Lonely Writer Syndrome

Es nervt, er nervt, sie nervt. Alles nervt.

Ich gebe alles, aber es ist leider nicht genug. Die immer gleichen Probleme, die immer gleichen Baustellen. Nur Drohkulissen führen zu Ertrag. Begriffe wie intrinsische Motivation, Selbstorganisation, Interesse, Respekt, soziale Kompetenz und Vertrauen sind zu Relikten der Vergangenheit verkommen. Zuvor waren sie mein Talisman und spendeten mir Hoffnung, nun sind es leere Worthülsen, die ausschließlich sarkastisch verwendet werden können.

 

Alles geht den Bach runter...

Meine Gutmütigkeit wird ausgenutzt statt wertgeschätzt, meine Arbeit gekonnt ignoriert statt geachtet, meine Hilfe abgelehnt statt als eine solche wahrgenommen, Regeln werden vorsätzlich und wiederholt gebrochen. So fühlt es sich zumindest an, eine negative Aura legte sich über mein Tun, auch wenn ich weiß, dass sich das nicht so pauschal sagen lässt. Und dennoch frage ich mich: Wozu das Ganze?

 

Und während die, die sich schlecht fühlen müssten, einfach schulterzuckend weitermachen und das Gesagte spätestens am nächsten Tag wieder vergessen haben, fallen die, die sich nichts zu Schulden kommen ließen, in ein Loch und sind über meine Worte, die ich ihnen in all meiner Unzufriedenheit entgegenschleudere, über die Maßen betrübt. Mir selbst konnte ich mit meinem wortgewaltigen Ausbruch etwas Luft verschaffen, aber leider keine Linderung. Denn ich weiß, dass bereits morgen wieder alles sein wird wie immer, eine neuerliche Runde im Hamsterrad beginnt. Es gibt kein Entrinnen ohne echten Befreiungsschlag, ohne Neustart.                                        

Es ist Zeit, zu schreiben. Um meinen Kopf endlich zu entlasten, um Selbsttherapie zu betreiben.

 

»Jeder weiß, wie es ist, sich allein zu fühlen. Keiner weiß, wie es ist, allein zu sein.«

 

Meine Hand huscht hektisch über das Blatt, die krakeligen Kringel meines Stiftes erinnern an entstellte Verwandte von Buchstaben. Sie sind genauso chaotisch und unpräzise wie meine Gedanken, die sie repräsentieren und denen sie entspringen. Die Zeilen bleiben kryptische Versatzstücke, die für andere nicht zu entziffern sind, selbst nachdem sie mit schwarzer Tinte aus dem Handgelenk geschwungen wurden. Ein Feuerwerk aus Ideen, die sich überkreuzen, widersprechen und inhaltlich willkürlich springen.

Die Schreiberei hilft mir, abzuladen und zu ordnen, vor allem – aber nicht nur – in den unerträglichen Momenten des Lebens. Und besonders dann, wenn die stille Schönheit der Nacht in mich eindringt und über meine Finger wieder aus mir heraussickert. In meinem Kopf flattern die Gedanken wahllos umher wie schwarze Schmetterlinge, die mit einem Kescher gefangen und in einer Vitrine ausgestellt werden möchten, geordnet, systematisiert, konserviert, aber auch tot. Meine Texte sind Ventile. Die meiste Kunst entsteht nun einmal aus Einsamkeit, aus Langeweile, aus Leid, so sagt man zumindest. Aber echte Kunst überdauert das Leid auch, sie zeigt Auswege, vernachlässigte Nuancen, Schwingungen, Widersprüche, Intimes, das wirklich Wichtige. Sie fokussiert und demaskiert. 

Nervliche Belastung, Stress, Wut, bis hin zu Hass: Erst einmal schreiben. Andere boxen, machen Sport, gönnen sich einen Luxus-Kurzurlaub, springen aus einem Flugzeug, rasten aus, backen, laufen Amok... ich schreibe. Der Vulkan muss ausbrechen, mein Innerstes kotzt Silben, Wörter, Sätze. Ein reinigendes Gewitter, der Stift als mein Blitzstab, mit dem ich über das Reich des Papiers regiere. Alleine. Für mich. Oder auch für euch? Sind meine Texte ein maskierter Schrei nach Liebe und Aufmerksamkeit, gut versteckt in den Untiefen des Netzes, in einer Art geschlossenen Gesellschaft mitten auf einem öffentlichen Platz voller blinder Touristen?

Die Röntgenaufnahme meines Kopfes zeigt: Hinter der Psychose winkt die Schizophrenie.

 

»Schade eigentlich. Denn allein sein ist schön.«, schreibe ich weiter, wohl wissend um den Selbstbetrug, den ich gerade in schönen Worten skizziert habe. Natürlich finde ich Alleinsein schön, mangelt es mir doch an Gesellschaft. Natürlich ist mir Sex egal, weil ich keinen habe. Natürlich habe ich von Hausbau, Handwerk und Finanzen keine Ahnung, weil ich nicht erwachsen bin und zudem ein Theoretiker. Natürlich bin ich ein Lauch, weil ich keinen Sport treibe. Natürlich nerven mich Kinder, weil sie so egozentrisch sind wie ich. Natürlich verabscheue ich die Generation Instagram, weil ich nicht in das aktuelle Schönheitsideal passe und außerdem nichts erlebe, was vorzeigbar wäre. Natürlich gibt es von mir keine ansprechenden Bilder, denn ich bin nicht fotogen. Natürlich schreibe ich all das, weil ich kein Selbstvertrauen besitze, da ich kaum noch Selbstwirksamkeitserfahrungen mache. Ich bin rund um die Uhr eingeschüchtert von der Welt, ein buntes Potpourri an Minderheitskomplexen sprießt in mir, ich verstecke mich hinter meinen Schriften. 

Mein geschriebener Satz von oben ist also nichts weiter als eine beschönigende Ausrede. Er ist eine schnell hochgezogene Mauer, die mich schützen soll, hinter die ich fliehen kann. Wie für verpfuschte und lieblos errichtete Bauwerke üblich, ist sie jedoch porös, sie bröckelt. Sie lässt demnach Blicke nach innen zu, ein aufmerksames Gegenüber vorausgesetzt.

 

»Alleinsein lässt einen sich selbst wahrnehmen. Man lernt, mit sich selbst umzugehen, sich selbst auszuhalten und sich selbst wertzuschätzen. Man lernt sich selbst kennen.«

 

Würde ich dieselbe Finte anwenden, wenn die Vorzeichen andere wären? Welch beißende Ironie, dass das Alleinsein sowohl Ursache als auch Symptom des Schreibens ist. Ein Hobby, das einen nur dann überwältigt, wenn man außerordentlich kreativ, aber mindestens genauso allein ist. Ein komplett von der Außenwelt isolierter Prozess, nur in der Auseinandersetzung mit sich selbst und den kreisenden Wörtern, die auf das Papier tropfen wie Kerzenwachs: Am Anfang noch warm und formbar, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt in Stein gemeißelt und nur noch schwer wieder wegzukratzen. Eine Tätigkeit für Menschen ohne musikalische und künstlerische Begabungen, die ihrem Inneren aber dennoch Ausdruck verleihen möchten, wenngleich ohne konkretes Ziel, ohne präzisen Grund.

Schreiben ist eine Art Schaufenster der Seele, vielleicht sogar eine Ausstellung oder ein Museum, mit zahlreichen Gemälden aus Text an den Wänden, die von Scheinwerfern notdürftig beleuchtet werden, damit sie sich von der einnehmenden Dunkelheit des Raumes abheben. Die Gemälde haben etwas mitzuteilen, verlangen aber Interpretation und intensive Auseinandersetzung: Erst in der Verbindung aller Teile ergibt sich ein Gesamtwerk, welches Rückschlüsse zulässt über den Autor oder die Kunstfigur, die der Autor zu verkörpern versucht, sich selbst dabei im Unklaren, wer er wirklich ist:         

Dient der Autor dem Ich-Erzähler als Ideengeber, ist aber trotz emotionaler Kopplung jemand völlig anderes? Sind und waren Autor und Erzähler von Beginn an identisch? War der Erzähler ursprünglich eine fiktive Person, die sich jedoch verselbstständigte und in dessen Rolle der Autor reingezogen wurde? Oder wollte der Autor diese Rolle willentlich übernehmen, gar an sich reißen, weil sie ihm als Falltür in ein neues, anderes Leben erschienen war? Eine Falltür, an die er jedoch nie wieder hochgelangt ist, nachdem er sich durch sie hat nach unten fallen lassen?

Der eigene Verstand als Kerker. Die Psychose hüpft mit der Schizophrenie fröhlich über die Blumenwiese meines Gehirns.

 

»Viel mehr Menschen sollten lernen, allein zu sein, oder zumindest, allein sein zu können. Eine Art Training, das Autonomie fördert. Ein Selbstverteidigungskurs, welcher das gewaltvolle Eindringen der Einsamkeit verhindert, dieses furchterregenden Gefühls, das während der Pandemie das wahre und eigentliche Schlachtfest angerichtet hat, in verheerender Weise.«

 

Das Schreiben ist wie ein Tunnel, in den man absichtlich fährt, dann aber die Scheinwerfer ausdreht und auf Autopilot schaltet, bis das letzte Wort den Schritt zurück ins Licht, ins Leben bedeutet. Die Reise kann Stunden dauern, jedoch unbemerkt. Stunden, die in Windeseile vorbeiziehen.

„Was hast du heute den ganzen Tag gemacht?“

„Ich habe geschrieben.“

„Ah, ähm, okay. Bis dann.“

Die Fahrt selbst gerät danach in Vergessenheit, man erinnert sich nur an den Anfang, als man die Kontrolle noch besaß, und an das Ende, als man sie wiedererlangte. Eine kreative Trance, ein reißender Fluss, der einen mitschwemmt, sobald man in ihn gestiegen ist, und ausspuckt, sobald man wieder die Augen öffnen möchte. Falls man es denn möchte.

 

»Alleinsein heißt Individualität, bedeutet Freiheit von Zwängen, von gesellschaftlich vorgegebenen Normen, begünstigt Selbstreflexion, entledigt der ständigen Ablenkung durch anderes und von anderen. Im Alleinsein zeigt sich, wer man wirklich ist.«

 

Bis der Alkohol klingelt und eintritt, der einzige Verbündete, das Gleitmittel, das Halsbonbon. Flaschen leer, Kopf voll. Er tötet und belebt gleichzeitig und gleichermaßen. Galant, betörend und wohlschmeckend bekämpft er die störenden Stimmen des Kopfes und lässt die wichtigen, aber schüchternen in den Vordergrund treten: Er bittet sie auf die Bühne, zerrt sie ins Rampenlicht und verlangt, dass sie alles preisgeben. Zusätzlich fördert der Alkohol die Wortgewandtheit, die Ausdrucksfähigkeit, erhöht den Mut, macht ehrlicher und deutlicher, wenngleich nicht zwingend realistischer. Ein temporäres Skillset, das nicht nur den Texten zugutekommt, sondern und auch mir, dem Schreiber. Ich kann mich nun gedanklich und emotional noch stärker reinversetzen, bin empfänglich und beflügelt, offen für Input jeglicher Art, meine Sinne sind geschärft. Ein beeindruckend krasser Kontrast zu meinem wirklichen Leben.

Bis die Anstrengungen des Alltags, die mühelose, aber doch so intensive Wuchtigkeit des Schreibprozesses und die Wirkung der sanften Droge mich endgültig auslaugen und ihren Tribut einfordern. Die Streichhölzer, die meine Lider stützen, zerbersten kraftlos. Der Kopf wird noch bleierner, obwohl sich so viel gelöst hat, obwohl so viel abgetragen wurde, mit schwerstem Gerät. Während ich wegsacke wie ein lebloses Bündel Fleisch, flüstert mir mein Körper in meinen letzten Zuckungen zu: „Geschafft!“                                

Wie auch immer er das meint.

 

Von außen betrachtet vielleicht unvorstellbar, aber... es war verdammt gut. Ich fühle mich nun besser. In meinem konstruktiven Alleinsein, in meiner mit euch geteilten Traurigkeit und in meiner eingeredeten Hoffnungslosigkeit hatte ich Spaß. Es hat geholfen. Glaube ich.

 

Am nächsten Tag geht die Sonne nachmittags auf.                                                                      

Aber immerhin geht sie auf.

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