bleibt davon nur ein angestrengtes und ungläubiges Keuchen zurück, wie ein Aufwachen nach einem Alptraum, ein unerwartetes Ankommen in der Realität.

Dabei ist das gewünschte Leben nur einen Schritt entfernt.

 

Veränderungen herbeizuführen fällt schwer, erfordert Aufwand, benötigt Disziplin und Willensstärke, kostet Nerven und Energie. Sein Lieblingslied anzuschalten dagegen nicht. Egal, in welcher emotionalen Lage man sich befindet, dieses eine Lied kann die Leere in deinem Kopf, in deinem Herzen füllen, jederzeit und immer wieder. Und deshalb singe ich es laut mit, ständig noch ein Stückchen lauter und schiefer, scheinbar und hauptsächlich, um meiner sterilen Umgebung zu beweisen, dass ich lebe. Dabei betrüge ich mich damit nur selbst, meine wiederkehrenden Affären sind der Rhythmus, die Breakdowns und die Lyrics.

 

Ich wünsche mir an solchen Tagen, dass dieses, nein, mein Lied ewig weiterläuft, in Dauerschleife, ich daher nie aufwachen muss, das Leben so verrückt, beweglich und bewegend ist wie in diesen paar Minuten und ich mir selbst und anderen offenbaren kann, wer ich eigentlich bin und sein möchte. In einer Wohlfühlatmosphäre, die nur dieses eine Lied entstehen lassen kann.

 

Und wenn ich mich dann doch heraustraue aus der Einsiedelei und auf der Straße die kühle Nacht schmecke, scheinbar frei von den eingenisteten Parasiten der Trübseligkeit, entdecke ich direkt um mich herum Beziehungsstress, Gewalt, Willkür, gebrochene Herzen, Hass, Armut, Unzufriedenheit, Terror.

 

Schnell zurück!

Lieblingslied an!

Schneller!

Volume up!               

 

Fühlt sich das nicht gleich viel besser an?

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