Das traurigste Mädchen der Stadt (Teil 1)

Es ist Freitag, punktgenau halb neun. Die knarzende Holztür der zwielichtigen Kneipe schwingt nach innen auf. Sie betritt den Raum, hängt ihren grauen Mantel an die rostige, mehrhakige Garderobe aus Eisen, läuft wie in Trance auf die Bar zu, setzt sich direkt an die Theke. Ihr Stammplatz.

 

Auf ihrem dunkelgrünen Barhocker mit dem roten, abgewetzten Sitzpolster sitzt sie nun nahezu regungslos, das linke Bein über das rechte geworfen, ihr linker Arm, angewinkelt auf dem polierten Sperrholz des alten Tresens platziert, als stabile Stütze für ihren schweren Kopf.

Alles wie immer...

 

In der rechten Hand leuchtet ihre Zigarette, sie zieht gierig daran, aber ohne Hast. Sie genießt das Nikotin auf seinem schuldvollen Weg entlang ihres Halses, lässt es wie eine Welle stresslösender Atome ihren geschundenen Körper durchfluten, bevor sie, nach einer kurzen Pause, erneut ihre schwarz lackierten Fingernägel Richtung Mund führt, um sich den nächsten Zug Entlastung zu gönnen. Der ausgeblasene Rauch schlängelt sich derweil ästhetisch im schummrigen Licht.

 

In den Zeiten zwischen den Zigaretten kommt der Gin. Ganz automatisch, sie ist ein vertrautes Gesicht, muss nichts sagen, der alte Wirt stellt ihr ein Glas nach dem anderen hin, mit Eis, aber ohne Worte. Sie bestellt konsequent nur mit einem Aufzeigen ihres dünnen Fingers, ein ritualisierter und routinierter Vorgang. Jeden Freitagabend die gleiche Szenerie, das gleiche Drehbuch. Ihre Gemütslage wandelt sich dabei, synchron zum Voranschreiten der Zeit und ihres Alkoholisierungsgrades, von beharrlicher Unentschlossen- und Gleichgültigkeit zu manischer Depression und Lethargie. Ihre Augen: Starr auf das Glas gerichtet, stumm beobachtend, wie die Eiswürfel unbeholfen dem Ertrinken trotzen.

 

Knapp zwei Stunden zuvor hatte sie nach einem beschwerlichen Arbeitstag endlich ihr Zuhause erreicht. Ihre kleine Wohnung, so bieder, einfallslos und wenig aufregend wie ihr Job. Sie besitzt nur das Nötigste, wohnt alleine bis einsam. Aufgrund ihrer pochenden Kopfschmerzen warf sie sich zwei Schmerztabletten ein, trotz oder wegen des späteren Alkoholkonsums. Danach schlummerte sie kurz, eine wohl verdiente Auszeit. Normalweise erhofft sie sich von Freitagen ein besonderes Ereignis, einen besonderen Moment. Der einzige Tag, beziehungsweise Abend, an dem sie leben könnte. Doch am heutigen Tage hatte sie selbst für das müßige und vergebliche Warten auf Leben keinen Nerv.

 

Nach der kleinen Ruhephase stieg sie endlich aus ihrem verschmutzten blauen Overall und sprang flinken Fußes in die leicht gammlige Duschkabine. Das brühend heiße Wasser reinigte, beruhigte und entspannte sie, sie ließ sich Zeit. Anschließend kleidete sie sich mit ihrem Lieblingsoutfit, nicht zu sehr aufgebrezelt, sondern lässig und casual, ohne dabei aber wie im Schlafanzug zu wirken. Eine schon oft kombinierte Auswahl an Stücken, in welcher sie sich wohlfühlt und bereit ist, aus dem Haus zu gehen. Sie trug sogar ein wenig Schminke auf, sehr dezent, sie sieht darin unauffällig und normal aus, eine hauchdünne Maske, um sich selbst und anderen zu gefallen. Um nicht so gebrochen zu wirken, wie es ihr Deutsch vermuten lässt. Dabei erscheint sie in ihrer angenehmen Zurückhaltung ziemlich ansprechend, ohne dies aber zu realisieren.                                                                                                                                       

 

Sie band ihr glattes, dunkelblondes Haar zu einem anmutigen Zopf, schnappte sich ihre lederne Handtasche und ging los. Ihre tägliche Arbeit macht ihr keine Freude, sie ist auszuhalten, gewiss, aber bei Weitem nicht befriedigend. Schreckliche Monotonie, jeden Tag, jede Stunde, Knöpfchen drücken, Maschinen, Technik, von der sie nichts versteht. Aber sie besitzt keinen Schulabschluss, keine Chance, keine Zukunft. Sie erledigt ihre Aufgaben uninteressiert, aber zuverlässig, wie ein gut geölter Roboter. Ihre Arbeitskollegen sind für sie nur karge Randerscheinungen, huschende, fremdartige Schatten zwischen den rumpelnden und lärmenden Fabrikanlagen. Sie verstehen sie nicht, selbst wenn sie es wollte. Aber sie möchte gar nicht erst. Sie ist ein Fremdkörper.

 

Ähnliches Bild in der Kneipe: Sie spricht mit niemanden. Anbiederungs- oder sogar nett gemeinte Kontaktversuche anderer einsamer Irrlichter der Gesellschaft blockt sie wortlos ab, ignoriert sie, antwortet höchstens mit Bewegungen ihres Kopfes oder ihrer eindrucksvoll grünen Augen. Sie schaut sich um, und nimmt sich vor, nicht wie die anderen Menschen zu werden, die diese erbärmliche Schänke besuchen: Verzweifelte Arbeiter am Existenzminimum. Gebrochene Persönlichkeiten, die ihr weniges Geld leichtsinnig wie Kinder an funkelnden und klimpernden Spielautomaten verzocken. Alkoholikerpaare, die jede freie Minute hier verbringen, täglich bis zum Schankschluss, deren einziger intimer Moment das gemeinsame Rauschausschlafen ist.

 

Sie möchte eigentlich kein engstirniger, dünnhäutiger und desperater Dauergast in diesen Räumlichkeiten sein, wie all diese ruinierten Existenzen. Das Problem: Sie ist auf dem besten Weg dahin. Sie ist ständig umgeben von Leuten, fühlt sich aber dennoch allein und fremd. Sie weiß nicht, in welche Richtung sie aus welchen Gründen gehen soll, klammert sich resigniert an bekannten Dingen fest. Und damit an der verführerisch schimmernden Kante des Tresens, welche schier unbegrenzten Nachschub ihres Lebenselixiers garantiert. Sie würde gerne Menschen kennenlernen, nein, kennen, denn den langwierigen Prozess des Kennenlernens möchte sie nur zu gerne überspringen.

 

Vor drei Jahren kam sie hierher, aus einem kleinen Land in Ost-Europa, unter falschen Vorwänden hergelockt. Kein weißrussischer Verlobter, der da eigentlich sein sollte, kein höheres Einkommen, kein besseres Leben. Dafür zahlreiche Möglichkeiten, sich selbst endgültig zu verleugnen, nämlich lukrative, aber heikle Offerten aus dem Drogengeschäft oder der Prostitution. Stattdessen ging sie den ehrlichen Weg, suchte sich eine grundsolide Arbeit und eine zu bezahlende Absteige. Manchmal fragte sie sich, ob sie sich richtig entschieden hatte. Hätte sie den anderen Weg gewählt, hätte sie immerhin Sex.

 

Zigarette, Gin.

 

Manchmal verirren sich junge, attraktive Leute hierher, aus Neugier, Langeweile oder Voyeurismus, den Abschaum begaffen. Vielleicht aber auch, weil sie die hinterwäldlerische Spelunke davor nicht kannten – oder ebenfalls aus ersten Anzeichen von Alkoholismus oder Verzweiflung. Sie fällt hier in der Bar und am Tresen auf, durch ihr Alter, durch ihr Aussehen, ohne, dass ihr dies auffallen würde. Ab und an spürt sie die überraschten Blicke der wenigen gleichaltrigen Neuankömmlinge in dieser Hölle des kleinen Mannes, in ihrem Rücken, von hinten und von der Seite. Fühlt sich manchmal, wenn der Alkohol ihr einen mutigen Atemzug außerhalb ihrer Blase zugesteht, sogar begehrt, beachtet und wahrgenommen. Dieses Fixiertwerden fühlt sich anders an, als das der versifft-versoffenen Stammgäste. Aber sie reagiert nicht darauf. Traut sich nicht, etwas zu tun, selbst Interesse zu zeigen, obwohl sie es, wie ein fernes, dumpfes Gefühl aus der Vergangenheit in ihr leise flüstert, irgendwie möchte.

 

Stunden später zieht die Gruppe junger Leute weiter, aus welchem Grund auch immer, nach ein paar Runden Darts und Hefeweizen, dabei wünscht sie sich nichts mehr, als dass sie hierbleiben, wenn auch in geordneter Distanz zu ihr. Um das junge Leben, welches sie sich so sehnlichst zurückwünscht und das noch immer heimlich und versteckt in ihr keimt, zumindest grob und vage, im Spiegel hinter dem Tresen, fühlen und sehen zu können. Ihr Kajal verwischt in diesen Momenten, sie macht sich Vorwürfe, schaut in ihr schmieriges Glas, unsicher, ob die unsichtbare Flüssigkeit Gin, geschmolzene Eiswürfel oder ihre Tränen sind.

 

Dann plötzlich Tumult. Ein paar betrunkene Provinz-Idioten wollen sich an die Gurgel, sie ist mittendrin, aber nicht dabei. Zwei Parteien stehen sich wütend gegenüber, sie sitzt dazwischen, Gläser und Flaschen fliegen rücksichtslos vor und hinter ihr vorbei, dann wird sie an der Schulter getroffen, ein riesiger gelb-blauer Fleck entsteht. Sie schluckt den Schmerz, den Frust, die kurz aufkeimende Aggression hinunter, beißt sich kurz aber heftig auf ihre zartrosa Lippen, bewegt sich sonst aber nicht, ein unerschrockener Turm im Kriegsgeschehen, wenngleich nur Fassade. Der greise Wirt, mit dem Telefonhörer am Ohr, redet hektisch, betrachtet sie und ihre selbst auferlegte Starre kurz in einer Mischung aus Bewunderung und Kopfschütteln.

 

Später, gegen zwei Uhr.

Sie steht auf, rutscht unbeholfen vom Hocker, legt ihren zerknitterten hellbraunen Geldschein zittrig auf den Tresen, geht gemächlich schwankend zur Garderobe, greift nach ihrem grauen Mantel, vermeidet jegliche verabschiedende Kommunikation. Lüsterne Blicke und sexistische Sprüche der alten, nun betrunkenen Männer folgen ihr. Aber sie ist das gewohnt, erst eine körperliche Verfolgung würde sie einschüchtern, davor hat sie Angst.

 

Der Barkeeper wundert sich über das viele Trinkgeld, ihr scheint es egal. Geld ist für sie ein notwendiges Übel, kein Bedürfnis. Nicht mehr, seit sie dem Ruf desselben verfallen war und deswegen ihre Heimat verließ. Sie sehnt sich in diesen Tagen nach anderen Dingen, den kleinen Dingen, kann diese aber nicht beschreiben, nicht fassen und schon gar nicht erreichen. Etwas Gemeinschaftliches, etwas Intimes, etwas Zwischenmenschliches. Sie hatte noch nie, möchte es aber, kann dennoch nicht, verweigert sich. Die psychologische Abwärtsspirale, in der sie sich befindet, lässt sogar ihre Wünsche und Gedanken ersticken.

 

Es knarzt, die Tür geht auf. Sie wird von der Dunkelheit verschluckt, nur das Glühen und Tanzen der letzten Zigarette zeichnet ihren kurvigen Weg nach Hause nach. Das flackernde Licht der nächsten Straßenlaterne taucht sie in einen dämmrigen Sepia-Ton, eine passende Umrahmung ihrer nun durch den Alkohol verschwimmenden Gestalt. Sie versucht, gerade zu laufen – und ist verschwunden.

 

Bis sie nächsten Freitag, punkt halb 9, wieder auftaucht. Aus dem Nichts. Mit niemandem. Für niemanden.

Das Mädchen, das niemand kennt.

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