Das Märchen vom einsamen Streuner

Es war einmal ein junger Wandersmann, der von Siedlung zu Siedlung zog, ohne bestimmte Richtung und ohne rechten Grund. Mit sich trug er eine kleine, verbeulte Ledertasche und seinen rostbraunen Kater, der stolz auf seiner Schulter thronte. Trotz seiner nicht weiter auffälligen Erscheinung wurde er zügig Inhalt zahlreicher Gespräche in den kleinen Ortschaften, denn er setzte sich in den Tavernen und Spelunken, in denen er sich für die weitere Reise zu stärken gedachte, immer in das dunkelste, abgeschiedenste Eck und vermied es, sich unter das heimische Volk zu mischen...

Eines Tages, als er wieder an einem Tisch saß, der sich wegen der verwinkelten Wände der Schenke nicht recht einsehen ließ, gesellten sich einige Burschen und Madln zu ihm, weil sie sich über ihn und seine Zurückgezogenheit wunderten. Mit reiner Neugier standen sie vor ihm und fragten ihn, wer er sei, woher er käme und ob er nicht ein wenig von sich erzählen möge. Sie warteten vergeblich auf eine Antwort, der Wandersmann tat so, als würde er niemanden und nichts bemerken, und das überzeugend. Nur der flauschige Kater auf seiner Schulter beobachtete die Ankömmlinge mit großen, wachen Augen. Einer aus der Gruppe wollte nun versuchen, näher heranzutreten und den sprachlosen Wandersmann anzustupsen, doch da begann der aufmerksame Vierbeiner, giftig zu fauchen und die Krallen nach ihm auszufahren. Der Bursche trat darauf irritiert zurück und zuckte mit den breiten Schultern. Die Gruppe wunderte sich geschlossen über den komischen Kauz und seinen frechen Begleiter und wollte gerade wieder von dannen ziehen, hätte die Schwester des Burschen nicht noch einen letzten Versuch gewagt:

"Können wir Dir irgendwie helfen? Benötigst Du irgendetwas?"

Der Wandersmann kramte in seiner Tasche. Dann vermochte er es, ihr ohne Blickkontakt zu antworten und es schien, dass er sich eigentlich weiterhin seiner dampfenden Kürbissuppe widmen würde, aber ganz leise war seine krächzende Stimme in ihrem Ohr zu vernehmen:
"Gib mir einen Ort wie keinen anderen, an dem ich zeitlebens verweilen möchte und an den ich immerzu gelangen könnte."
"Unsere Familien sind groß, unsere Häuser klein, wir können Dir keine Bleibe bieten. Wie wäre es aber mit einem Zelt? Gregor, der da drüben, könnte dir eines leihen und dann schauen wir weiter..."
"Nein. Ich neige dazu, Zelte abzubrechen. Es stört mich, gestört zu sein."
Die Schwester drehte sich zu ihrer Verwandtschaft um und gab die ungewöhnlichen Worte wieder, die der Wandersmann gewählt hatte. Als sich die Familie besprochen hatte und ihm ein Angebot unterbreiten wollte, musste sie überrascht feststellen, dass er und sein Kater spurlos verschwunden waren.

 

Einige Tage später trat er in einem anderen Dorf wieder auf. Er saß an einem nur schwach beleuchteten Tisch am Ende des Saales, fernab der Musik des Bardengesindels und der fröhlichen Feierei. Auch dieses Mal gesellten sich ein paar Jünglinge und Gören zu ihm in die Schatten. Im Überschwang des siebten Humpens standen sie beglückt vor ihm und fragten ihn, wer er sei, woher er käme und ob er nicht ein wenig mit ihnen tanzen möge. Auch sie mussten vergeblich auf eine Antwort warten, während der wollige Kater sie scharf beobachtete und den Wandersmann vor Nähe beschützte. Eine der Gören vermutete einen komatösen Zustand, hervorgerufen durch den leckeren Gerstensaft und den billigen Wein, und fragte aus Sorge:
"Können wir Dir irgendwie helfen? Benötigst Du irgendetwas?"

Der Wandersmann kramte in seiner Tasche. Dann vermochte er es, ihr ohne Blickkontakt zu antworten und es schien, dass er sich eigentlich weiterhin seinem dampfenden Rollschinken widmen würde, aber ganz leise war seine hohle Stimme in ihrem Ohr zu vernehmen:
"Gib mir eine Farbe wie keine andere, mit der ich die Welt bemalen kann und die nimmermehr abblättert."
"Dann komm mit uns, wir zeigen Dir die buntesten Flecken der Erde, die wir körperlich oder geistig zu erreichen imstande sind, mit oder ohne Hilfsmittelchen. Sei selbst der Farbklecks, den du...!"
"Nein. Ich neige dazu, mich in Graustufen zu sehen. Es erschöpft mich, erschöpft zu sein."
Die Göre drehte sich zu ihrer feiernden Gemeinschaft um und gab die merkwürdigen Worte wieder, die der Wandersmann gewählt hatte. Als sich die Gruppe besprochen hatte und ihn einladen wollte, musste sie überrascht feststellen, dass er und sein Kater spurlos verschwunden waren.

 

Wenige Tage später trat er in einer anderen Stadt wieder auf. Er saß an einem kleinen Tisch in einem abgetrennten Bereich, fernab des belebten Treibens. Auch dieses Mal gesellten sich ein paar Lustknaben und Kurtisanen zu ihm ins Séparée. Nicht nur aus geschäftlichen Interesse standen sie vor ihm und fragten ihn, wer er sei, woher er käme und ob er nicht ein wenig mit ihnen verkehren möge. Auch sie mussten vergeblich auf eine Antwort warten, während der weiche Kater sie genau beobachtete und den Wandersmann vor Berührung beschützte. Eine der Kurtisanen vermutete eine anständige Schüchternheit hinter seinem Verhalten und fragte freundlich:
"Können wir Dir irgendwie helfen? Benötigst Du irgendetwas?"

Der Wandersmann kramte in seiner Tasche. Dann vermochte er es, ihr ohne Blickkontakt zu antworten und es schien, dass er sich eigentlich weiterhin seinem dampfenden Lachsbraten widmen würde, aber ganz leise war seine gedämpfte Stimme in ihrem Ohr zu vernehmen:
"Gib mir ein leichtes Herz wie kein anderes, das in mir für andere und das Leben schlägt."
"Da bist Du hier doch genau an der richtigen Adresse, junger Mann! Hier findest Du alles, was das Herz begehrt, wenn Du verstehst, was ich meine. Lass Deinen Körper sprechen..."
"Nein. Ich neige dazu, den Körper als Ballast zu vernehmen. Es ermüdet mich, müde zu sein."
Die Kurtisane drehte sich zu ihrer wartenden Gemeinschaft um und gab die komischen Worte wieder, die der Wandersmann gewählt hatte. Als sich die Gruppe besprochen hatte und ihn von einem gemeinsamen Abenteuer überzeugen wollte, musste sie überrascht feststellen, dass er und sein Kater spurlos verschwunden waren.

 

Ein paar Tage später trat er in einem anderen Weiler wieder auf. Er saß an einem düsteren Tisch hinter einem dicken Holzbalken, fernab der arbeitenden Bevölkerung, die das Ende des mühseligen Arbeitstages mit einem deftigen Mahl zu feiern gedachte. Auch dieses Mal gesellten sich ein paar Kerle und Jungfern zu ihm in den Hintergrund. Aus Freude an der Geselligkeit standen sie vor ihm und fragten ihn, wer er sei, woher er käme und ob er nicht ein wenig mit ihnen Karten spielen möge. Auch sie mussten vergeblich auf eine Antwort warten, während der fluffige Kater sie andächtig beobachtete und den Wandersmann vor Behelligung beschützte. Eine der adretten Jungfern, die beim Ausschank mithalf, ging wie selbstverständlich auf ihn zu und fragte zuvorkommend:

"Können wir Dir irgendwie helfen? Benötigst Du irgendetwas?"

Der Wandersmann kramte in seiner Tasche. Dann vermochte er es, ihr ohne Blickkontakt zu antworten und es schien, dass er sich eigentlich weiterhin seinem dampfenden Bohneneintopf widmen würde, aber ganz leise war seine raue Stimme in ihrem Ohr zu vernehmen:
"Gib mir ein Feuer wie kein anderes, das in mir die Nacht durchbricht und unauslöschlich Funken schlägt."
"Nun, ich kann Dir für deinen Heimweg gerne eine Fackel von der Wand mitgeben, junger Herr, die Dir ein wenig Licht zu spenden vermag. Aber möchtest Du nicht..."
"Nein. Ich neige dazu, dass es unter meinem Schirm regnet und der Regen mir folgt. Es kränkt mich, krank zu sein."
Die Jungfer drehte sich zu ihrer bekannten Gemeinschaft um und gab die seltsamen Worte wieder, die der Wandersmann gewählt hatte. Als sich die Gruppe besprochen hatte und ihn näher kennenlernen wollte, musste sie überrascht feststellen, dass er und sein Kater spurlos verschwunden waren.

 

In dieser Art und Weise tauchte der junge Wandersmann stets an irgendwelchen Orten auf, deren Vielzahl und Besonderheiten er alsbald wieder vergaß. Die Männer und Frauen, die ihn getroffen hatten, erinnerten sich jedoch noch lange, doch niemals kam der Wandersmann zurück. Und wenn er nicht gestorben ist, dann sucht er noch heute.

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