Mindfuck²

Der Trailer zur Ultimate Edition von Control lügt nicht: "Fair warning: This is gonna be weirder than usual." Und das ist noch untertrieben. Dennoch oder deshalb setzte sich das aktuellste Werk von Remedy Entertainment in meinem Gehirn fest und zog mich in einen Bann, wie es lange kein Videospiel mehr geschafft hatte. Wie konnte das geschehen?
Eine Spurensuche.

Wir schreiben das Jahr 2006, in etwa. Mit einem damaligen Kumpel (Grüße!) saß ich vor der ersten Xbox und zockte ein Spiel, das weder öffentliches Interesse hervorrufen noch beeindruckende Verkaufszahlen aufweisen konnte, und welches ich gebraucht und auf gut Glück in meiner damaligen Stamm-Videothek gekauft hatte. Beeindruckend genug, dass es damals noch Videotheken gab. Auch die Erinnerung an das riesige Konsolenungetüm von Microsoft und seinen unfassbar klobigen Controllern weckt in mir eine Mischung aus Erstaunen plus nostalgischer (und verklärter?) Wärme.

Trotz allen proportionalen Vorbehalten: An die erste Xbox erinnere ich mich dennoch positiv zurück, und schließlich bevorzuge ich bis heute die Produkte de amerikanischen Riesenkonzerns, für die Konkurrenz aus dem Hause Sony konnte mich nie erwärmen. Das lag u.a. an der Benutzeroberfläche, dem damaligen Memory Card-System, dem Design und der für mein Empfinden suboptimalen Anordnung der Analog-Sticks auf dem PlayStation-Controller. Und das, obwohl ich große Teile meiner ersten Videospielerfahrungen auf fremden PlayStation 1 & 2 sammelte,  bevor ich mich Besitzer einer eigenen Konsole nennen durfte. Spätestens seit der Xbox 360 Slim (ab 2010) war ich jedoch auch designtechnisch unsterblich verliebt und blieb Microsoft über alle Zeiten hinweg treu. Übrigens zu Recht, wie ich finde. Aber sei's drum, darauf wollte ich gar nicht hinaus.

Das Game, auch uns beiden pubertierenden Nerds gänzlich unbekannt, stellte sich schnell als Glückgriff heraus: Die für damalige Verhältnisse tolle Optik, eine gut erzählte sowie wendungsreiche Geschichte sowie die technisch wie spielerisch beeindruckende Einsatzmöglichkeit telekinetischer Kräfte, welche sich außerordentlich geschmeidig steuern ließen, begeisterte uns. Gegenstände und Personen aus der Distanz und allein über geistige Kräften beeinflussen, fremdsteuern oder gar werfen? Geilo! Eine Fähigkeit, die mir auch im echten Leben gefallen würde.


Den virtuellen Gegnern alles um die Ohren schleudern, was die interaktive Spielumgebung hergab, machte Spaß, ging flott von der Hand und lud zum Ausprobieren ein. Ein genaues Beobachten der Umgebung und die Kombination verschiedenster telekinetischer Fähigkeiten begünstigte die Ausbildung individueller Taktiken und bot uns tageslichtscheuen Teenagern mehrere denkbare Vorgehensweisen, die natürlich auch alle ausprobiert werden wollten. Mädchen, andere Sozialkontakte, die Schule und das echte Leben mussten da zwangsläufig hintenanstehen. Das Gameplay in Third-Person-Perspektive forderte unsere geistige und motorische Reaktionsfähigkeit spätestens dann heraus, als sich auch die KI-Gegenspieler den Telekinese-Techniken zuwandten und z.B. die für Videospiele ikonischen roten Explosionsfässer plötzlich nicht nur zu eigenen, sondern auch zu feindlichen Geschossen wurden. An einen Bossfight erinnere ich mich besonders: Der Endgegner pfefferte mit seinen Psi-Kräften einen kompletten Tanklaster durch die Gegend und natürlich auf uns. Mein Vergangenheits-Ich musste wohl schwer begeistert sein, und das nicht nur, weil der uns gegenüberstehende und nicht gerade freundlich gestimmte Charakter außerordentlich korpulente Maße besaß.

Achso, das Spiel hieß übrigens Psi-Ops: The Mindgate Conspiracy, erschien 2004 und sein rockiges Titellied ("In my mind" von Cold) ist noch heute in meiner Retro-Playlist zu finden. Was ich dem Game jedoch bis heute übelnehme: Es war zu kurz. Und es endete mit einem Cliffhanger, welches gleichzeitig eine Fortsetzung anteaserte, die bis heute nicht erschien. Frechheit. In guter Hoffnung widmete ich mich anderen Videospielen, die etwas Ähnliches versprachen: Auf der Xbox 360 folgte kurz darauf das Spiel Infernal: Hell's Vengeance, welches mich trotz feuriger Psi-Fähigkeiten eher kalt ließ. Kein schlechtes Spiel, aber bei Weitem nicht so fesselnd, smooth und eindrücklich wie Psi-Ops. Wahrscheinlich hätte es noch viele weitere Spiele gegeben, in denen der Hauptcharakter telekinetische Fähigkeiten nutzen konnte, vor allem in Superhelden-Franchisen (komischer Plural, btw) a la Marvel und DC. Aber leider konnte ich mit diesen noch nie etwas anfangen, weder auf Film-, Comic- noch Videospiel-Ebene. Schande über mich.

 

Über die Monate und Jahre verblasste die Erinnerung an das beschriebene Gameplay (und an das Spiel), ich widmete mich anderen Genres. Bis diese noch immer existierenden Synapsen in den Untiefen meines Gehirns plötzlich wieder wachgeküsst wurden und zu feuern anfingen: Knapp 15 Jahre später begegnete ich doch noch der in meinem Innersten so sehr gewünschten Fortsetzung, wenngleich einer indirekten und das eher zufällig. Sale im Xbox-Shop. Aber in ähnlicher Weise war ich damals ja auch Psi-Ops begegnet, im Regal für aussortierte und unbekannte Titel, die dringend ein neues Zuhause suchten. Control lief ebenfalls eher unter dem Radar und kam lange nicht in den Genuss der Wertschätzung und Aufmerksamkeit, die es eigentlich verdiente.

Schnell entwickelte es sich zum Sequel meines Herzens, das bestimmte Gameplay- und Steuerungselemente, wahrscheinlich ohne meine oben geschilderte Vorlage überhaupt zu kennen, wiederaufnahm und optimierte. Der durch das Spiel herbeibeschwörte, intensive Nostalgie-Flash, der mich heimsuchte, in Kombination mit bombastisch-moderner Technik, einer unfassbaren atmosphärischen Dichte und einer im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdigen Geschichte brachte meine Augen zum Strahlen.

Doch nun genug der langatmigen Einleitung, wir tauchen ein.


"Maybe I'll Never Understand. Maybe I Don't Need To

 

Eine solche langatmige Einführung gibt es bei Control nicht. Dafür ein kurzes Intro, in dem die weibliche Protagonistin spricht und ihre Worte an ein »Du« richtet. Da beginnen die ersten Fragezeichen: Redet sie mit mir, dem Spieler? Mit einer dritten Person? Oder mit ihrem entführten Bruder, den sie erwähnt und weshalb sie den Weg zur US-amerikanischen Geheim-Behörde namens »Federal Bureau of Control« überhaupt erst eingeschlagen hat? In ihrer Stimme liegt einerseits Unsicherheit und Melancholie, aber anderseits auch Bestimmtheit und Angriffslust. Sie scheint zu wissen, was sie tut, ohne zu wissen, was passiert.

Cut: Ich betrete das »Älteste Haus«, wie es später genannt wird, stehe vor der Rezeption im Eingangsbereich, der amerikanischer nicht sein könnte, und bin... allein. Kein Laut ist zu hören, und doch muss hier vor wenigen Augenblicken noch jemand gewesen sein. Erste auffindbare Textdokumente, deren wichtigste Begrifflichkeiten durchgehend mit schwarzen Balken zensiert sind, vergrößern die Fragezeichen, anstatt erste Informationshilfe zu leisten und meinen Wissendurst zu löschen. Bereits jetzt beginnt, was Control über die gesamte Spieldauer hervorragend macht: Die Geschichte der Protagonistin Jesse Faden wie auch die der Behörde bleibt deshalb spannend, weil man nie alles, sondern immer nur das Nötigste weiß. Fügt man zwei Teile zu einem halbwegs stimmigen Bild zusammen, wirft das Spiel dir drei neue Teile ins Gesicht. Es lässt dich am ausgestreckten Arm beinahe verhungern, füttert dich aber immer rechtzeitig vor deinem Exodus mit interessanten Informationsfetzen, sodass du dran bleiben und mehr wissen möchtest. Was macht diese geheim gehaltene und versteckte Behörde? Was hat Jesse bzw. ihr Bruder damit zu tun? Wo sind all die Mitarbeitenden hin?

Diese Fragen beantworten zu wollen, motiviert von Start weg. Und das, obwohl an viele Informationen nur über optionale Sammelgegenstände zu gelangen ist, die verstreut im Office zu finden sind. In vielen Spielen wird ausufernder Sammelkram als spielzeitstreckendes Element ohne Tiefgang eingesetzt, das keinen storytechnischen Mehrwert bringt. In Control dagegen können faszinierte Spieler:innen auf freiwilliger Basis in viele interessante Fakten, Forschungsberichte und Geschichten rund um die Behörde, aus dem Reich der Mysterien oder bezüglich übernatürlicher Erscheinungen eintauchen, wenn sie die Gesamtzusammenhänge besser verstehen möchten. Aufbereitet werden diese Informationen als unterhaltsame Text-, Audio- oder Videofiles. Diese Art des Informationsmanagements gibt es zwar in immer mehr modernen Games, um in einer riesigen Open-World kleinere Geschichten zu erzählen oder die Spielwelt lebendiger zu gestalten. Neben der extrinsischen Motivationskeule der Entwickler:innen, das Finden aller (unsinnig versteckten) Gegenstände um ihrer selbst willen z.B. mit einem Erfolg zu entlohnen, gelang es Control zusätzlich, mich intrinsisch zu motivieren, weil ich wirklich an den Inhalten der Sammelobjekte interessiert war. Will man die Story also in ihrer vollen Komplexität genießen, sollte man also kein Problem damit haben, innezuhalten und zu recherchieren. Kämpfen, forschen, kämpfen, forschen - dieses sich wiederholende Gameplay-Muster empfand ich als sehr gelungen. Durch das gesamte »Älteste Haus« einfach durchzurennen und nur ans Ballern zu denken, würde dem Spiel den Zauber nehmen und eine nachfolgende Bewertung verwässern.

 

Moment, Mysterien und übernatürliche Erscheinungen? Schon die ersten Spielminuten vermitteln nachdrücklich, dass das »Federal Bureau of Control« kein Standard-Bürokratieapparat ist und unsere gewohnte Logik hier keine Rolle spielt. Die Informationen handeln von »Objekten der Macht«, von einer »Astralebene« und von »gewandelten Weltereignissen«, die unter Verschluss gehalten oder zumindest mit gestreuten Fehlinformationen über die Medien vertuscht werden müssen. Im Stockwerk über der Eingangshalle verschwinden Gänge hinter mir, und obwohl es richtungstechnisch keinen Sinn ergibt, stehe ich plötzlich wieder in einem zuvor besuchten Flur. Doch jetzt ist da ein Fahrstuhl, der mich mit seinem geöffneten Schlund und mit der Aussicht auf einee Fahrt ins Ungewisse erwartet. Aber stimmt, von diesem Aufzug hat mir der merkwürdig düstere Hausmeister Ahti erzählt, dem ich vor einigen Augenblicken begegnet bin, der auf seinem Walkman finnischen Tango gehört und mich für seine neue Aushilfskraft gehalten hatte.
Und schon häufen sich weitere Fragen: Verändert sich das Gebäude, baut es sich um? Existiert es auf verschiedenen Realitätsebenen? Gibt es finnischen Tango wirklich? Lebt der entführte Bruder noch? Warum ist Ahti der einzig Anwesende und wieso spricht er in Rätseln vor sich hin? Und wo sind jetzt eigentlich die ganzen Leute, die mir wirklich erklären können, was hier läuft? 

Auf die letzte Frage gibt es relativ zügig eine Antwort: Sie schweben von irgendeiner Macht besessen in den Büroräumen schwerelos an der Decke oder zumindest in der Luft, brabbeln wiederholt merkwürdige Phrasen vor sich hin und scheinen irgendwie zu leben, irgendwie aber auch nicht. Der Direktor ist jedenfalls wirklich tot, es wirkt, als habe er sich in seinem Office erschossen, und weil ich seine vibrierende und formwandelnde Waffe, die »Amtswaffe«, aufnehme, kontaktiert mich nicht nur die ungreifbare Instanz des »Rates«, der nur in Form einer schwarzen Pyramide in meinen Visionen (?) erscheint, sondern auch die Stimme des entschlafenen Direktors, der mir per rotem Telefon (»Hot-Line«) mehr über seine ehemalige Behörde erzählt. Nebenbei werde ich vom »Rat« wie selbstverständlich zur neuen Direktorin ernannt und dafür mit übernatürlichen Kräften bestraft/belohnt, wie er in seiner eigen(artig)en, aber humorvollen Sprechweise formulieren würde. Überall in den Gängen sind nun hochoffizielle Gemälde angebracht, die mein Antlitz zeigen und eine goldene Plakette unterhalb trägt die Inschrift "Jesse Faden - Direktorin". Wer hat die Bilder plötzlich aufgehängt? Ahti, warst du das?
Eine absurde Situation, später mit weiteren Überlebenden zu sprechen, die alle mehr über die Ereignisse wissen als ich, die Direktorin, die zu ihrem Posten gekommen ist wie die Jungfrau zum Kinde. Und obwohl mich »meine« Mitarbeitenden alle anerkennen, muss ich doch mit dem Gefühl zu leben lernen, eine Hochstaplerin zu sein und keine Ahnung von nichts zu haben. Paranormal genug bis hierhin? Das war definitiv noch nicht alles. Mehr kann und möchte ich aber nicht zur Story verraten, denn die sollte einfach selbst erlebt und zusammengepuzzelt werden. Und, um ehrlich zu sein: Woher soll ich wissen, dass ich die Geschichte wirklich in Gänze verstanden habe?

 

"It Feels Sane, Or Just The Right Kind Of Insane"

 

Ihre auffälligen Wissenslücken macht die Protagonistin jedoch mit ihren Fähigkeiten wett, die sie vom »Rat« überreicht bekommt und augenscheinlich derart gut und wirkmächtig kontrollieren bzw. einsetzen kann, wie noch kein Direktor vor ihr in der Lage war. Könnte jedoch auch daran liegen, dass die Behörde in ihrer langen Geschichte noch nie unter einer solchen Bedrohung litt wie aktuell, der »Rat« sich demzufolge noch nie gezwungen sah, diese Menge an Fähigkeiten einem Direktor zuzugestehen. Aber wer weiß das schon? Ich jedenfalls nicht. Die Bedrohung nennt sich übrigens »das Zischen«, und es scheint wie eine Krankheit sowohl die Mitarbeitenden als auch das Gebäude an sich befallen und unter seine Kontrolle gebracht zu haben. Woher das Zischen kommt und was es beabsichtigt? Tja, nun. Fakt ist: Es muss bekämpft werden. Sagt jedenfalls der »Rat« und verspricht Belohnungen. Na dann, auf in den Kampf gegen die vom »Zischen« umgedrehte Ex-Belegschaft und das »Älteste Haus«, welches seine Struktur bzw. Architektur wandelt und dringend »gesäubert« werden muss. Und zwar nicht vom finnischen Hausmeister. Wobei der, wenn man in seinen kryptischen Aussagen zwischen den Zeilen liest, mehr weiß als er wissen sollte. Ach, es ist kompliziert.

 

Weniger kompliziert, wenngleich dennoch anspruchsvoll und herausfordernd, ist das Kampfsystem. Und da steht für mich natürlich eine Fähigkeit im Zentrum des Interesses: Die Telekinese. Es fühlt sich wieder phantastisch an, Gegenstände und Personen jeglicher Art durch die Spielwelt und auf Gegner zu schleudern. Dass man zusätzlich noch das Schweben erlernt und die Kämpfe dadurch an Vertikalität gewinnen, was die Anzahl der potenziellen Vorgehensweisen erhöht und sowohl Bewegungsfreiheit als auch Übersicht zugute kommt, setzt dem Getümmel die Krone auf. Mit einer Hand ballern und mit der anderen einen Gabelstapler an die Birnen indoktrinierter »Zischer« hämmern? Oh, yes! Die Möglichkeit, die »Amtswaffe« je nach Bedarf u.a. als Pistole, Schrotflinte oder Granatwerfer einsetzen zu können, erhöht die Flexibilität im Kampf zusätzlich. Auch wenn ich mir noch ein zumindest rudimentäres Deckungssystem gewünscht hätte: Über zu wenig Tiefe in den Kämpfen kann definitiv nicht geklagt werden.

Der Sprung auf die neueste Konsolengeneration macht das ganze Prozedere natürlich noch spaßiger und optisch beeindruckender: Nahezu alles kann bewegt und zerstört werden, die Physik-Engine läuft auf Hochtouren, überall kracht's und poltert's, der Schauplatz ist nach der Auseinandersetzung kaum mehr mit dem vor dem Kampf zu vergleichen. Überall Einschusslöcher, Wände bröckeln, Funken sprühen, Tische und Stühle liegen kreuz und quer, Glasfronten zersplittern (siehe Trailer). Ich hatte merkwürdig viel Freude daran, einfach mal einen Schreibtisch in ein Bücherregal zu scheppern, und die Pracht an umherflatternden Seiten zu beobachten. Oder eine schwere Metallkiste in die akkurat bestuhlte Mensa zu donnern, um danach das eigens angerichtete Chaos zu begutachten und die Details zu betrachten (Salzstreuer, Ketchupflaschen etc.). Ja, es braucht nicht viel, um mich glücklich zu machen. Dass sich das Ganze außerdem so eingängig und dennoch präzise steuert wie damals bei Psi-Ops, meißelte mir ein beängstigendes Dauergrinsen ins Gesicht. Man sollte mir im echten Leben definitiv keine derartige Macht einräumen.

Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Andere Fähigkeiten sind weit weniger prickelnd. Sie sind in ihrer Anwendung vielleicht effektiv, aber eben weniger besonders und weniger bombastisch. Ein schützendes Schild aus aufgelesenen Materialien, welches um mich herumwirbelt? Ein kurzer Supersprint in eine bestimmte Richtung? Ein explosiver Psi-Nahkampfangriff? Alles ganz nett, bei mir aber eher unregelmäßig eingesetzt. Auch die Möglichkeit, geschwächte Feinde per Gedankenkontrolle zu Verbündeten umzupolen, fand ich aufgrund der relativ langen Zeit, die der Manipulationsvorgang dauert, nur selten wirklich brauchbar. Vor allem dann, wenn es auf dem Bildschirm nur so von Gegnern wimmelt und man nicht nur unter Dauerfeuer, sondern auch unter Stress steht. Diese langen Kämpfe verlaufen meist in Wellen und sind wie die Boss-Kämpfe knüppelharte Herausforderungen. Technisch laufen selbst die größten Gefechtsorgien ohne Ruckler, nur meine menschliche Reaktionsgeschwindigkeit bzw. Hand-Augen-Koordination kam an ihre Grenzen. Das mag auch an mir gelegen haben, sicher, viele Passagen und Fights fühlten sich aber von Haus aus unfair an und sorgten für Frust und ein schweißnasses Gamepad.

Ein Glück lässt sich der Schwierigkeitsgrad von Control sehr variabel handhaben: Neben den klassischen, umschaltbaren Stufen (Leicht, Mittel, Schwer o.Ä.) bieten die Einstellungen die Option, diverse Elemente, die den Schwierigkeitsgrade konstituieren, individuell zu verändern: Wie viel Schaden soll die Protagonistin erleiden? Wie stark sollen meine Treffer sein? Wie schnell sollen sich Munition und Energie regenerieren? So konnte ich mir meine eigene Schwierigkeit basteln. Ein Feature, das ich mir für mehr zukünftige Spiele wünschen würde. Oft genug stand ich in meiner Casual Gamer-Zockerkarriere vor folgendem Dilemma: Einerseits möchte ich zum Feierabend in den Genuss einer guten interaktiven Geschichte kommen, deren gestellte Aufgaben mich nicht gänzlich in den Wahnsinn treiben - das macht ja schließlich schon mein Job. Für mich sind Videospiele Medien zum Abschalten und Eintauchen in andere Welten, zu krasse kompetitive bzw. skillbasierte Elemente des Todes stören dabei nur mein Erlebnis. Andererseits möchte ich nicht komplett ohne Herausforderung durch die Levels tanzen, komplett übermächtig und unzerstörbar, weil das natürlich viel der Immersion nimmt und oft auch der Story widerspricht. Der pauschal angebotene leichte Schwierigkeitsgrad ist deshalb oft viel zu billig. Da finde ich einen Schwierigkeitsbaukasten, wie ihn mir Control bietet und der mich das Spiel an meine individuellen Skills und Bedürfnisse anpassen lässt, sehr dankbar. Besonders dann, wenn zufällig respawnende Gegnerscharen in bereits besuchten Abschnitten das Erkunden bzw. Erreichen neuer Locations, die sich z.B. aufgrund neuer Schlüsselkarten oder Fähigkeiten nun freischalten lassen, hin und wieder unnötig erschweren. Das schont die Nerven.

 

"I Can't Tell If That's Creepy Or Normal Here"

 

Apropos Immersion: Weil sie die Überforderung und Ahnungslosigkeit, aber auch das Interesse des Spielenden teilt, fällt der Schulterschluss mit der Protagonistin leicht. Klar, sie wirkt in einigen Momenten unnahbar und ziemlich paranoid. Ihre ständigen, reflektierenden Monologe zogen mich aber nicht nur deshalb in die Story hinein, weil sie den gemeinsam erreichten Fortschritt kommentieren, Ereignisse bewerten und neue Fragen aufwerfen, sondern ich mich weiterhin angesprochen fühlte, da sie wie schon zu Beginn an ein (lange unbekanntes) »Du« gerichtet waren. Merkwürdig genug, dass man einerseits Jesse verkörpert und steuert, aber sich andererseits als Ziel ihrer Äußerungen wähnt. Obwohl man gar nicht das eigentliche bzw. ausschließliche Ziel ihrer Äußerungen ist, wie man später erfährt. Und macht das überhaupt Sinn, dass eine mediale bzw. fiktive Figur eine echte Person außerhalb des Mediums anspricht? Im Theater würde man hier von einem »Durchbrechen der vierten Wand« sprechen. Moment mal, wie lautet noch gleich eine der Phrasen, die die vom »Zischen« infizierten Leute mantraartig wiederholen? "Die erste, die zweite, die dritte, die vierte Wand zu brechen. Die fünfte Wand. Boden, kein Boden. Du fällst." Alles klar, Willkommen bei Control. Einfache Antworten gibt es hier nicht. All diese Suppen aus Fragen und Gedankenspielen, die während des Zockens in meinem Hirn köchelten, hielten mich in der Spielwelt wie in einem Strudel gefangen. Zum Glück waren gerade Weihnachtsferien: Die lästige Arbeit störte mich also nicht.

Auch die wenigen anderen, aber dafür sehr charismatischen Charaktere, die man im Laufe der Reise durch das »Älteste Haus« trifft, tragen zum glaubwürdigen (falls dieser Begriff bei Control überhaupt gebraucht werden kann) und intensiven Setting bei. Wie die Protagonistin, eine digitale Kopie der Schauspielerin Courtney Hope, sind alle ansprechbaren NPCs echten Menschen nachempfunden, was sich vor allem an der Mimik und der Art ihres Sprechens deutlich zeigt, oder erscheinen sogar nur in wirklich stimmigen Realfilm-Videosequenzen, wie zum Beispiel der sympathisch verrückte bzw. verrückt sympathische Professor Casper Darling. Das eindrückliche Grinsen von Bruder Dylan, zwischen Wahnsinn und Charisma schwer einzuordnen, war gleichsam ansteckend wie gänsehauterregend. Auch wenn die deutsche Synchronisation Schwächen zeigt und oft gar nicht zu den Lippenbewegungen der Charaktere passt, was selbst für die Verhältnisse dieses Spiel merkwürdig bizarr wirkt und die Immersion stört, konnte ich z.B. den Gesprächen mit der schwungvollen Überfliegerin Emily, dem auffällig hilflosen und einsamen Weirdo-Securitychef Frederick Langston oder der eiskalten Fungus-Forscherin Dr. Underhill einiges abgewinnen. Die Vermischung von Videospiel- und echter Realität treibt auch die musikalische Untermalung voran, immer wieder wird der sowie schon druckvolle Soundtrack mit real existierenden (rockigen) Liedern - aber auch dem bereits erwähnten finnischen Tango - ergänzt und teilweise das gesamte Spielgeschehen auf diese treibenden Songs ausgerichtet (»Aschenbecher-Labyrinth«).

Außerdem genau mein Geschmack: Die kontrastreiche Optik, deren alternierendes Zusammenspiel aus Hell-Dunkel- bzw. Schwarz-Weiß-Elementen vom leuchtenden Rot des »Zischens« aufgebrochen und durchdrungen wird, warf beeindruckende Szenarien und Lichtstimmungen auf meinen Bildschirm. In Kombination mit der häufig symmetrischen Architektur des »Ältesten Hauses« und schlichten, geometrischen Formen und Figuren des sich verändernden Gebäudes empfand ich die gesamte Szenerie als absoluten Augenschmaus. Diese schlichte, kontrastreiche Ästhetik, die trotz oder wegen ihrer offensichtlichen, aber stilvollen Einfachheit zu gefallen weiß, harmonierte ausgezeichnet mit meiner Xbox Series X, die ich ebenfalls genau aus diesem Grund so dermaßen schick finde. Die majestätische, tiefschwarze umgekehrte Pyramide des »Rates« im Geschäftszentrum der Behörde in Einklang mit dem für Spötter und Design-Analphabeten langweilig wirkenden mattschwarzen Quader der Xbox, der von unwissenden Augen auch für einen Mini-Kühlschrank oder eine Lautsprecherbox gehalten werden könnte. Doch genau deshalb integriert er sich so problemlos in das Setting jeder Wohnwand, absorbiert Blicke aufgrund seiner klaren, zurückhaltenden Form, ohne sich dabei zu sehr in den Vordergrund drängen zu wollen, anders als das überdimensionale, pseudo-futuristische Schlachtschiff in WLAN-Router-Optik namens PS5. Ist und bleibt aber Geschmackssache, für mich als Ordnungsfetischisten ist die Sony-Konsole einfach zu wild, zu herausstechend, zu groß und farb- sowie formtechnisch nicht ansprechend. Aber egal, da bin ich wohl schon wieder abgeschweift.
Die kontrastreiche visuelle Gestaltung von Control ergänzt sich übrigens prima mit dem abwechslungsreichen auditiven Design, dessen lauten und leisten Phasen fein orchestriert und immer rhythmisch passend zum aktuellen Geschehen sind. Auf allen Ebenen komponiert Control ein Wechselspiel aus Chaos und Kontrolle, aus Wirbel und Ruhe, aus Wissen und Ahnungslosigkeit. Das macht die Atmosphäre ungemein dicht und mitreißend.

 

Aufgrund der Intensität der Lichteffekte, den verzerrenden (Rauch-)Schleiern und den Bewegungen der Gegner hatte ich außerdem ein Déjà-vu, das ich anfangs nicht zuordnen konnte. Als ich dann den (fiktionalen) Namen der Band Old Gods of Asgard (in echt: Poets of the Fall) las, die sich für das Lied "Take Control" innerhalb des Spiels verantwortlich zeichneten, erhärtete sich mein Verdacht: Mir kommt das alles bekannt vor. Aus Alan Wake, Namensgeber und Protagonist des gleichnamigen Spiels auf der Xbox 360, welches ich damals wegen seiner Psycho-Story, Atmosphäre und vielen Design-Entscheidungen ebenfalls großartig fand. Eine kurze Internet-Recherche später: Tatsächlich, Remedy hatte auch Alan Wake entwickelt (und arbeitet gerade am zweiten Teil, wub wub!). Der nächste Nostalgiezug überrollte mich, und jetzt, mit diesem Wissen ausgerüstet, fand ich an allen Ecken und Enden intertextuelle Verweise auf das frühere Game, welches augenscheinlich im gleichen Universum spielt(e) wie Control. Denn die paranormalen Ereignisse rund um den niedergeschlagenen Schriftsteller werden und wurden in der Behörde untersucht, wie gefundene Notizen und Audiofiles bestätigten. Die expliziten wie impliziten Parallelen traten immer deutlicher zutage, wenn man nur die Augen offenhielt. Spätestens der downloadbare Zusatzinhalt AWE verwob beide Spiele zu einem regelrechten Crossover, Alan Wake kontaktierte Jesse nun per »Hot-Line«. Ein feuchter, kribbeliger Traum für einen Nerd wie mich, der den Hype- und Flash-Faktor zusätzlich potenzierte.
Und wie sagte Alan Wake so schön im Spiel von 2010: "Stephen King schrieb einmal: 'Albträume existieren außerhalb der Logik'. Es bringt wenig sie erklären zu wollen. Sie sind die Antithese der Poesie, der Angst. In Horror-Geschichten fragt das Opfer ständig nach dem 'Warum?', aber es gibt keine Erklärung und es sollte auch keine geben. Das ungelöste Geheimnis verfolgt uns am längsten und ist das woran wir uns schließlich erinnern." Das passt doch wirklich gut zu den Spielen von Remedy.

 

Vielleicht übertreibe ich mit meiner ganzen Lobhudelei, mag sein. Aber ich habe es einfach so sehr genossen, endlich mal wieder von einem Spiel komplett eingesogen zu werden, was alterstechnisch oder spielqualitätstechnisch in den letzten Jahren immer seltener wurde. Als der richtige Abspann - ja, natürlich gibt es in Control einige Stunden vorher einen »falschen« Abspann, der dem Spielenden mit aus Fassungslosigkeit offen stehendem Mund das Ende des Spiels vortäuscht, nur um danach erneut in einen fiebertraumartigen Spielabschnitt in Endlosschleife zu gleiten - über den Fernseher flimmert, hatte ich sofort das Bedürfnis, mehr zu erfahren. DLCs, Wiki, Forendiskussionen. Laptop- und Handywallpaper wurden angepasst und werden nun von der schwarzen Pyramide des »Rates« geschmückt, ich googelte nach Merch, welches es leider kaum gibt, unbegreiflicherweise. Okay, wenn ihr mein Geld nicht wollt, dann eben nicht. Ich hatte schnell das Bedürfnis, einen Text darüber schreiben zu müssen, währenddessen läuft gerade der Soundtrack aus meiner Bluetooth-Box. Nach exzessiven Zocktagen spielte ich Control in meinen Träumen weiter, mein Hirn musste einiges verarbeiten und ordnen.

Hat mich das »Zischen« erwischt? Oder einfach ein Fanboytum, welches ich früher, in der Jugend, im Hinblick auf Bands oder Pokémon bereits ebenso exzessiv gepflegt hatte? Und wen frage ich das eigentlich gerade? Dich? Mich?

 

Egal. Es spricht viel dafür: Control ist Kunst. Bewegend, eindrücklich, faszinierend, tiefsinnig und ein bisschen ballaballa.
Ich brauche mehr von dieser positiv abgefahrenen Psychose. Oder, um es mit den Worten der »Zischer« zu sagen: "Wie sagt man »verrückt«? Es tut weh glücklich zu sein." 

Remedy Entertainment, ihr seid am Zug! Ich werde warten.

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