Memoiren eines Händlers

Ich bemerkte es sofort, als ich meine Heimatsiedlung erreichte. Etwas war anders. Etwas lag in der Luft, obwohl die Atmosphäre eigentlich altbekannt war: Eine Mischung aus dampfendem Mist, gebratenem Fleisch und Schmiedeeisen. Ich hatte genau diese Aura erwartet, roch sie doch für mich gleichzeitig nach Familie, Ruhe, Geborgenheit und Sesshaftigkeit.

 

Allerdings erwartete mich das genaue Gegenteil.

Lauchheim war, was sich schon ziemlich exakt aus der altertümlichen Namenskombination, konstituiert aus primärem Landwirtschaftserzeugnis und des in diesen Breiten geläufigen Suffix ablesen ließ, ein minimal zivilisiertes und bewohntes Dorf wie so viele andere, die ich auf meinen langen Handelsreisen kennengelernt hatte. Und doch besaß es seinen eigenen herzerwärmenden Charme und kernigen Charakter.                                                                                                            Zumindest für einen Einheimischen, und wahrscheinlich sagt das jeder Einheimische über sein originäres Zuhause.

 

Ein paar modrige Hütten, die sich in den letzten Jahren fast das neumodische Gütesiegel eines Hauses – was auch immer der genaue Unterschied sein mochte, konnte ich häufig nicht wirklich erkennen, es klang aber jedenfalls edler und teurer – verdient hatten, standen nah beieinander, in geordneter Abfolge, das ganze Dorf eine Nachbarschaft. Es stimmte, Lauchheim entwickelte sich durchaus, der Fortschritt erblühte wie der einheimische Bio-Lauch im September, perfekt zur nahenden Winter- und Eintopfzeit des Jahres. Aber im Vergleich zu vielen anderen Orten, Burgen, Tempeln und vor allem nicht-menschlichen Habitaten – ich rede hier von zwergischen Berganlagen, elfischen Waldsiedlungen und anderen Heimathäfen menschenähnlicher Wesen – wirkte Lauchheim dann doch relativ primitiv und spießig.

Keine kunstvollen Verzierungen, keine architektonischen Meisterwerke, keine funktionierenden Abortanlagen.

 

Um die Hütten herum wucherte der Wald und das hohe Gras – natürlich relativ düster und dicht, nur so strotzend vor Fauna, Flora und Fährnissen –, die namensgebenden Lauchplantagen und ein paar wenige Viehanlagen, mit gleichgültig dreinblickenden Kühen, die gemächlich ihre Halme mampften und munteren, sich im eigenen Dreck suhlenden Schweinchen. Ein Flüsschen plätscherte mit einer monotonen Gemütlichkeit quer hindurch, passte sich in der Geschwindigkeit den Bewohnern des Örtchens aus Verbundenheit an. Klingt auf Anhieb womöglich wenig spannend, aber genau das machte den Reiz für mich aus: Wenn ich von meinen zeitlich und körperlich anspruchsvollen Reisen zurückkehrte, dreckig, müde und versifft – dann lobte ich mir den heimatlichen Ruhepol, das Gefühl des Heimkommens.

 

Mein Name ist übrigens Kai Burens, und ich bin Händler. Meine Mutter hatte mich in Lauchheim unter Qualen ins Leben rutschen lassen, unter dem Beistand des alten Schmiedes mit seinen wuchtigen schwarzen und vernarbten Händen, als nebenberufliche Hebamme. Ja, der Schmied, bei uns aus Tradition mit besonderem Rufe ausgestattet, galt schon immer als der Mann für alles, vielseitig einsetzbar, egal ob für die Herstellung von Besteck, Mistgabeln und Waffen oder administrativen Aufgaben wie Streitschlichtungen und Abtreibungen jeglicher Art.

Und genau hier in Lauchheim werde ich auch wieder das Zeitliche segnen, wahrscheinlich ebenso unter bestialischen Qualen, und der bis dahin neu eingesetzte allmächtige Dorfschmied wird mich im Moor verscharren oder mich als Leiche aus eben diesem ziehen, um im Stile eines offiziellen Ausrufers des Sensenmannes meinen Tod festzustellen, nur um mich dann wieder langsam absinken zu lassen.

Davon gehe ich fest aus.

 

Sicher, das Händlerleben war zwar hart, aber auch zeitweise äußerst lukrativ – und definitiv hätte ich mir ein Leben in einem der nächstgelegenen Städtchen leisten können. Aber ich verspürte irgendwie nie den Drang dazu, ist für einen Außenstehenden wohl kaum zu verstehen. Dieses mickrige, ja meinetwegen elendige Dörfchen ist und war meine Heimat, meine Ankunft hier immer eine absolute Wonne, pulssenkend und mit einem wohlig-warmen Gefühl in der Magengegend.

Diese Wärme wurde an diesem Nachmittag jedoch zu einer wahrhaftigen Hitze. Was schon deshalb verwunderte, da der Tag bisher einem durchschnittlich bis frühlingshaften Moment im März glich. Eine Begründung fand ich jedoch: Etwas brannte. Nein, besser: Etwas brannte aus. Die dümpelnde Dorfgemeinschaft hatte in einem Anflug panischer Hysterie bereits die lodernden Flammen bekämpft. Sogar erfolgreich. Aber eben viel zu spät. Was noch übrig geblieben ist, ähnelte mit sehr viel Wohlwollen einer Baracke. Schlimmer: Meiner Baracke.

 

Ein Gefühl matter Erschlaffung überrumpelte mich, eine Mischung aus verzweifelter Aggression, die sich gleichwohl nicht gegen die einschüchternde Resignation durchsetzen konnte. Brennende Hütten – vielleicht war die Feuerfestigkeit der Unterschied zu diesen neuzeitlichen Häusern? – erlebte man nun definitiv nicht selten, egal ob in Lauchheim und anderswo. Blitzeinschläge, Funkenflüge, Drachen- oder Berggoblinangriffe, brandschatzende Banditenbanden, mit dem Feuer unter dem Suppenbottich spielende Kinder, während die eigene Mutter sich heimlich im Schober mit dem nun volljährigen adretten Knecht des Nachbarhofes vergnügte (und ein paar Wochen später aufgrund dessen einen Termin beim Schmied ersuchte, unterdessen der Vierzehnjährige im Anschluss, gefangen zwischen Stolz und Scham, mit geröteten Wangen umherspazierte) – ja, all dies hätten plausible Ursachen sein können, und sie wären es beileibe nicht zum ersten Mal gewesen.

 

Die Ruine dampfte angestrengt, ich hörte erste zurückhaltende, vorsichtige Schritte hinter mir. Wer war der Glückliche, der Auserwählte, welcher mir mitteilen durfte, was ich bereits mit eigenen Augen gesehen hatte?

Bisher glich mein Leben einer ordentlich befestigen Straße (ja, so etwas existierte tatsächlich, ich hatte auf einer meiner Reisen mal eine betreten dürfen, allerdings nur gegen hohe Passiergebühren) durch die Prärie, ich kam voran, langsam, aber sicher. Immer geradeaus, kaum Überraschungen, solide, aber eben unspektakulär. Allweil bemängelten dies jedenfalls die abenteuerlustigen Heroen unserer Sippe und spotteten, gleichsam sie meist kurz danach unter den präzisen Felswürfen von miesepetrigen Steingolems zerbarsten oder von bissigen Harpyien in Stücke gerissen wurden. Wie heroisch. Na, da versinke ich doch lieber im Moor.                                    

Diese Menge an verbrannter, noch glimmender Holzkohle vor meinen ungläubigen Augen ließ sich jetzt aber gleichsetzen mit einem unliebsamen Schlenker über holprige Wald- und Wiesenwege, anschließendem Kontrollverlust und einem gigantischen Zusammenprall mit einer Kiefer oder einem grummeligen Braunbären in der Brunftzeit. Nein, danke.

 

Jedenfalls, der Bürgermeister war es, der da langsam tapsend auf mich zu trottete, auch wenn seine Berufsbezeichnung ein wenig überheblich anmutete, schließlich hatten wir nicht den Intellekt und die Rechte von echten Stadtbewohnern und wer sich Meister schimpfte, hatte normalerweise einen besonderen Rang in einer Handwerksgilde erlangt. Der „wortkarge, überforderte Vorsteher unserer kleinen Gemeinschaft mitten im Wald“, das würde sein Amt eher präzisieren, denn als ein Meister seines Faches konnte er bei aller Liebe ebenso wenig bezeichnet werden.

Eher Mitleid hatte ihm seine erste und letzte Amtszeit beschert, wurden doch seine beiden reizenden Töchter neulich von Sumpfghulen verschleppt. Zumindest bekundete dies der Schmied, nach eigens geführten Ermittlungen. Die Beförderung zum Vorsteher sollte ihn, den trauernden Vater, anspornen und rehabilitieren, schließlich könnte er ja durch kluge Maßnahmen tragische Ereignisse wie die eigens erlebten in Zukunft verhindern, damit präventive Rache verüben. Dieser Plan ging nicht zur Gänze auf, er verwaltete lieber, entschied nichts, hatte keine Ideen, typischer Fall von Berufspolitiker. Oder er wusste einfach nicht, was das Wort präventiv bedeutete.

 

Nun, zumindest formulierte er gerade halbwegs routiniert die üblichen Mit- und Beileidsfloskeln, die schon seit Jahrhunderten keiner mehr ernst genommen hatte, weil man sie im Standardrepertoire zu weit oben positioniert hatte. Gleichermaßen wie „Gesundheit!“, „Guten Appetit“ und „Hallo“. Reflexartige, aber leere Worthülsen ohne Inhalt.

Auch die hohe Frequenz dieser Floskeln milderte ihre Wirkung. Tragödien waren aktuell an der Tagesordnung, erst letzte Woche messerten sich zwei Mitglieder einer fahrenden, kriminellen Gang nach durchzechter Nacht und verlorenem Kartenspiel unter johlenden Anfeuerungsrufen dreier bekannter Lauchheimer Saufnasen in der Dorfkneipe, bis sich die beiden glatzköpfigen Söldner spontan entschieden, statt einander doch lieber die drei johlenden Saufnasen abzumurksen. Pech.

Der Inhalt seiner genuschelten Rede, falls es ihn doch noch gab, flog an mir vorbei. Keine Ahnung, ob es ihm egal oder er einfach gelangweilt war, es schien unmöglich, ihn richtig zu verstehen. Zusätzlich befand ich mich in Gedanken, also weit weg, ließ mein Leben Revue passieren, als läge ich auf dem Sterbebett, als würden die Fänge des Moors mich langsam in Richtung Schwärze ziehen.

 

Dabei war lediglich meine Frau gestorben. Das zumindest hatte  ich aufgeschnappt, zusätzlich zu willkürlich eingesammelten Wörtern wie „Plünderer“ und „Brandstiftung“. Ergänzend noch die Bemerkung „weiß auch nicht so genau, wie das keiner zur Kenntnis nehmen konnte, so am helllichten Tag". Selbst beim Aufschreiben dieser Erinnerung muss ich seufzen. Da bleibt wohl nur eines zu sagen: Willkommen in Lauchheim und seinen blitzgescheiten Bewohnern.

 

Was ich mich aber wirklich frage, so bei der Rekapitulation meines ersten Eintrages: Woher stammt eigentlich meine unaufhörliche Todesphantasie mit dem Moor? Vielleicht sollte ich dieser Angelegenheit irgendwann einmal auf den Grund gehen.

Wortspiel Ende.

 

***

 

Kurzes Resümee:

 

Ich hatte nicht nur mein Hab und Gut verloren – wobei ich mein Erspartes glücklicherweise und in leiser Vorahnung auf vertrauenswürdige Banken im nahen Umland, die in, das glaube ich zumindest, diesen hitzebeständigen Häusern betrieben wurden, verteilt hatte und mein wertvoller materieller Besitztum sich von Haus aus einigermaßen in Grenzen hielt – sondern auch mein geliebtes Weib.

 

Kleine Ergänzung: Mein, auch das glaube ich zu wissen, hoffentlich mit meiner eigenen Brut schwangeres Weib (der Schmied hatte schon vergebens klingelnde Kasse gewittert), welches sich all die Zeit so aufopferungsvoll um unsere triste Hütte und unser staubiges Ackerland gekümmert hatte, immerzu mit der fesselnden Furcht im Nacken, dass mir auf einer meiner Handelsreisen etwas zugestoßen sein könnte. Nun ist ausgerechnet ihr etwas zugestoßen.

 

Sie war eine großartige Frau, Geliebte, Magd – und sie wäre auch eine fantastische Mutter gewesen, da bin ich mir sicher. In ihr steckte so viel Liebe, die nur erwidert werden musste, merkwürdig, dass sie dann ausgerechnet so einen kühlen, rationalen Kopf wie mich zu ihrem Gemahl gemacht hatte. In einer feinen, kleinen Zeremonie, nebenbei bemerkt, geleitet vom altbekannten, pastoral geschulten und gekleideten Schmied.

Womöglich sogar genau deshalb: Ich konnte ihr die nötige Ruhe in ihrer inneren emotionalen Zerrissenheit und Unrast vermitteln, ich musste nur hier sein, sie halten und wärmen, und sofort verschwand ihr neuronales Chaos, einem schwarzen Loch gleichend, in ihrem hübschen Hinterkopf und ließ sie für einige Augenblicke durchatmen. Ich weiß wirklich nicht, wie sie es mit sich und den Umständen ausgehalten hatte, wenn ich nicht anwesend war – und das kam ja nicht gerade selten vor.                                                                                                                                                                                                                                     

Und wenn ich körperlich mal präsent schien, dann häufig nicht geistig. Flugs beschäftigte ich mich wieder mit der Planung meiner Memoiren, der nächsten Handelsroute und den allmonatlichen Preiserhöhungen aufgrund erfundener steigender Lieferantenkosten und Produktionspreise.

 

Falls ihr euch noch immer wundert und die Stirn runzelt, meine werten Leser – ich denke, die männliche Form reicht hier aus, der Weiblichkeit steht die Tätigkeit des Lesens in unseren gemäßigten Breiten noch eher selten zu, wir sind ja schließlich zum Glück keine intellektuellen, emanzipierten Elfen – ja, der Schmied besaß bei uns sogar die Lizenz zum Verheiraten. Woher diese Tradition stammte, bleibt mir auch heute schleierhaft; womöglich, weil er die Ringe selbst fertigte, er die meisten Einwohner sehr persönlich kannte – vor allem die des weiblichen Geschlechtes – oder er einfach als einer der rhetorisch versiertesten Menschen in Lauchheim galt, hatte er schließlich ständig mit Sonderwünschen, Reklamationen, Fehden und Zulieferern verbal umzugehen, ganz ähnlich meiner Wenigkeit. Da fragt man sich vereinzelt, warum man überhaupt einen Bürgermeister in diesem Dorf brauchte, wenn man doch einen universellen Schmied in Amt und Würden vorweisen konnte.

 

Worauf ich eigentlich hinaus wollte: Viele der anderen Dörfer oder sogar Städte, entgegen ihrer selbst verliehenen Titel des Fortschritts und der Modernität, hatten für solch existenzialistische Prozedere wie Geburt, Heirat und Begräbnis – hier umgangssprachlich und entsetzlicherweise Besäufnis genannt, weil weniger beliebte Leichname schlicht ins Moor zum Absaufen geworfen werden und die Menge dieses Schauspiel mit alkoholisch-blubbernden Getränken gierig und würdelos feiert – eigene Priester, mit ulkigen Roben, merkwürdigen Schriftstücken aus güldener Handschrift und erfundenen Pamphleten ausgestattet, die die weniger Geistreichen der Bevölkerung zu beeinflussen, zu manipulieren und zufrieden zu stellen versuchten. Auch viele frühere Generationen Lauchheims hatten diese getarnten Trauerbegleiter nichtsahnend angestellt, bis einige sensible Nachforschungen eines überraschend detektivisch veranlagten Schmiedes einen notorischen Missbrauch des geweihten Nachwuchses aufdeckten.                                                                          Der Geistliche und seine selbstherrliche Kirche wurden konsequenterweise auf alle Zeit aus Lauchheim verbannt – sehr vernünftig, wie ich noch immer finde, gerade, wenn man die widerwärtigen Meldungen aus allen Winkeln der Welt rezipiert, die beispielsweise grausame Hexenverfolgungen bezeugen. Ob man die befleckten Kinder, die nun wirklich genug gelitten hatten, wirklich hätte verbrennen müssen, um den „Schmutz der Religion“ endgültig aus Lauchheim zu vertreiben, bleibt dagegen unklar. Vor allem, weil der schmackhafte Duft der brutzelnden Bälger ein sabberndes Rudel Wölfe anlockte, die sich zum Nachtisch noch zwei unbeteiligte Säuglinge von den Holzbänken der aufgestellten Versammlungs- und Zeremonietische rissen.

 

Aber gut, zurück zum meinem Weibe:    

Schnulzen gehen mir an die Nieren, wirklich, von Kitsch bekomme ich Ausschlag am Hintern – aber ihr vorzeitiges Ableben brach mir dann doch das Herz. Nicht üblich für Beziehungen in unseren Zeiten, meist nahm ein Ehepartner das Schicksal des Anderen in die eigene, vor Wut geballte Hand.

Besonders traurig stellte es sich in meinem Falle deshalb dar, weil es eines harten, langwierigen Kampfes benötigt hatte, ehe das zustande kam, was schon ewig vorherbestimmt schien und nur entdeckt werden musste: Das ungelogen prächtigste Pärchen der Welt, beziehungsweise das meiner Welt. Und damit das Lauchheims. Vor vielen Jahren hatten wir uns kennengelernt, es hatte geknistert, aber nie genug, als dass es über den Status guter Freunde hinausgehen konnte. Danach haben wir uns aus den Augen verloren, ich aufgrund meiner strapaziösen Händlerreisen oft unterwegs, sie hatte als Gehilfin in wechselnden Städtchen zu arbeiten. Also, Frauen und arbeiten natürlich in imaginäre Anführungszeichen gesetzt.

Der anfangs rege Briefkontakt hatte darunter zu leiden, wurde seltener und langwieriger, beide Puzzlestücke lebten nun ihr eigenes Leben, für das jeweils andere fand sich kein Platz. Aber anders als zu vielen anderen Freunden und Bekannten der Jugendzeit brach der Kontakt, meist aufgrund von Reisen, vor-schnellen Toden, mangels Schreibfähigkeit oder ausreichend Kronen für Briefpapier und Versand, nie vollständig ab. In unregelmäßigen Abständen haben wir uns Briefe geschrieben, die alte Verbundenheit im Geiste flackerte weiter, humorige Themen, schöne Momente und Erinnerungen an zusammen aus-geführte Streiche ließen uns die räumliche Distanz kurzzeitig vergessen machen, auf Papier eine gemeinsame Parallelwelt zum eigentlich geführten Leben ohne einander.

Dennoch bahnte sich da noch lange nichts Erotisches oder gar Amouröses an. Nur das Wissen, einen Seelenverwandten in dieser seelenlosen Welt zu haben, hatte diese dämliche Kindergarten-Brieffreundschaft bereits zu etwas Besonderem werden lassen.

 

Ich erzähle die folgenden Ereignisse nun so gefühlsecht, als wären sie gestern gewesen, daher verzichte ich auf mühselige Perfekt-Konstruktionen und bleibe daher dem plauderhaften Präteritum treu, so, wie ich meiner Frau treugeblieben bin.

Irgendwann, ohne jede Vorwarnung, trafen wir uns wieder. Sie schuftete an demselben Ort, den ich aus händlerischen Erfordernissen heraus ein paar Tage besuchen musste. Nach einer ersten zufälligen Begegnung sahen wir uns jede freie Minute, lachten gemeinsam und genossen erneut die Erinnerungen an alte, unbekümmertere Tage, dieses Mal im direkten Kontakt. Doch wir beide hatten Angst, mit einem Geständnis der unausgesprochenen Liebe, des wilden Verlangens, unsere Freundschaft komplizierter zu machen als nötig oder gar zu zerstören.

Zum Glück wurde für solche Fälle Bier in der angesagtesten Zwergentaverne des mittelgroßen Städtchens ausgeschenkt. Nach mehreren Humpen schäumenden Gerstensaftes rutschte mir – beiläufig, aber doch aus Kalkül – etwas heraus, eigentlich eher witzig gemeint, wie man das eben so tut, man verpackt Wahrheiten in Form von Späßchen, wie ein Bonbon aus Wurst, um sich heranzutasten, und wie es einem eben widerfährt, wenn der Alkohol sich stetig und unaufhaltsam die Kontrolle über das Sprachzentrum, das sexuelle Verlangen und das emotionale Zentrum erkämpft. Ich erhielt positive Rückmeldung auf mein Verhalten, der verkleidete Spaß wurde reflektiert und angenommen.

Dann, logische Folge, überkam es mich: Ich legte die Karten auf den Tisch, ohne Hemmungen, ohne Rücksicht, All-in. Wir spielten eine Runde Mau-Mau, ein Spieleklassiker aus alten gemeinsamen Tagen, eine wahre Gaudi, immerhin für uns beide. Wir dramatisierten und kommentierten unsere Spielzüge wie der Barde die königlichen Reitturniere, hatten Spaß am Gewöhnlichen – und es zeigte sich ganz offenbar, farbenprächtig durch die dunstige Luft der dunklen urig-brachialen Taverne, glasklar durch die neblige, alkoholbedingt verschwommene Sicht, exakt zu verstehen durch die fidel-wuchtigen Gesänge der zechenden Zwerge hindurch: Wir konnten nicht wieder getrennte Wege gehen, auf keinen Fall. Nie und nimmer!

Im Übermut des dritten Sieges in Folge beim Kartenspiel, aufgrund einen clever eingesetzten Herz-Buben (natürlich!), offenbarte ich mich ihr. Sie wirkte erst extrem geschockt, dann verunsichert, dann wieder geschockt – und ging. Ging wortlos, stellt euch das mal vor!

 

Zwei Tage später, ich bepackte meine beiden Pferde, meine Mission hier war erfüllt, schüttelte einem befreundeten Händlerkollegen, der sich häufiger ein wenig leichtgläubig mit mir auf den ein oder anderen Deal einließ, die Hand, wollte mich gerade halbwegs galant oder sagen wir zumindest souverän auf den Rücken meines Lieblingsgaules Störtebeker schwingen – da kam sie auf mich zu, wieder einmal aus dem Nichts.

Mit zwei gefüllten Lumpensäcken, fünflagig angezogen wie eine gutaussehende Zwiebel, und dazu noch Handgepäck. Sie schaute mich an, sagte nichts, bis ich strahlend auf sie zuging. Ich drückte sie an mich, sie ließ alles, was sie getragen hatte, fallen, und wir gaben uns hin. Endlich.

Der ganze Rest ist schnell erzählt. Wir sattelten dementsprechend das zweite Pferd Möwe und ritten zurück nach Lauchheim. Ja, ich besaß übrigens zwei Pferde statt eines typischen Händlerwagens, wie man ihn landläufig so kennen mag, mir war die höhere Mobilitäts- und Flexibilitätsrate einfach lieber, außerdem besaß ich große, lederne Satteltaschen, in denen ich meine eher kleinen Waren auch so fein säuberlich sortieren konnte.        

 

Sie zog also bei mir ein, verabschiedete sich von ihrer alten Arbeit und wurde standesgemäß zur Hausfrau und zur Bespaßerin meines Geistes, meines Magens und meiner Lenden – alles äußerst erfolgreich, so viel sei gesagt. Ihre Kochkünste hatte sie sich bei ihren Gelegenheitsanstellungen in diversen Schänken und Etablissements angeeignet, ihre Techniken und Erfahrungen im Liebesspiel vermutlich in gleicher Weise – ich habe mich allerdings nie getraut, zu fragen. In dieser Hinsicht bin ich doch etwas sensibel.

Es fühlte sich bereits nach einer Woche an, als würden wir schon ewig zusammenleben. Nicht falsch verstehen, nicht etwa langweilig und eintönig, wie man das nach vielen Jahren Ehe kennt und was die hohe innerfamiliäre Mordrate erklären könnte, sondern einfach Hand in Hand, in jeglicher Angelegenheit. Sie mochte das überschaubare Dörfchen, vermutlich, weil sie gebürtig aus einem noch kleineren Fleckchen Erde stammte, ich mochte sie deshalb noch mehr, sie hatte keine allzu hohen Erwartungen – kam mir ebenfalls gelegen –  und wirkte rundum zufrieden. Sie war wie ich, nur in weiblich, und mir deshalb so nahe. Eine perfekte Symbiose aus Witz, Gelassenheit und optischer Unvollkommenheit.

Letzteres meine ich nicht so derb, wie es sich möglicherweise im ersten Augenblick anhören mag. Mir erschienen die Mädchen, die sich stundenlang aufhübschten, um danach unattraktiver auszusehen als vorher, schon immer paradox. In Hurenhäusern und am Hofe, meinetwegen, aber im echten Leben? Wenn mein Weib aber in Alltagskleidung hinreißend aussieht, einfach nur, wie sie verschlafen da steht – das ist das Entscheidende. Es bedurfte keinerlei ekelhafter Schminke aus irgendeinem Kräutergemisch eines verbitterten Krämers, und keine überteuerten Kleider von irgendwelchen angesagten fernöstlichen Schneidern, die nicht zu ihrer Figur, ihrer Art und ihrem Portemonnaie passten. Sie brauchte nur sich selbst, mich und uns.

 

Nun, das war einmal. Ich setzte mich auf einen Felsen in der Nähe, betrachtete das Werk des Feuerteufels und genoss die Ruhe, das zarte Knacken der Kohle. Ich wusste nicht, ob ich den Bürgermeister weggeschickt hatte oder er von allein gegangen war, als er mich gedankenverloren und wie einen Untoten, wie eine Salzsäule, da herumstehen sah. War mir ehrlicherweise aber auch nicht wichtig, ich hatte nun definitiv andere Sorgen.

 

Bleibt die Frage, warum ausgerechnet irgendjemand meine Hütte abgebrannt hatte. Große materielle Schätze? Keinerlei vorhanden. Vergewaltigung meiner durchaus sinnlichen Frau? Wenn es denn sein muss, aber warum dann gleich die Bude abfackeln?  Und wieso nur eine Hütte, wieso nicht das ganze Dorf marodieren, wenn die versammelte habgierige Plünderschar schon einmal den beschwerlichen Weg nach Lauchheim auf sich genommen hatte?

 

Und, weitergesponnen: Weshalb überhaupt gerade hier hin? Es wären jedenfalls mehr als genug andere größere oder reichere Orte vorhanden gewesen, die man hätte attackieren und ausnehmen können.      

Rätselhaft.

 

***

 

Ich greife den erklärungssuchenden Gedanken nochmals auf: Wie kam eine Bande tollwütiger Verbrecher ausgerechnet auf die Idee, bei mir einzubrechen, zu morden, zu zündeln und möglicherweise zu rauben? Und falls sie dieser seltsame Gedankengang in der Tat heimsuchte, dann hoffentlich nicht in dieser Reihenfolge – ich kann mich einfach nicht in die Rolle eines Räubers hineinversetzen, dessen Lebensstil mir derart zuwiderläuft. Aber verbessern konnte ich die letzten Zeilen auch nicht, schließlich verfasse ich meine Memoiren mit Eisengallustinte auf Pergament. Klassisches Dilemma.

 

Egal: Okay, mein Lebensstandard ließ mich nun definitiv nicht betteln, aber mich zu bestehlen konnte nun auch nicht als der große Coup schlechthin gelten. Mussten Jungbanditen eine Ausbildung durchlaufen, konnte das so eine Art Zwischen- oder Abschlussprüfung gewesen sein? Oder hatten die Banditen allein daran Freude empfunden, mich seelisch abzuwracken und mein Leben zu zerstören? Soll ja auch Täter geben, die allein aus diesen psychologischen Motiven heraus ihr schändliches Handwerk vollführen.

 

Überflüssiges Geld und wichtige Dokumente hatte ich, wie bereits erwähnt, außerhalb gebunkert, bei einer von Zwergen geleiteten Geldinstitutskette und einem verschlossenen Tresor meines Vertrauens. Die Zwerge besaßen wirklich ein äußerst gutes, wenn auch winziges behaartes Händchen für den Handel und den Umgang mit Geld und anderen Wertgegenständen. Ich pflegte zu einigen von ihnen professionellen Kontakt, lernte viel von ihnen in Bezug auf Redekunst und Standhaftigkeit und hatte schon einige gute Transaktionen mit Vertretern dieser Art abgewickelt. Besonders gut an Geschäften mit Zwergen gefiel mir ihre unauslöschliche Fairness, sodass eine bindende Übereinkunft unter dem Strich meist für beide Seiten positive Konsequenzen trug – und am allermeisten mochte ich den traditionellen Umtrunk nach Vertragsabschluss.

Mit einer Einschränkung: Versuchte man, sie bei den Verhandlungen über den Tisch zu ziehen oder sich zu Tische beim Zechen ungesittet gegenüber ihnen zu benehmen, konnte die Situation aber auch extrem zügig eskalieren und die Zwerge, nie alleine, sondern immer in kleinen (ha!) Grüppchen agierend, zogen blitzschnell ihre kunstvoll gefertigten und tödlich geschliffenen Äxte, Hämmer und Dolche. Klein, aber oho, diese Zwerge. Es scheint also keine Überraschung und nur logisch, dass die meisten dieser menschenähnlichen Spezies entweder in Tavernen und Schänken, in der Finanzbranche oder im Schmiedewesen arbeiteten. Diese eigentlich unterschiedlichen Berufszweige konnten sich, durch ein breites und engmaschiges Netz an (verwandtschaftlichen) Kontakten, auch durchaus zu einem allumfassenden Großgewerbe verbinden.           

 

Retour zu meiner rauchenden Baracke und der möglichen Motivation der Ganoven: Ein bisschen Schmuck meiner nun Verflossenen wäre aufzufinden gewesen, sicher, auch einige edel aussehende Bücher und Dekorationsgegenstände. Letztendlich betrieb ich ja Handel, ich erhielt Geschenke zum Dank, hatte bereits viele Gegenstände aus verschiedensten Ländereien in Besitz, tauschte sie aber meist direkt weiter, ein unentwegtes Geben und Nehmen. Auch Wirtschaftsspionage wäre hypothetisch denkbar gewesen, meine Aufzeichnungen, genauer Bestandslisten und Verhandlungsprotokolle, trug ich aber stetig bei mir, beziehungsweise Möwe übernahm das, sie agierte meist als die Sekretärin meines fahrenden Handelsdepots, ohne es zu wissen.

Eine mögliche Theorie offenbarte sich dann doch am Ende meiner Überlegungen: Bei der blassen Beute, die die Räuber nur auffinden konnten, ja, da hätte ich aus dem Frust heraus auch die Bude abgefackelt, und zwar bis auf das Fundament, falls es denn eines gab. Nur meine unschuldige Liebste, die hätten sie davor nun wirklich wieder aus ihren Fesseln befreien und fliehen lassen können, falls dies dem genauen Tathergang entsprach, so genau hatte ich den mauen Schilderungen des Bürgermeisters ja nicht folgen können. Vielleicht war ich in dieser Hinsicht aber auch schlicht wieder zu wenig kaltherzig und dachte hier erneut keineswegs wie ein Bandit im Blutrausch. Aber nun gut, jedem das Seine.

 

Beeindruckendes geschah im direkten Anschluss an mein minutenlanges Tagträumen: Jansen kam auf mich zu. Er näherte sich unbekümmert wie immer und umarmte mich kollegial, weder distanziert noch herzlich, ohne dabei meiner geruhsam qualmenden Baracke großartige Aufmerksamkeit zu schenken. Ein echtes Wunder, dass er die Flammen, den Tumult und meine Rückkehr überhaupt vernommen hatte, er galt nicht gerade als der Schnellste, weder körperlich noch im Geiste. Vermutlich hatte er erst gerade eben eine Veränderung in den Schwingungen des Dorfes registriert und wollte sich das Geschehen nun, offenkundig mehr aus Höflichkeit als aus Interesse, selbst ansehen. War ja nicht so, dass er, mein direkter Nachbar, und seine Frau Elisabeth, das funkentreibende Debakel hätten verhindern oder zumindest miterlebt haben können. Hier muss ich erneut seufzen.

Aber ich kannte beide gut genug: Sie, aufgeweckt und heiter, trieb sich vermutlich wie immer außerhalb ihrer „vier“ „Wände“ mit ihrer geselligen Mägdeclique umher, er dagegen… nun, keiner konnte je in Erfahrungen bringen, was er so den ganzen Tag anstellte, immer im Haus, scheinbar regungslos. Jedenfalls nicht die Dinge, von denen er meist großspurig erzählte, wenn er sich dann doch einmal heraustraute, denn zur Charakterbeschreibung des Jansen gehörte auch, dass er definitiv der notorischste, unverschämteste und schlechteste Lügner war, sogar in nüchternem Zustand, den ich auf meinen Reisen erblickt hatte. Und ich hatte schließlich schon „vertrauenswürdige“ Magier, „ernsthaft verliebte“ Succubi, „moderne und nicht in der Vergangenheit haftende“ Elfen, „harmlose“ Werwölfe und, am lächerlichsten und absurdesten von allen, „uneigennützige und pflegeleichte“ Weibsbilder getroffen.

Ja, man erlebte so einiges.

 

Aber ganz im Ernst, ich hatte echt keinerlei Schimmer, wie Elisabeth sich in diesem Konstrukt aus Verlegenheitsantworten, Notlügen und Selbstsucht wohlfühlen und bewegen konnte, obwohl ich sie abgesehen davon außerordentlich gut kannte und schätzte. Zu seinem Lügenbold-Syndrom gesellten sich auch noch Unzuverlässigkeit und Unpünktlichkeit – zwei absolut notwendige und unerlässliche Kerntugenden in meinen konservativen Augen karikierte er in einer so radikalen Art und Weise, dass ich mich beizeiten nur schwerlich zurückhalten konnte, ihn einfach zu ignorieren. Es überraschte mich dementsprechend keineswegs, wie und wann er sich dem Tatort näherte. Weiterhin unterschieden wir uns erheblich in der Vorliebe für Nahrung und für Freizeitgestaltung, hatten darüber hinaus differente politische Einstellungen und moralische Ansichten. Lediglich unser Geschmack hinsichtlich des weiblichen Geschlechtes konnte sich mitunter überschneiden, jedenfalls wenn wir bei der rein optischen Bewertungsebene blieben. 

Bringt man demgemäß die Analyse seines und meines Wesens auf ein knappes Fazit, so könnte man mit Fug und Recht behaupten, dass hier wohl zwei der unterschiedlichsten Menschen, die man sich nur ausmalen konnte, in diesem Ort Tür an Tür wohnten. Und seltsamerweise mochte ich ihn manchmal sogar, auf eine komische Art, vielleicht, weil er seine wöchentlichen (Lügen-)Geschichten ausnehmend gut erzählen konnte und meine Liebe zum Bier teilte, vielleicht aber auch nur aus taktischen Gründen, weil man einfach einen Menschen neben sich benötigt, der offensichtlich noch fehlerhafter zu sein scheint als man selbst, um sich daran hochziehen und damit aufwerten zu können.

In jeder Gruppe Mädchen, auch in Elisabeths Schar der lustigen Tratschweiber, lässt sich das unverkennbar graue – beziehungsweise in diesem Falle fette – Entlein identifizieren, welches die anderen, sowieso schon weißen Schwäne, unfreiwillig in einem gleißend hellen Licht präsentiert. Bleiben wir psychologisch, musste ich entlang meiner Erlebnisse und Erfahrungen zu dieser Sache allerdings auch feststellen, dass diese zumindest von außen betrachtet armen Seelen sich meist als die mental stabilsten und insgesamt zufriedensten erwiesen.

 

Auch erwähnter Nachbar Jansen wirkte, seiner mentalen Trägheit zum Trotze, glücklich, er besaß reichlich Selbstvertrauen, die er zur Genüge bei Kneipenschlägereien und sportlichen Herausforderungen imponierend zu zeigen versuchte. Daran störte mich wiederum am meisten seine leicht reizbare Art, sein Gockelgehabe, das protzige Markieren von Stärke und Männlichkeit – besonders, da es in starkem Kontrast gegenüber der Informationen stand, die ich von Elisabeth über das Privatleben der beiden zugesteckt bekommen hatte. Zwischen Kindergarten und übertriebener Zurschaustellung von Männlichkeit liegt eben oft nur ein ungemein schmaler Grat.

Dennoch: Man konnte als Unbeteiligter schnell den Eindruck gewinnen, dass Jansen nichts erschüttern konnte. Vielleicht war dies aber auch reine Fassade. Eine Fassade, außer Zweifel stabiler als die meiner Hütte, wie der traurige Aschehaufen zu meinen Füßen letztgültig kundtat.

 

Nach einigen eher mäßig informativen Wortwechseln mit Jansen wollte ich nun erste Pläne schmieden und versuchen, mein Leben langsam mit Hilfe dieser wieder in den Griff zu bekommen. Stundenlang auf der Stelle sitzen, den Kopf leicht nach links geneigt, und träumen schien mir leider einfach nicht weiter zu helfen. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie diese melancholisch bis eigenartige Szenerie für einen Außenstehenden gewirkt hatte.

Jedenfalls tat ich anschließend das, was jeder vernünftige Mann in meiner Situation unternehmen würde: Ich begab mich zur besten Schänke meines Dorfes. Diese trug witzigerweise den verwirrenden Namen „Zum langen Lauch“, sodass sie von vielen unkundigen Durchreisenden für das ansässige Freudenhaus gehalten wurde. Das ließen zumindest die zahlreichen enttäuschten Gesichter und hängenden Köpfe vermuten, die nach relativ kurzer Zeit, lautstark erregt und angesäuert, die Lokalität bereits wieder verließen.

Ich dagegen befand mich gerne dort, häufig sogar in Begleitung Jansens, ich kannte den Wirt persönlich und er mich, die Atmosphäre ließ sich als gesellig, aber unaufdringlich beschreiben, zumindest bis es jemand wagte, Jansen zu provozieren und sich der eigentlich gemütliche Schuppen daraufhin schlagartig in einen illegalen Faustkampfring verwandelte, inklusive die Tische zur Seite rücken, stolze Schlachtlieder intonieren und fliegenden Blutspritzern sowie geworfenen Gegenständen ausweichen.

Aus Mitleid und Verbundenheit gingen meine Bierhumpen heute aufs Haus, hatte sich meine entsetzliche Lage doch zügig herumgesprochen, der mir wohl gesinnte Wirt wollte mir damit etwas Gutes tun und gleichzeitig das Geschehe zumindest für den Moment vergessen machen. Im Gleichschritt zur Anzahl der Krüge bekam ich genauso viele trostspendende Klapse von ihm und anderen Bekannten auf die Schulter, aber sie bemerkten in meinem leeren, ausdruckslosen Gesicht, dass ich sonst keinerlei aufmunternde Unterhaltung oder neunmalkluge Beratung wünschte. Die meisten kannten mich gut genug und wussten genau, dass sich meine Natur eher als still beschreiben lässt und ich die ganze Chose fürs Erste mit nur einem einzigen guten Bekannten besprechen und verarbeiten wollte – dem Alkohol. 

Nach sieben – ich glaube, es waren sieben – Kelchen köstlichen Hopfentees fasste ich einen weisen, aber gewagten Entschluss: Lass‘ alles, was du nun eh nicht mehr besitzt, ruhen und zieh hinaus in die weite Welt. Den Beruf quasi zum Leben machen, ein Dasein auf Achse beziehungsweise zu Gaule, bis sich wieder ein plausibler Grund auffinden ließe, dem Streuner- und Nomadentum den Rücken zu kehren und der gewohnten Sesshaftigkeit eine zweite Chance zu geben.

Sicher, die weite Welt hörte sich in meinem nun gluckernden Kopfe ziemlich aufregend an, faktisch entsprach dies erst einmal Weinau, einem äußerst liebenswürdigen Städtchen nur wenige Meilen vom heimeligen Lauchheim entfernt, welches ich als meine erste Station auserkoren hatte. Gute Kontakte, die Größe des Ortes und die formidablen infrastrukturellen Gegebenheiten in alle Himmelsrichtungen sprachen für Weinau, ein Knotenpunkt des überregionalen Handels. Neben des namensgebenden Traubensaftes, der traditionell als preiswert, aber äußerst wirksam und schmackhaft galt. Des Weiteren befand sich dort praktischerweise eine Filiale meines bevorzugten Kreditinstitutes, welches ich nun bereits derart oft erwähnt habe und ich vermutlich dennoch keinen einzigen Taler Provision erhalten werde. Knausrige kleine Kobolde. Mit einer der Gründe, warum ihr so verzahntes Geschäftsfeld derlei brummte.

 

Es gab allerdings ein kleines Problemchen, welches ich nach dem Aufwachen gegen Nachmittag trotz lähmender Gehirnstarre und scheußlichem Geschmack im Munde mit Entsetzen feststellen konnte: Meine löblich loyalen Pferde, Möwe und Störtebeker, schienen über Nacht ausgerissen zu sein. Meine schemenhafte Erinnerung sagte mir, dass ich irgendwann nachts den Entschluss fasste, meine treuen Gefährten zu verkaufen, um mir Proviant für die kurze, aber knackige Fußreise nach Weinau beschaffen zu können und finanziell für alle Eventualitäten bis zur Ankunft gerüstet zu sein. Dass die Reise per Pferd deutlich schneller zu absolvieren gewesen wäre, wirkte für meinen betrunkenen Verstand wohl zu unkompliziert und zu wenig aufregend.

Unabhängig von der Wahrheit, die nun mal im Verborgenen lag: Ich hatte keine Reittiere mehr, aber einen satt mit güldenen Münzen gefüllten Beutel. Wer auch immer, mitten in der Nacht, das Bedürfnis besessen hatte, zwei Pferde zu erstehen und dafür ordentlich Geld einzusetzen, blieb jedoch offen.

Ich kramte in meinen Gedächtnisschubladen. Der Kopf schien den Kampf gegen den flauen Magen und die pelzige Zunge jedoch immer wieder unterbrechen zu müssen.

Ich erinnerte mich dumpf an heftige Schnapsrunden, das übliche polterig-sexistische Gerede einer Kolonne berauschter und frustrierter Männer und komischerweise bildhaft an das Auftauchen von Lina, deren exakte Berufsbezeichnung zwischen Bardin und edler Hure im Ungewissen lag. Wenn ich angeheitert war, und das kam hin und wieder vor, hatte ich häufig ein offensichtliches Faible für schöne Frauen, es fiel mir dann schwer, meine Augen abzuwenden. Was Lina betraf, nun, auch wenn ich nie im Leben etwas mir ihr angefangen hätte – Pilze würde ich schließlich auf den sumpfigen Waldwegen nach Weinau mehr als genug finden, dank der verlorenen Pferde – so ließ ich mich doch, spät nachts und in meiner inneren Auf- und Angeregtheit durch den Fusel, von ihrem unverkennbaren Zauber ein wenig anstecken, genoss ihre einstudierten Berührungen, den strahlenden Blick ihrer grün-braunen Augen und das Lächeln ihres großen, sinnlichen Mundes, mit dem sie vermutlich schon viel zu viele unartige Dinge angestellt hatte.

Und obwohl ich mich manchmal dabei erwischte, wie ich mir genau diese erotischen Szenen mit eigener Beteiligung in meiner berauschten Phantasie ausmalte, konnte ich bislang glücklicherweise immer rechtzeitig die Notbremse ziehen. Nicht, dass ihr das etwas ausgemacht hätte, „Opfer“ fand sie hier und überall nur zur Genüge, sie ließ sich mit Liierten ebenso wie mit freien Männern ein, kaum einer konnte der wilden Versuchung widerstehen. Hauptberuflich und offiziell trällerte sie übrigens altbekannte Verse und Balladen, wobei sie ihr wahres Wirkungspotenzial erst nach ihren Auftritten zu entfalten vermochte, so sagte man mir jedenfalls.

 

Von meiner angeheiterten Vorstellung während der licht-, aber keinesfalls feuerwasserlosen Stunden, früh morgens bei Sonnenaufgang in ein neues Leben zu starten, frisch und heiter, blieb kaum etwas übrig: Mit schweren Schritten schob ich mich mühsam vorwärts, der Kopf ein wahres Pulverfass. Selbst meinen klimpernden Lederbeutel betrachtete ich mit einer gewissen Abscheu, schien er mir doch unverhältnismäßig schwer für seinen üblichen und in meinem jetzigen Zustand.

Meinen restlichen Proviant, mit dem ich noch von meiner vorherigen Reise ausgestattet war, band ich mir mit der Fingerfertigkeit eines Krüppels auf den Rücken, wischte kurz den Staub von meinen ausgetretenen Schuhen und stapfte in Richtung des hölzernen Dorftores. Ein kleiner Weg schlängelte sich verspielt den angrenzenden Hügel hinauf, umrandet von einzelnen Bäumen, Zaunlatten und Äckern mit grauenvoll dreinblickenden Vogelscheuchen. Davon unbeeindruckt saßen die Raben listig um sie herum und pickten freudig im lehmigen Boden herum.

Diesen Mut und diese Finesse würde auch ich auf meiner nun folgenden Reise brauchen.

 

***

 

Als ich auf der Anhöhe, den letzten zivilisierten Vorposten vor Erreichens des düsteren Waldes, angelangte, durchströmten mich zeitgleich zwei konträre Gefühlsregungen: Freude, weil ich etliche Male hier oben gesessen und die Aussicht genossen hatte, sowie Trauer, da der Blick sich in Gänze über Lauchheim erstreckte, meine Heimat, die nun kein Zuhause mehr darstellen sollte.

 

Neben der gemütlichen Bank befand sich eine mittelgroße steinerne Statue auf einem Sockel mit verwitterter Inschrift, die einen vergangenen, multitalentierten Helden der näheren Umgebung repräsentierte und ehrte. Sein Erfolgsgeheimnis hatte darin bestanden, seine magischen Fähigkeiten und Kenntnisse auch für weltliche Angelegenheiten gekonnt einzusetzen, sodass er in überschaubarer Zeit die Besitzrechte über eine große Fläche Land erlangt hatte und nahezu an jedem erdenklichen Gewerbe beteiligt gewesen war: Als gerissener Investor, listiger Vermieter und großzügiger Kunde von Bordellen, Wirtshäusern, Handwerksläden, Museen und Marktständen, überall hatte er seine raffinierten Finger im Spiel und konnte dank seiner Zauberkraft beispielsweise an jedem Ort zur nahezu selben Zeit sein.

Aufgrund seiner visionären Ideen und seines marktwirtschaftliches Denkens, den Gebrauch von Magie noch nicht einmal hinzugezählt, vermehrten sich sowohl sein Einfluss wie auch sein Kapital stetig, obwohl er meist dezent im Hintergrund die Fäden zog, so wirkte es jedenfalls, die Kenner der Materie würden sein Engagement in der Rückschau sicherlich in anderer Weise bewerten. Kein Wunder freilich, dass er schlussendlich auch politische Macht auf sich vereinen konnte. Zumindest so lange, bis ihm sein eigenes Ego zu primär wurde und er plötzlich, in seinem mittleren Lebensabschnitt, diktatorische Wesenszüge entwickelte, statt wie zuvor freigeistiger Förderer und Unterstützer des Handels und der Künste zu sein.

Das Abziehbildchen eines vorbildlichen und galanten Helden verblasste, in einer explosiven Mischung aus Wut gegenüber seiner persönlichen Veränderung und einer historischen Epoche, in der Magie eher als verpönt und verfolgensswert galt, wurde er schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt – nur um als Märtyrer für die Zauberer des Landes als nachhaltige Kultfigur wieder aufzuerstehen. Laut ihrer Ansicht wäre er von bösen Dämonen besessen gewesen und, anstatt ihm zu helfen und ihn zu befreien, hätten die Menschen wieder einmal voreilig zu Fackel und Mistgabel gegriffen. Übrigens auch hier unter maßgeblichem Eifer der Religion und ihrer Vertreter.

Der linke Arm der rissigen Steinskulptur zeigte dabei vielsagend in Richtung Weinau, quer über das dunkle Gehölz des mich erwartenden Dörrwaldes. Auch für den eben beschriebenen Magier begann in diesem Städtchen damals ein wegweisender Lebensabschnitt, auch wenn er selbst nicht aus Lauchheim stammte.

 

Auf der einladenden alten Holzbank, die sehenswert verschnörkelte Armlehnen aus Metall zierten, im dezenten Sonnenlicht des keimenden Frühlings, saß eine Frau. Ich hielt die flache Hand an meine Stirn, um besser sehen zu können, und erkannte Elisabeth, das mir wohl bekannte Weib Jansens. Trotz meiner bereits erläuterten Unkenntnis darüber, wie sie es mit Jansen aushalten konnte, hatte ich mich mit ihr immer sensationell gut verstanden. Wir besaßen die gleiche Wellenlänge, denselben Humor und konnten stundenlang gemeinsam  nichts tun – zum Beispiel, auf dieser urigen Bank zu sitzen und die vitalisierenden Sonnenstrahlen zu genießen – ohne uns zu langweilen.

Kein Wunder, dass in Lauchheim, vor allem vor meiner Heirat, immer wieder gemunkelt wurde, dass sie und ich offenkundig eine geheime Affäre haben würden. Selbst die ausgesprochen redselige Gruppe Tratsch- und Klatschweiber des Dorfes, der Elisabeth selbst angehörte, tuschelte feixend hinter ihrem Rücken über ihr vermutetes bilaterales Liebesleben. Zugegeben, es hatte hin und wieder vereinzelte Momente gegeben, in denen es zwischen uns geknistert hatte und unsere platonischen Berührungen inniger wurden als sie es eigentlich hätten tun sollen. Aber am Ende des Tages blieben wir immer nur sehr gute Freunde, die gerne reichlich Zeit miteinander verbrachten. Es bleibt allerdings ebenso fraglich, was denn passiert wäre, wenn einer von uns den nächsten Schritt gewagt hätte. Ich weiß nicht, ob sie jemals einen Gedanken daran verschwendet hatte, mit mir anzubandeln, vor allem in den Augenblicken, in denen ihre eigene Ehe wie so häufig eher bescheiden lief, was sich erkennbar in ihrem zarten Angesicht widerspiegelte.

Mutmaßlich ging es ihr aber so wie mir: Wir beide hatten gewisse charakterliche Eigenheiten aufzuweisen, die uns in einer intimen Liebesbeziehung gestört hätten, auf der Freundschaftsebene aber noch zu tolerieren waren. Meiner Meinung nach hatte sie nun einmal ein Faible für merkwürdige Typen mit Arschlochpotenzial, auch wenn sie sich andererseits beinahe regelmäßig in meiner Anwesenheit über das egoistische Verhalten Jansens ausheulte und jemanden wie mich in solchen Situationen dann doch schätzte. Sie benötigte aber einfach das Drama, ein permanentes emotionales Ringen umeinander, den Reiz der Herausforderung, und das hätte ich ihr als harmoniesüchtiger Mensch, wie ich es eben bin, nie bieten können und wollen.

Um die hemmenden Eigenschaften noch einmal aufzugreifen: Ironischerweise mochte ich an ihr beispielsweise nicht, wie offen-herzig und charmant sie den Kontakt zu anderen Männern pflegte, das Eifersuchtspotenzial wäre folglich immens gewesen. Dabei profitierte unsere Freundschaft ja auch von diesem Charakteristikum, und ich fragte mich zumeist, wie Jansen es dergestalt gleichgültig aushalten konnte, sein Weib und mich – oder andere Männer – gemeinsam zu sehen. Und überhaupt, wie sie kokett mit ihren langen braunen Haaren, die sie meist süß geflochten auftrug, spielte, andere mit ihren tiefbraunen Rehaugen musterte und sie die Herzen der Burschen im Sturme erobern konnte.

 

Lange Rede, kurzer Sinn: Alles blieb ungefährlich, meine Frau hatte um unser gutes Verhältnis gewusst und es nach einiger Zeit akzeptieren gelernt, und ich hatte darüber hinaus ja nie wirklich beabsichtigt, Jansen oder gar mein Weib zu hintergehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die ich kennenlernen durfte, unabhängig des Geschlechtes und der Rasse, denen Treue und Monogamie so gar nicht zusagte. Vor allem die lieben Weibsbilder, so hatte ich staunend erfahren, verhielten sich in dieser Angelegenheit oftmals wenig zimperlich und hatten ein besonderes Talent dafür, ihre Liaisons gewitzt zu vertuschen.

Nichtsdestoweniger, innige Freundschaften über die Geschlechtsgrenzen hinweg, sind in der heutigen Gesellschaft noch immer als eher unüblich anzusehen. Aber deswegen, wie man an Elisabeth und mir sehen konnte, noch lange nicht unmöglich. Ich unterstützte sie, sie unterstützte mich, wir waren füreinander Seelenklempner, Motivator und Stimmungsmacher zugleich. Wir hatten uns häufig verstanden, ohne ein Wort sagen zu müssen, und deswegen überraschte es mich auch nicht, dass ich sie hier, bei unserem gewohnten Treffpunkt, auffand, und sie scheinbar ein persönliches Gespräch mit mir ersuchte.

Wie schon so viele Male zuvor, in aller Abgeschiedenheit, hier oben. Auch einer der Punkte, der die Unken aus den Teichen der Verschwörungstheorien hartnäckig fütterte, das verkrustete Umfeld konnte derlei Verhalten nicht gutheißen, weil es dies bislang nicht kannte, so ein legeres Verhältnis zwischen Mann und Frau. Anderes, Neues, wird und wurde immer mit Skepsis aufgenommen. Manchmal zu Recht, hier aber nicht.

 

Und auf diesem Hügel ließ es sich schlichtweg am besten nachdenken, philosophieren und abschalten. Nur wenige Reisende kamen vorbei, da das gemütliche Plätzchen nicht direkt am Weg, sondern etwas abseits lag, aufgrund der Büsche und Hecken für Fremde nicht auf den ersten Blick zu entdecken. Die fahrenden Händler bevorzugten davon abgesehen die schlammigen, jedoch ebenen Strecken durch das Tal, für schlendernde Fußgänger empfahl sich der Marsch über den Hügel, abseits des Trubels, aber allemal.

Elisabeths Gesicht ließ sich auch heute beeindruckend leicht lesen. Jedes einzelne Wort, jede Bewegung, jede Betonung konnte feinste Gesichtszüge ihres anmutigen Antlitzes zum Beben bringen, ihre haselnussbraunen Augen offenbarten einen Strudel aus Emotionen, alles was sie dachte und fühlte, konnte man aus ihnen heraus deuten. Jetzt gerade überwog, leicht nachzuvollziehen, die Traurigkeit, ehrliche und aufrichtige Traurigkeit. Es vermischten sich gemeinsame Erinnerungen, erhebliche Verlustängste und ein sentimentales Flehen zur Umkehr, es war sehr schwer, sie in diesem Moment nicht in den Arm zu nehmen.

In meiner berühmt-berüchtigten rationalen Herangehensweise versuchte ich die mir unliebsame emotionale Konstellation durch einen süffisanten und lockeren Plausch für beide Seiten erträglicher zu machen. Im Nachhinein vielleicht etwas taktlos, aber ich sagte etwas in die Art: „Macht doch nichts, Lisi, wir können uns ja weiterhin Briefe schreiben. Die sind dann je nach den Umständen bereits nach 8-10 Tagen zugestellt. Die fahrenden Boten hier haben geschwindigkeitstechnisch massiv zugelegt.“ Peinlich, wusste sie wie ich, dass dies nicht geschehen würde: Schließlich würde ich bis in nahe Zukunft keine feste Adresse mehr besitzen, und meistens brachte ich selbst die Post mit in unseren Ort, parallel zu meinen Waren, da die Anbindung Lauchheims an den überregionalen Informationsverkehr eher durchschnittlich ausgebaut war.

Zumal der pausbäckige, bleiche und rothaarige Junge, der auf einem in die Jahre gekommenen Esel alle drei Wochen mit einem Sack Dokumenten vorbeiritt, geistig nicht vollends auf der Höhe zu sein schien. Das war neben seiner Haarfarbe zwar nur das geringere Übel, aber der hiesige Postverkehr stand auch dank des seelenlosen Knaben immer kurz vor dem Erlahmen. 

Doch Elisabeth reagierte auf meinen verbalen Senf wie gewohnt: Mit einem kurzen, schüchternen Grinsen, welches in etwa aussagte, was ein dämlicher, aber liebenswerter Idiot ich doch sei, das aber ebenso rasch wieder aus ihrem kummervollen Porzellangesicht und hinter ihren glänzenden Kulleraugen verschwand. Wir versprachen uns flehentlich, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, auch wenn wir um die schwierige Ausgestaltung dieses Plans nur zu gut wussten. Zusätzlich erinnerte ich sie daran, dass ich, im negativen Sinne, äußerst flexibel mit meinen Plänen war – oftmals plante ich, ohne etwas umzusetzen. Möglicherweise würde mir Weinau auf die Dauer zu hektisch oder die ständige Ungewissheit direkt zu stressig werden und ich daher schneller zurückkommen, als sie ihr hübsches Haupt abwenden konnte.

 

Wieder ein kurzes Grinsen. Busserl, Kuschel, Abschied. Kurzes Innehalten.

Kuschel. Abschied. Endgültig.

Sie sah mir hinterher, wie ich unsicher, mit Knien aus Brei, den kieseligen Weg entlangging, der direkt in den mich nun langsam verschluckenden Wald führte. Markant spürte ich ihren wehmütigen Blick im Rücken, es kostete mich eine gehörige Portion Mut und Überwindung, mich nicht umzudrehen. Denn sonst wäre ich vermutlich umgekehrt.

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