Das traurigste Mädchen der Stadt (Teil 2)

Wie aus dem Nichts und ohne Vorwarnung, als wäre sie durch ein Portal geschritten, um einer fremden Galaxie zu entrinnen, schält sie sich aus der sternklaren Dunkelheit einer weiteren lauen Sommernacht. Die Straßenlaternen sind längst erloschen. Die Zigarette, das kleine, leuchtende Fünkchen zwischen ihren Fingern, durchlebt ihre letzten Atemzüge, bevor ihre sterblichen Reste lässig und sorglos weggeschnippt werden.
Das Mädchen durchbricht mit ihren energischen Schritten die beängstigende Stille des Stadtteils... 

Sie tänzelt schwankend, aber zielgerichtet auf die marode Holztür des abgewirtschafteten Mehrfamilienkomplexes zu, in dem sie unterkommen wird. Im Flackern der alten Glühbirne, die den Eingangsbereich in ein unsicheres Schimmern taucht, erreicht sie eine kleine Treppe. Dort positioniert sie ihr rechtes Bein auf der ersten von vier steinernen, mit kleinen Schlaglöchern versehenen Stufen, verlagert ihr ruheloses Körpergewicht auf es und lehnt sich seitlich an das metallene Geländer. Sie benötigt die zusätzliche Stabilität dringend, der Alkohol beeinträchtigt ihre Balance.

 

Leicht wankend und unkoordiniert kramt sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Sie wühlt unablässig, planlos und ohne Angst vor der Schwärze in ihrem Rücken. Der Gin, der in ihr tobt, mildert diese Angst ab und lässt sie sogar nahezu vergessen. Seine herbe Fruchtigkeit liegt noch immer auf ihrer Zunge. Wie jeden Freitagabend hatte sie sich der wohltuenden Kraft des Wachholderschnapses ausgesetzt und hingegeben, alleine, maßlos und erfolgreich. Selbst das eilige Vorbeihuschen einer nachtaktiven Katze, die unter Fauchen einer zum Tode verurteilten Maus nachjagt, geht spurlos an ihr vorüber.

An Tagen, an denen sie kein tonisches Bündnis mit ihrem liebsten flüssigen Vertrauten schließen kann, hält sie den Schlüssel stets in ihrer Hand, den Schaft zwischen Zeige- und Mittelfinger platziert, um bei plötzlichen Angriffen bereit zu sein, zu kontern und zuzustechen. Im Wissen, dass dies entgegen der häufigen Annahme keine besonders erfolgsversprechende Strategie darstellt, fühlt sie sich dank ihrer Bewaffnung ein klein wenig sicherer und wehrhafter, wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit, in die Stadt oder nach Hause begibt.

 

Einer ihrer tiefsten Wünsche ist es, selbstbewusst, stark, unabhängig, frei und unverwundbar sein zu können – und dies auch zu dürfen. Schließlich gelten diese positiven Ausdrücke einer der vielen zerstörten Hoffnungen, die sie vor ihrer Ankunft in dieses Land gesetzt hatte. Ein Land, in dem der Wohlstand und die Sicherheit wie das Bier nur so fließen solle. Ein Land, welches einem wahrhaftigen Paradies auf Erden gleichen würde. Zumindest, wenn man den begeisterten Erzählungen aus ihrer Heimat glaubte, was sie getan hatte. Als Frau, so der Tenor, könne man hier ein unbehelligtes Leben führen, ohne tätliche Angriffe, ohne abwertende Sprüche, ohne Vernachlässigung, ohne Ausnutzung, ohne Unterdrückung. Doch bereits beim Einzug in ihre Wohnung, bei ihrer Ankunft, also während der ersten Stunden, war diese Annahme gestorben, sie stellte sich als falsch und verklärt heraus.

 

Endlich erspürt sie den metallenen Schlüssel, fischt ihn aus den undurchschaubaren Weiten ihres Täschchens, und überwindet relativ unbeholfen die letzten Stufen hoch zur abgenutzten Eingangstür. Diese hängt ein wenig schief in den Angeln und ab einer Öffnung von knapp fünfundvierzig Grad scheuert sie über den Boden, wie weiße Schleifspuren beweisen. Unbeabsichtigt kratzt sie mit dem Bart des Schlüssels am Metall des Schlosses, was ein leises, unangenehmes Geräusch hervorbringt, wie von Kreide auf einer alten Tafel. Dann findet sie die Öffnung im mauen, unsteten Schein der Lampe und es gelingt ihr, den Riegel des Schließzylinders zurückschnellen zu lassen.

 

Unmittelbar nach dem Aufschwingen der Türe empfängt sie ein beißender Geruch, der nach alter Wäsche und den abgestandenen Mülltüten schmeckt, die seit Monaten hilflos vor dem Kellereingang auf eine Abholung und baldige Erlösung warten. Kaum im Inneren angekommen, bemerkt sie kleine Steinchen und klebrige Rückstände zuckerhaltiger Flüssigkeiten unter den dünnen Sohlen ihrer Schuhe, sie beginnen zu kleben. Noch bevor sie seufzend einen weiteren Schritt in den Flur wagt, entdeckt sie einen einzelnen, verwahrlosten Kinderschuh, eine zusammengepresste Dose eines populären Energy-Drinks, einen überquellenden Aschenbecher und die zerfledderten Prospekte diverser Discounter, die umhergeflattert sein mussten wie verwirrte, zerrupfte Tauben. Im abgestandenen Licht der alten Glühbirne, das von außen nach innen dringt und die Silhouette des Mädchens in den Gang wirft, könnte diese eindrückliche Szene aus einem trashigen Horrorfilm oder einer zweitklassigen, klischeebeladenen Dokumentation über soziale Brennpunkte stammen. In Wahrheit ist dieser Schauplatz all das: Klischee und Horror. Aber vor allem Wahrheit und Alltag.

 

Sie erinnert sich noch genau, wie sie diesen Gang zum ersten Mal betreten hatte. Die Tür hatte offen gestanden und es war helllichter Tag, ansonsten nicht viel anders. Ein demoliertes Fahrrad und ein dreckiger Gummischlauch hatten den ersten Eindruck geprägt und das aktuell vorfindbare Stillleben hervorragend ergänzt. Möglicherweise hatte es sich damals sogar um dieselbe Familie an gefüllten Müllsäcken gehandelt, der sie noch heute verlässlich begegnet. Denn in ihnen tummelt sich mittlerweile wildes Leben, was die Säuerlichkeit in den Nasenflügeln erklärt, wenn sie den heruntergekommenen Wohnkomplex betritt. Und dennoch glich dieses Gebäude und dieser Flur damals einem leibhaftigen Himmel auf Erden, gemessen an den Mühen und Strapazen ihrer Flucht, einer turbulenten Reise mit One-Way-Ticket und ohne viel Proviant. Aus der Emotion heraus und im Eindruck, ein vermisstes Zuhause und das Ziel ihrer Irrfahrt endlich erreicht zu haben, fiel sie vor Dankbarkeit und Erleichterung auf die Knie. In dieser Illusion verharrte sie, bis sie dem Vermieter ihres kleinen Appartements begegnen durfte – also ganze drei tiefe Atemzüge, denn er hatte auf sie gewartet. Vor ihr, durch die Treppenstufen erhöht, thronend wie aus einem Elfenbeinturm heraus, streckte ihr ein starker, stämmiger Mann wohlwollend die haarigen Arme entgegen. Ihr, dem hilfsbedürftigen, schwachen Mädchen, kniend auf dem ungeputzten Fußboden.

 

Den schönen Gedanken an eine innige Begrüßung verwarf sie zügig, denn in den Augen des ungefähr 45 Jahre alten Mannes lag von Beginn an dieses ungesunde Lodern, welches ihre Sinne schärfte und gleichzeitig vernebelte, weil sie es nur zu gut von früher kannte. Er sah sie an und las alles aus ihr heraus und von ihr ab, als wäre sie ein dreidimensionales Werbeplakat: Ihre Abstammung, die Gründe für ihre Immigration, die Vorzeichen, die Bedingungen, den Ablauf, die Art und Weise, wie sie an diesen Ort geraten war. Innerhalb von Sekunden und innerlich geifernd wie eine Dogge in der Brunft, erschnüffelte er ihre Armut, ihre Erschöpfung, ihre Hilflosigkeit, ihre Abhängigkeit, ihre fehlenden Sprachkenntnisse. Ein appetitliches Bouquet, welches ihm geläufig war, welches ihn erregte, schließlich fungierte er als eines der losen Enden der Nahrungsketten aus Schleusern, Schmugglern, Schleppern und falschen Versprechungen. Er hatte schon unzählige Mädchen vor ihr einquartiert, gehütet und in Arbeit gebracht. Jedoch nicht aus Altruismus und Nächstenliebe, sondern wegen des Profits, wegen des Geschäfts, und auch wegen des süchtig machenden Gefühls der Macht. Diesem teuflischen wie primitiven Trieb, dem er hier, am Saum der Gesellschaft, noch erliegen durfte. Ganz seiner Selbstdarstellung entsprechend erschien er den jungen Geflüchteten anfangs als Engel, als Hoffnungsbringer, als Messias, als Hilfe, als Freund in der Not. Dabei war er, wie sich dem Mädchen schnell offenbaren sollte, eigentlich doch nur ein gewöhnliches Arschloch, welches sich an der eigenen Bedeutung für andere aufgeilte, der Geltungssucht verfallen war, sich an Schwächeren bediente und deren Verzweiflung so kaltherzig wie selbstsüchtig ausnutzte.

 

Zuerst nahm er sie behutsam bei der Hand, half ihr hoch und schenkte ihr ein warmes, aber zerbrechliches Abbild eines herzlichen Willkommens, von Fürsorge und Sicherheit. Seine Sprache war die des Körpers und musste sie sein, eine verbale Verständigung konnte nicht gelingen. Er sprach deshalb nur wenige, ausgewählte Worte, eine Mischung aus deutschen und englischen Vokabeln, die für das Mädchen in diesem Moment noch keinerlei Bedeutung trugen. Er deutete und führte, brachte sie die Treppen in das dritte Stockwerk empor, stellte oben die gesamte, kleine Wohnung wie für einen tauben Menschen dar, in amateurhafter Zeichensprache, gestikulierend, hinweisend, empfehlend.

 

Doch spätestens im Schlafzimmer sollte sich die Atmosphäre verändern. Es war nur notdürftig ausgestattet, ein alter Holzschrank, ein kleines Bett und ein weiß lackiertes Schminktischchen, welches einen verunreinigten, runden Spiegel trug. Sie spürte, wie das flüchtige Gefühl der Geborgenheit sich in eine Aura der Übergriffigkeit verwandelte, wie die helfenden Hände zu gierigen wurden, wie der Raum von einem Ort der Erholung und des Ankommens in ein Mahnmal der Verkommenheit und in das Eintrittstor zur nächste Hölle mutierte.

Der namenlose Mann manövrierte sie in das Zimmer, links von ihr stehend und seinen rechten Arm um ihre Taille geschlungen, nicht gewalttätig, aber doch in einer gewissen Bestimmtheit. Der Raum schleuderte ihr einen eigenartigen Muff entgegen, den sie in ihrer Nase überraschend deutlich registrierte, als wäre eine unsichtbare Welle an Duftstoffen über sie hereingebrochen. Die Wolke bestand hauptsächlich aus den Gerüchen vergangener Mädchen und ihrer intensiven Parfüms, die wie aromatische Geister umherschwirrten und sich zu einem würzigen Konglomerat verbanden. Beigemischt war Schweiß, der sowohl körperlicher Anstrengung als auch chronischer Angst entsprungen sein musste. Es hätte dringend gelüftet werden müssen, vermutlich für Wochen, aber leider gab es keine Fenster, was den Eindruck eines engen, klaustrophobischen Kerkers zusätzlich verstärkte. Was auch immer sich hier ereignete, es drang nicht nach außen. Ihre Eingeweide zogen sich zusammen, ihr Magen sendete flaue Signale, nicht nur aufgrund des Hungers, der sie schon den ganzen Tag plagte.

 

Er setzte sie sanft auf das Bett, welches verletzlich wirkte und optisch schon zu knarzen schien, bevor es überhaupt berührt oder sich darin bewegt wird. Doch entgegen ihrer Vermutung quietschte und wackelte nichts, als sie sich darauf niederließ. Das milchige Laken und die vorhandene, gestreifte Bettwäsche waren überraschend sauber und vollkommen geruchslos, beinahe klinisch. Kalt und steril wie eine große, leere Leinwand, welche erst noch großzügig mit Gerüchen, Gefühlen und Tinkturen bemalt werden wollte.

 

Der fremde Mann lief nun vor ihr auf und ab, hin und her, hoch und runter, mit den Händen in den Hosentaschen, und sprach vor sich hin, erklärte, äußerte für sie gänzlich unverständliche, unbegreifliche Sätze auf Deutsch. Direkt nach seinem Monolog, seiner Rede, seiner Ansprache, kniete er sich vor sie hin, schuf Augenhöhe mit dem sitzenden Mädchen, fragte sie etwas und schaute ihr eindringlich, aber auch ein wenig bittend in ihre smaragdgrünen Augen. Weil sie nicht reagierte, hielt er nochmals einen pointierten Vortrag, eine Art kurze Zusammenfassung, legte seine Hand auf ihre, und fragte dann erneut, ein wenig deutlicher und uncharmanter als zuvor, zeigte daraufhin auf den Schminktisch, durch die Wohnung, auf das Bett, um seine Worte mit Gesten zu unterstreichen. Wohlwissend, dass sie seine Aussagen auch nach abermaliger Wiederholung nicht würde begreifen können, fragte er wieder und wieder, bis seine Frage schon eher einer Aufforderung glich. Das Mädchen, noch immer unfähig zu sprechen und bar jedes Verständnisses, nickte unscheinbar, weil sie sich nicht traute, tatsächlich zu antworten, eine Gegenfrage zu stellen oder gar zu widersprechen. Alles, was sie begehrte, war Ruhe und Entspannung. Sie erhoffte sich, das ungelenke, in fremden Zungen aufgeführte Schauspiel des Mannes mit Hilfe ihres schüchternen Nickens abkürzen oder beenden zu können, um endlich Schlaf finden zu dürfen.

 

Und tatsächlich, es verfehlte seine Wirkung anfänglich nicht. Der Mann wich von ihr zurück, ging jedoch nur bis zum weißen Schminktischchen, welches ein paar Meter entfernt stand. Auf seiner Ablagefläche standen verschiedene Fläschchen und gläserne Behältnisse, die alle unbeschriftet waren und die das Mädchen vorhin übersehen haben musste. Es handelte sich um Flakons, wie sie aus der Ferne feststellte, als sie den Mann dabei beobachtete, wie er vorsichtig verschiedene Aromen versprühte, testete und ausprobierte, so als stünde er vor den Regalen einer Drogerie, auf der Suche nach einem passenden Weihnachtsgeschenk für seine Liebste. Bis er ein seiner Nase gefallendes Riechwasser auserwählt hatte, verstrichen mehrere Minuten, die sich für das Mädchen wie Ewigkeiten anfühlten. Es blieb völlig unklar, nach welchen Kriterien er das Parfüm ausgelesen oder bewertet hatte. Er drehte sich um, zeigte sich zufrieden mit seiner getroffenen Wahl und ging mit dem bevorzugten Flakon erneut zum Bett. Dort angekommen, setzte er sich rechts neben das junge Mädchen, das noch immer starr und regungslos wie ein ausgestopftes Tier auf seine Befreiung wartete. Ihre Hände waren gefaltet, sodass es aussah, als würde sie beten.

 

Während er das Fläschchen in seiner rechten Hand hielt, begannen die Finger seiner linken Hand sehr vorsichtig die langen dunkelblonden Haare des Mädchens, die über ihre rechte Schulter fielen, hinter ihrem Nacken verschwinden zu lassen. Sehr geduldig strich er Strähne für Strähne nach hinten, beinahe zärtlich, als wäre ihr Haar kostbar oder zerbrechlich. Der Mann sah dabei nicht unsicher aus, sondern konzentriert, er tat jede seiner Bewegungen bewusst und er wusste, was er tat. Als die rechte Seite ihres Halses ungeschützt vor ihm lag, gesellte sich seine Hand mit dem Flakon dazu und versprühte das Parfüm auf einen unsichtbaren, aber bestimmten Punkt hin zielend. Ein, zwei Stöße, mehr nicht. Anschließend erhob er sich andächtig, wenngleich ein wenig aufgeregt, und brachte das Fläschchen wieder nach Hause an seinen angestammten Platz, auf das Serviertablett des Schminktisches, auf den Altar seiner Religion, zurück zum Ausgangspunkt dieser stillen, spirituell anmutenden Zeremonie. Nach einem kurzen Moment des Innehaltens trottete er wie ergriffen und sichtlich aufgewühlt erneut auf das Bett zu und platzierte sich abermals rechts neben dem Mädchen.

 

Was ihr dann widerfuhr, geschah so plötzlich und unvorhersehbar, dass sie nicht darauf reagieren konnte. Aus dem leisen und präzise komponierten, wenngleich etwas bizarren Gottesdienst entwickelte sich ein wilde Sintflut, von einem Moment auf den anderen, als hätte jemand einen versteckten Schalter umgelegt, der den Wahnsinn aus seiner Gefangenschaft befreite und in diesen kahlen Raum ergoss. Selbst das windstille Zentrum dieses perfiden Tsunamis verkörpernd, spielte das Mädchen trotz ihrer Relevanz und ihrer Schönheit lediglich die Rolle einer austauschbaren, anonymen Statistin. Sie leistete den unausgesprochenen Anweisungen des Regisseurs Folge, willensschwach und unterlegen, obwohl sie weder gefesselt noch betäubt, weder mit Gewalt noch Drogen gefügig gemacht worden war.

Es war die blanke Angst, die sie lähmte. Die Verzweiflung, als ihre kühnsten Träume und Hoffnungen von einem anderen, besseren Leben wie Seifenblasen zerplatzen. Die stumpfe Resignation, die ihren vormals wachen Geist erfüllte und ihren Körper so grausam überwältigte, wie es der Mann in wenigen Augenblicken tun würde. Sie ließ sich fortschwemmen und wurde zu einem passiven, apathischen Floß männlicher Triebe.

 

Noch heute fragt sie sich manchmal, was geschehen wäre, wenn sie geschrien hätte, wenn sie gerannt wäre, wenn sie sich verweigert hätte. Doch nach wenigen Monaten erlangte sie die Einsicht, dass es alles vermutlich noch verschlimmert hätte, was beklemmend genug war. In dieser männerdominierten, bis ins Mark verdorbenen Gesellschaftsordnung, dazu ohne Freundinnen, Ansprechpartnerinnen, Gefährtinnen und Repräsentantinnen, musste sie lernen, sich zu fügen. Zumindest anfangs, denn das garantierte ihr Überleben. Deshalb lernte sie, und deshalb überlebte sie.

Das war mitnichten eine neue Lektion. Das Mädchen kannte diese Lehre und ihre Auswirkungen bereits von früher, aus ihrer Heimat, aus ihrer Familie. Sie hatte sie jedoch nicht akzeptieren wollen und die Flucht angetreten, leichtgläubig und einfältig wie sie gewesen war. Die Lektion hatte sie nun aber eingeholt, drückte sie auf den Boden und brach sie wie ein dünnes, ausgemergeltes Stöckchen, so als müsste sie für ihren eitlen und kindischen Fluchtversuch nachträglich und doppelt bestraft werden.                       

 

Der bullige Mann begann animalisch an ihrem schmalen Hals zu schnuppern, um die Verbindung des Parfüms mit ihrem Körpergeruch zu verköstigen. Zu Beginn sachte, in einem albernen Versuch, sie nicht mehr verstören zu wollen als unbedingt nötig, vielleicht auch in der Absicht, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie sei begehrenswert und attraktiv. Doch rasch ließ er sich von den verschmolzenen Düften betören, ignorierte die ungesunde Regungslosigkeit des Mädchens, saugte ihre verlockende Aura gänzlich in sich hinein und schnüffelte wie ein Verrückter, wie ein geisteskranker Jagdhund, der einer gelegten Fährte hinterherhechelt. Die schlürfende Nase des Mannes folgte lechzend der Kontur ihres Halses in Richtung Schulter, als würde ein Junkie den Resten einer Line Kokain auf einer Toilettenbrille nachspüren, auf der Suche nach einem letzten, kleinen Körnchen, das einen neuen, heftigen Kick verspricht.

 

Nun fiel er wie ein tollwütiges Tier über sie her, brachte sie in eine liegende, ausgestreckte Position, gab ihr eine neue Haltung, wies ihr eine Bestimmung zu. Es überraschte sie, dass sie sich mit dem Kopf am Fußende des Bettes zu befinden hatte, jedoch nur kurz. Als sie nämlich ihr Gesicht träge nach links wandte, entdeckte sie den kleinen, runden Spiegel des Schminktisches, der in Höhe und Winkel perfekt auf das ungleiche Paar ausgerichtet worden war. Der Mann war also nicht nur Vergewaltiger und Fetischist, sondern auch noch Voyeur, der sich an seiner eigenen Überlegenheit berauschte. Er wollte sich sehen und inszenieren als Herrscher und Gebieter über all die jungen Frauen, die er hier schon missbraucht haben dürfte, und dieses Mädchen würde das nächste sein, das wussten beide und durch nichts ließ sich dieser unausweichliche Schrecken noch aufhalten.

 

Der Mann hatte derweil schon die nächsten Schritte eingeleitet, wie sie bemerkte, als sie ihre die Lage erforschenden Gedanken beiseiteschob und sich wieder den aktuellen Ereignissen hingab. Flott hatte er ihr Schuhe und Socken ausgezogen, das samtweiche Kleidchen bis zum Bauchnabel hochgeschoben und überdies das lästige Höschen fachmännisch und im Handumdrehen entfernt. Es lag nun wie lieblos weggeworfener Abfall auf dem Boden. Das Mädchen war ihm schutzlos ausgeliefert, und ihre Beckenknochen ragten wie scharfe Felsen der Furcht aus dem weißen Meer ihrer glatten Haut heraus. Weil sie ihre Beine noch geschlossen und nah beieinander hielt, wenngleich nicht sonderlich verspannt oder vorsätzlich, keifte er:

 

„Öffne dich! Mach deine scheiß Beine breit!“

 

Blubbernd würgte er diese Worte empor, spie sie ihr ins Gesicht, mit Schaum vor dem Mund und regelrecht sabbernd. Sie verstand, obwohl sie es nicht verstand, und doch hatte sie keine Wahl, denn schon spreizte er mit seinen dicken, kräftigen Fingern ihre filigranen Beine wie Streichhölzer auseinander, richtete sie auf und lehnte sich mit seinem ganzen verschwitzten Körpergewicht in die entstandene Lücke, um ein erneutes Schließen der beiden Schranken zu verhindern. Diese Sorge war unbegründet, denn das Mädchen wirkte weiterhin leblos, entseelt, abwesend, wie paralysiert. Sie fragte sich, ob es für den Mann eine Rolle spielte, wie alt sie war, ob er ihr Alter schätzte oder wusste. Sie befand, dass es ihn nicht interessierte, oder aber es dürfte ihm völlig egal gewesen sein.

 

Sich zwischen ihren langen Beinen befindend, knöpfte er hektisch sein verschlissenes, altes Holzfällerhemd auf und präsentierte einen wohlgeformten, felligen Bierbauch. Er sah aus wie ein nasser, haariger Bär, der überlegte, ein unschuldiges Lämmchen zu reißen. Tränen traten dem Mädchen in die Augen, es bedeutete die bislang erste sichtbare Erschütterung ihres puppenartigen Körpers. Er behielt das protzig geöffnete Hemd an und hantierte inzwischen unruhig an seinem Gürtel herum, bis es ihm endlich glückte, ihn zu öffnen. Daraufhin zog er erst den Reißverschluss der Hose und dann die blaue Jeans selbst ein wenig nach unten. Sein pochendes, rotes Glied brach hervor und tanzte, eingerahmt von den dünnen Beinen des Mädchens, und es schien in Wallung, wenn nicht sogar kurz vor der Explosion zu stehen, längst satanisch stimuliert durch eigene Macht und fremden Geruch. Es pulsierte besorgniserregend, die Adern zeichneten sich deutlich auf dem Schwellkörper ab und die Eichel bereitete sich vor, wie ein Drache Feuer zu speien. Der Mann spuckte mehrmals auf seinen Phallus und rieb ihn eilig mit seinem Speichel ein, bevor er auch ihr sensibles Geschlechtssteil hastig und grob befeuchtete, ihre offensichtliche, wenngleich erwartete Trockenheit verachtend.

 

Harsch und ruppig, weil unter Druck stehend, drang er in sie ein. Die Seele des Mädchens schrie stumm in ihrem so grazilen wie fragilen Leib, während dieser sich vor Schmerzen sträubte und rebellierte. Sie biss unkontrolliert auf ihre Lippe und schloss angestrengt die Augen. Oben rutschte seine linke Hand unter das angehobene Kleid, ergriff eine ihre feinen Brüste und betastete gierig die sich abzeichnenden Rippenknochen, unten stieß er rücksichtslos zu wie eine gewalttätige, gefräßige Hornisse, die Enge missachtend, erobernd und diese Eroberung unbeschreiblich genießend. Sieben, acht Stöße, mehr nicht.

 

Wann und ob er Zeit gehabt hatte, sich und sie dabei zu beobachten, wusste sie nicht, denn dafür ging alles viel zu schnell. Ihr blieb gleichsam keine Zeit, über eventuelle Geschlechtskrankheiten oder eine mögliche Schwangerschaft nachzugrübeln, denn schon griff er mit der rechten Hand nach seinem bebenden Penis und postierte ihn feierlich über ihr, ließ ein grunzendes Stöhnen vernehmen und all seine somatische Anspannung aus sich heraustreten. Während er sein trübes, schmieriges Ejakulat auf ihrem zierlichen und flachen Oberkörper verteilte, so als würde er sein Revier markieren, verdampfte die kindliche, naive Jugendlichkeit aus dem Körper des Mädchens. Dieser grauenhafte Akt sollte sie für immer zeichnen und eine tiefe Narbe hinterlassen. Ein kleiner Blutstropfen zeugte davon, der sich auf das weiße Laken verirrte, als sie danach noch minutenlang statuenhaft, halbnackt und befleckt liegenblieb, obwohl der Mann und seine abstoßenden Angewohnheiten längst verschwunden waren.

Nach einige Tagen der mentalen und physischen Entrückung wagte sie sich an den Versuch, ihr neues Leben nun wirklich zu beginnen. Hierfür befreite sie sich aus ihrer Ohnmacht, antizipierte die Spielregeln und wurde erwachsen.

 

Das Mädchen überwindet den staubigen Flur und stapft wackelig die alte Holztreppe hinauf, die sie geradlinig in das dritte Stockwerk führen wird. Jede Stufe gibt beim Betreten etwas nach und dabei einen schiefen, ächzenden Ton von sich. Sie hatte sich eigentlich untersagt, ständig an ihre Vergewaltigung zu denken, denn sie musste sich zeitnah mit diesem furchtbaren Ereignis arrangieren. Mittlerweile akzeptiert sie diese sogar als Teil ihrer neuen und alten Lebenswirklichkeit. Doch die Bilder, Gerüche und Eindrücke lauern ihr immer wieder auf. Selbst wenn sie sich tagsüber von ihnen ablenken kann, suchen sie das Mädchen des Nachts in der Form von hinterhältigen Alpträumen heim. Und das, obwohl gewaltsame Übergriffe, Vergewaltigungen und Zwangsverheiratungen in ihrer Heimat zur Regel, zum Alltag gehörten. Doch bis zu diesem Tag vor drei Jahren waren diese Verbrechen immer nur an anderen begangen worden. Jetzt zählt sie selbst zu den Opfern, ist eine von vielen.

Aus diesem Grund begann sie zeitig nach ihrer Ankunft mit dem Trinken, sie entdeckte die wunderbare Herrlichkeit des Gins für sich. Er hilft ihr dabei, den Film in ihrem Kopf zum Anhalten und die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Aber auch, um etwas Bestimmtes und alles andere leichter und erträglicher zu machen. Der Freitagabend in der zwielichtigen Kneipe wurde zu einem existenziell wichtigen Ritual vor dem Ritual.

 

Erst viele Wochen später, als sie die Sprache ein bisschen besser beherrschte und die repetitiven Abläufe ihres neuen Daseins verinnerlicht hatte, konnte sie die Worte analysieren, die der Mann vor ihrer Vergewaltigung gesprochen hatte und sich deren Bedeutung vage zusammenreimen. Denn obwohl sie die Sätze damals unmöglich verstehen konnte, hallten sie in ihrem Gedächtnis nach, so als würden die Lautverbindungen an ihrer Schädeldecke reflektieren. Trotz ihres sichtlichen Unbehagens, ihrer körperlichen Ausgezehrtheit und ihrer wunderlichen Starre hatte sie das gesamte groteske Theaterstück aufmerksam verfolgt.

Seine Ansprache drehte sich um das Geld, um das Bezahlen der Miete. Da sie zum Zeitpunkt des Einzugs ja leider noch keinen einzigen Euro besessen hatte, bot er ihr in einem Akt gespielter Großherzigkeit, die eigentlich lüsterne Selbstherrlichkeit war, einen für alle gewinnbringenden Deal an: Sie könne – natürlich nur, wenn sie sich damit einverstanden zeige – die Rechnungen und Schulden auch anderweitig bezahlen, und zwar mit ihrer Würde, ihrer Ehre und letztendlich ihrem Körper. Daraus machte er keinen Hehl und benutzte keine blumigen Umschreibungen. Ihr dezentes, zurückhaltendes Nicken war ihm Antwort genug gewesen und gleichzeitig die Unterschrift unter ein inoffizielles Vertragswerk, dessen formaler Inhalt sich schnell verselbstständigte und über die Miete hinaus Geltung erlangen sollte. Eine defekte Heizung, eine kaputte Glühbirne, ein tropfender Wasserhahn, ein Kratzer im Parkett ­– all das musste beglichen werden, auf die eine oder andere Art. Gab es keine offensichtlichen baulichen Mängel, die das Wohnen und Leben des Mädchens beeinträchtigte, sorgte der Vermieter, der einen Schlüssel für ihre neuen Räumlichkeiten einbehielt, höchstpersönlich für welche oder erfand neue.

Als üblicher Zahltag für diese »Sondertilgungen« wurde im Nachgang die jeweils letzte Freitagnacht eines Monats festgesetzt. Er meinte, dass dieser bürokratische, regelmäßige Turnus Sicherheit und Vertrauen auf beiden Seiten schaffen würde. Mutwillig verschwieg er jedoch, dass je nach Schwere der Anliegen auch weitere Nächte beansprucht werden konnten, mit oder ohne Vorankündigung.

Sie entschied sich trotzdem, sich auf diesen Pakt mit dem Teufel einzulassen. Denn ihr Stolz und ihr Selbstwertgefühl waren bereits zerstört worden, auf körperlicher und geistiger Ebene ließ sich nunmehr nur noch vergleichsweise wenig Schaden anrichten. Den geringen Lohn, den ihre eintönige Arbeit in der Fabrik einbringt, benötigt sie dringender. Einerseits, um sich an diesen besonderen Freitagen zu betrinken, aber vor allem andererseits, um für eine zweite Flucht, und damit ihre Erhebung zu sparen. Das Geld regiert nun einmal die Welt, und Geld bedeutet Zukunft. Diese will sie sich nicht auch noch entreißen lassen, hatte sie doch bereits Gegenwart und Vergangenheit verloren.

 

Sie erreicht die Wohnungstür und entdeckt leicht angeekelt die abgetretenen braunen Lederschuhe, die rechts neben der Einfassung stehen. Die Tür ist nur angelehnt, in freudiger Erwartung. Entschlossen lehnt sie sich dagegen und schaltet in den Automatikmodus. Ab jetzt läuft sie wie auf Schienen, jeder Schritt ist vorprogrammiert und eingespeichert. Ihr hübscher Kopf, der mittlerweile aufrührerische Gedankenspiele beheimatet, ist dankenswerterweise durch den billigen Gin schachmatt gesetzt.

Sie lässt ihre Tasche fallen, entledigt sich ihres grauen Mantels, schwingt ihre Haare auf die linke Seite, öffnet den obersten Knopf ihrer schicken Bluse, klaubt den unmarkierten, aber nur allzu gut bekannten Flakon vom Schminktisch und besprüht ihren Hals, einmal, zweimal. Bereit, benutzt und leergerochen zu werden, richtet sie sich wie ein Roboter auf das Bett aus und manövriert darauf zu, um die gewohnte Pose einzunehmen und das Programm zu starten.

 

Auf dem Bett sitzt der korpulente Mann, nackt und nass und wollig und königlich, der wie ein wilder Löwe die Witterung aufgenommen hat und mit knurrendem Magen eine gefügige, verwundete Antilope erspäht, die er leidenschaftlich zerfleischen und verspeisen wird. Der natürliche Lauf der Dinge, fressen oder gefressen werden, herrschen oder beherrscht werden, ficken oder gefickt werden.

Das Schicksal, mit all seiner Kraft und Eindeutigkeit, war lange zu stark für das Mädchen. Auch heute muss sie sich ihm nochmals ergeben, muss es und ihn nochmals gewähren lassen – und lässt es stoisch geschehen, erduldet es tapfer, bringt es schweigend hinter sich. Wie schon so oft.

 

Auch wenn sie erwachsen wurde, trägt sie noch immer die kindliche Hoffnung in sich, die sie ausgezeichnet hatte. Metertief vergraben unter Elend, Schutt und Schmach, bewahrt sie einen kleinen Samen an Zuversicht, den sie hegt und pflegt, vor der Verkümmerung bewahrt und mit dem Wasser einer kommenden Revolte gießt.

 

Seit einigen Wochen keimt er.

 

Ihre Zeit wird kommen.                                                            

 

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Das war eine gekürzte Version der Geschichte aus dem Buch »Am Buffet der Befindlichkeiten«

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