Im Studium von Studierenden als realitätsfernes Halli-Galli belächelt und noch immer eher ein exotisches Element der Reformpädagogik statt Realität in Regelschulen: Der »Offene Unterricht«. Doch, wie der Zufall so will, landet man nach dem Studium an einer Montessori-Schule und muss bzw. darf diesen praktizieren.
Doch was ist »Offener Unterricht« überhaupt, woher kommt er, was will er und hält er, was er verspricht? Eine kleine Reise in die Welt der Pädagogik und Didaktik.
Der theoretische Hintergrund
Erste Vorläufer des Konzepts des »Offenen Unterrichts« entsprangen in den 1970er Jahren aus reformpädagogischen Bestrebungen: So ist zum Beispiel in der Montessori-Pädagogik die Freiarbeit maßgebliches Element der Unterrichtsgestaltung. Über die Jahre fand die Idee immer mehr theoretische Anknüpfungspunkte in Didaktik und Wissenschaft und lässt sich aktuell auch im Hinblick auf einige pädagogischen Baustellen schlüssig begründen. Die folgenden Begründungsmuster zeigen die Notwendigkeit eines pädagogischen Umdenkens, aus dem der »Offene Unterricht« als möglicher, praktischer Ansatz entspringen kann.
a) Heterogenität
Der Begriff der Heterogenität (gr. héteros + génesis = »unterschiedliche Erzeugung«), das Gegenteil von Homogenität (gr. homoios + génesis = »gleiche Erzeugung«), bezeichnet das Ergebnis eines Vergleiches auf (mindestens) ein Kriterium hin bezogen:
Leistungsmotivation | dynamisch, abhängig von Zeit, Thema etc. |
Interessen & Neigungen | |
Erwartungen... | ... an Lehrkräfte, Lerngruppe, einzelne Kinder etc. |
Soziale Kompetenzen | Umgang, Kommunikation etc. |
Sprachliche Kompetenzen | Fremdsprachen, Muttersprache etc. |
Geschlecht | Klischees, Interessen etc. |
Herkunft | Wertemuster, Traditionen etc. |
Kognitive Voraussetzungen | Vorwissen, Denkfähigkeit etc. |
Physische & psychische Voraussetzungen | Krankheiten (z.B. ADHS) etc. |
In der Schule findet sich ein besonders folgenschweres Dilemma aus alltäglicher Heterogenität (z.B. Entwicklungsgeschwindigkeit, Herkunft, Sprache etc.) und dem Versuch, zwanghaft Homogenität (z.B. gleiche Lerninhalte, gleiche Zeitvorgaben etc.) herzustellen:
Mythos »Jahrgangsklasse« |
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Mythos »vergleichbare, homogene Regelklasse« |
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Mythos »homogene soziale Herkunft« |
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Unterschiedlichkeit ist in Schule (und Gesellschaft) eigentlich absolute Normalität und sollte daher als Teil der Wirklichkeit anerkannt werden. Seit den 1980er-Jahren, im Zuge des Konstruktivismus (s.u.), schärfte die Pädagogik ihre Sinne für das Thema Heterogenität in Bezug auf die individuellen Voraussetzungen der Kinder. Anstatt eines vergeblichen Homogenisierungsprozesses sollte nun eine »Pädagogik der Vielfalt« in den Schulen angestrebt werden. Aktuell möchten Schulen jedoch weiterhin homogenisierend wirken und vermeintlich gleiche Lerngruppen schaffen, was die Verschiedenheit der Kinder schlussendlich sogar zementiert (z.B. über Beurteilungen, Selektion). Methodisch gesehen ist das klassische Unterrichtsgespräch mit starker Lehrerzentrierung nach Impuls-Reaktion-Evaluation-Schema (z.B. "Was ist 2+2?" "5." "Falsch!") weiterhin die typische Form. Individuelle Voraussetzungen spielen dabei keine Rolle, das »Lernen im Gleichschritt« steht im Fokus. Dabei wäre die Passung zwischen Lerngegenstand und Lernenden (Adaptivität), welche eine hohe diagnostische Kompetenz seitens der Lehrkräfte erfordert (z.B. für ein Angebot individuell zugeschnittener Unterstützungsimpulse), außerordentlich wichtig. Weil eine echte methodische und inhaltliche Individualisierung außerdem (nicht vorhandene) Zeit und (Personal-)Ressourcen fressen würde, wählen Schulen größtenteils den Mittelweg der Differenzierung: Hier wird gruppenspezifisch gearbeitet, d.h. die Gesamtgruppe in verschiedene Niveaustufen eingeteilt.
Wie Studien belegen, hat das Wahrnehmen von und der Umgang mit Heterogenität weder negative Auswirkungen auf die Schulleistung noch auf das Klassenklima. Leistungsschwächere können von den stärkeren Kindern profitieren, soziale Lernprozesse werden wichtiger und kulturell gemischte Klassen können automatisch zu mehr interethnischen Freundschaften und einem automatischen Abbau von Stereotypen führen. Ein Unterricht, der mit Vielfalt didaktisch und methodisch umzugehen weiß, kann also durchaus Vorteile gegenüber den handelsüblichen Modellen besitzen. Der Offene Unterricht versucht sich an dieser Idee mit all seinen Herausforderungen und Chancen.
b) Konstruktivismus
Die Lerntheorie des Konstruktivismus bezeichnet jegliches Wissen als individuelle Konstruktion, die wiederum von den individuellen Voraussetzungen der Lernenden abhängig sind. Wissen lässt sich nicht einfach passiv von einem Lehrenden übernehmen (»Trichter-Lernen«), sondern muss aktiv aufgenommen, verarbeitet und verknüpft werden. Dieser konstruktive, selbstgesteuerte Prozess der Wissensaneignung erfolgt über aktives Denken, führt zu eigenen Interpretationen und baut auf vorhandenen Denk- und Handlungsmustern (z.B. Vorwissen) auf. Ziel muss es sein, Sachverhalte zu verstehen, anstatt sie einfach reproduzieren zu können. Die Lernumgebung muss diese eigenen Konstruktionen jedoch zulassen und dazu z.B. folgende Merkmale besitzen:
Authentizität und Situiertheit |
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Multiple Kontexte |
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Sozialer Kontext |
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Freiheitsgrade |
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Rolle der Lehrkraft |
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Dieses komplexe, aber optimale Lehr-Lern-Arrangement versucht der »Offene Unterricht« auszugestalten. Die aktuelle Schulwirklichkeit produziert dagegen lediglich reproduzierbares, »träges« Fakten-Wissen, welches keine Anwendung findet bzw. in keiner Handlung mündet. Lediglich das Abfragen bzw. »Auskotzen« diverser Fakten steht im Fokus (»Bulimie-Lernen«), die rein für das System Schule Relevanz besitzen. Fächerübergreifende Fähigkeiten und Problemlöse-Kompetenzen werden nur selten vermittelt. Ebenso wenig erlangen die Kinder eine Befähigung zu verantwortungsbewusstem sowie selbstständigem Denken und Handeln.
c) Klassische Bildungstheorie
Viele Elemente der bildungstheoretischen Didaktik, die in der folgenden Tabelle aufgeführt sind, lassen sich in den Modellen des »Offenen Unterrichts« wiederfinden.
Wilhelm von Humboldt |
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Wolfgang Klafki |
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d) Lern- und Motivationspsychologie
Neben der Möglichkeit, den Lerngegenstand zu adaptieren (s.o.), ist es umgekehrt gleichfalls denkbar, die Lernenden an den Lerngegenstand anzupassen. Das gelingt über die Vermittlung von Lernstrategien, die den Lernenden eine langfristige Wissensaneignung im konstruktivistischen Sinne ermöglichen sollen. Zu den Lernstrategien zählen kognitive Strategien (zum Umgang mit Informationen), metakognitive Strategien (zur Steuerung des Lerngeschehens) und motivationale Strategien. Effektive Strategienutzer können Informationen schnell aufnehmen und weiterverarbeiten, diverse Lernstrategien flexibel und gezielt anwenden, besitzen ein breites Allgemeinwissen sowie bereichsspezifische Kenntnisse und verstehen es, ihre Kompetenzen intelligent zu verbinden.
Vor allem die Motivation bzw. Motivierung spielt bei Lernprozessen eine wichtige Rolle. Extrinsische Motivation bezeichnet die Motivierung, die von außen herbeigeführt wird (z.B. über positive Folgen wie Belohnungen oder die Vermeidung negativer Konsequenzen), während intrinsische Motivation von innen, also aus den Lernenden heraus, entsteht. Letztere ist für erfolgreiche Lernprozesse essentiell, häufig gegenstandsbezogen und von den jeweiligen Interessen geleitet. Eine intrinsisch motivierte Handlung ist der Inbegriff des selbstbestimmten Verhaltens. Für die Erhöhung intrinsischer Motivation gilt es, die motivationalen Grundbedürfnisse (Edward Deci/Richard Ryan) der Lernenden zu beachten: Autonomieerleben (Selbstständigkeit), soziale Eingebundenheit und Kompetenzerleben (Selbstwirksamkeit). Alle drei Komponenten sollten durch entsprechende Angebote gefördert werden. Lehrende sollten daher Wahlmöglichkeiten und Spielräume anbieten, Lernstrategien vermitteln, nicht kontrollierend bzw. bestrafend handeln, individuelles und unmittelbares Feedback geben, auf eine geeignete Balance zwischen Fähigkeiten und Anforderungen achten, für Transparenz und Struktur sorgen, präzise Lernziele formulieren und »höhere Ziele« (z.B. Verstehen) gegenüber »niedrigeren Zielen« (z.B. Faktenwissen) betonen.
e) Kompetenzorientierte Didaktik
Kompetenzen sind laut Franz E. Weinert "die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können". Zu den Schlüsselkompetenzen in der Schule zählen die Sachkompetenz, die Methodenkompetenz, die soziale Kompetenz (Auseinandersetzung mit anderen) sowie die personale Kompetenz (Auseinandersetzung mit sich selbst). Um Individuen gerechter zu werden, wird auf die Formulierung von für alle Lernenden gültigen Lernzielen verzichtet und individuelle Kompetenzstufen bzw. -niveaus erarbeitet. Es gilt das Ziel, dass jeder Lernende das für ihn am besten passende Bildungsziel erreicht bzw. erreichen kann. Dabei wird auf Erkenntnisse der Lernpsychologie und Vorstellungen des Konstruktivismus zurückgegriffen. Kompetenzen rücken außerdem die Anwendbarkeit des Wissens in den Fokus, was schlussendlich zu einer mündigeren Gesellschaft führen soll.
f) Neurowissenschaft (Hirnforschung)
Als lernunterstützende Elemente aus Sicht der Hirnforschung gelten Neugier, (intrinsische) Motivation, eine geeignete Anregung von außen, positive Emotionen, ausreichend Schlaf und Freiraum zur (vertieften) Übung. Daraus schlussfolgernd sollten Schulen Neugier erhalten bzw. durch selbstorganisiertes, exemplarisches Lernen fördern, eine entspannte Atmosphäre (z.B. über spielerische Lernformen) kreieren, Vorwissen durch Übungen präsent halten und eine anregende sowie störungsarme Lernumgebung schaffen. Zwischen Lehrenden und Lernenden sollte Vertrauen aufgebaut werden und eine positive Beziehung entstehen, kontinuierlich kooperatives Lernen stattfinden und (gemeinsame) Erfolgserlebnisse die intrinsische Motivation beflügeln. All diese Schlussfolgerungen in Kombination ermöglichen ein individuelles und emotional bedeutendes Lernen, weshalb offene Settings versuchen, sich an diesen zu orientieren.
Was ist eigentlich... Offener Unterricht?
Eine allgemeingültige Definition des »Offenen Unterrichts« existiert (noch) nicht, eher verschiedene Grundverständnisse, die sich aus dem theoretischen Hintergrund ableiten lassen. Über das Pro und Contra dieser fehlenden Definition wird gleichfalls diskutiert, schließlich fehlt aktuell ein »gemeinsamer Nenner« in fachlichen Diskussionen und die Qualitätssicherung/Evaluation, die Weiterentwicklung und die praktische Umsetzung gestalten sich ohne feste Begrifflichkeiten und konkrete Konzepte eher schwierig. Umgekehrt bleibt die Frage, wie sehr man eine Idee, die von Offenheit und Flexibilität lebt, wirklich durch eine fixe Definition eingrenzen sollte.
a) »Offener Unterricht« als Sammelbegriff (Wulf Wallrabenstein)
Wallrabenstein verzichtet auf eine einengende Definition, bezeichnet den »Offenen Unterricht« als Folge einer modernen, pädagogischen Haltung gegenüber den Lernenden und sieht ihn als flexiblen Sammelbegriff für verschiedene praktische Ansätze inhaltlicher, methodischer und organisatorischer Öffnung. Die moderne pädagogische Haltung zielt auf einen veränderten Umgang mit Lernenden auf der Grundlage eines aktualisierten Lernbegriffes, der die individuellen Einstellungen, Hintergründe und Möglichkeiten des Einzelnen ins Zentrum stellt. Außerdem wird Rücksicht auf die sich verändernde Lebenswelt der Lernenden (z.B. veränderte soziale Strukturen, Medienwelt, zunehmend unterschiedliche Kindheitsmuster) genommen. Prinzipiell wird der Unterricht für Vorschläge und Ideen der Lernenden geöffnet, die das Unterrichtsgeschehen interaktiver gestalten und seine Ergebnisse als eigene bzw. gemeinsame Leistung erfahrbar machen sollen. »Persönliche Lebensprobleme« und ihre Themen besitzen Vorrang vor »schulischen Problemen«, was die Bedeutsamkeit des Lernens erhöht.
Organisatorische Öffnung |
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Methodische Öffnung |
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Inhaltliche Öffnung |
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Den Lehrenden wird dabei in ihrer Unterrichtsgestaltung dieselbe Freiheit wie den Lernenden in ihrer Arbeit eingeräumt. Eine Öffnung findet außerdem nicht nur innerhalb des Klassenzimmers bzw. des Unterrichts statt, sondern soll auch die gesamte Institution Schule stärker in die außerschulische Erfahrungswelt bzw. in das Gemeinwesen integrieren (z.B. Vereine, Dorfleben, Betriebe).
b) Das Stufenmodell offenen Unterrichts (Falko Peschel)
Der ebenso bekannte wie radikale Ansatz Peschels sieht »Offenen Unterricht« als ein offenes Konzept in Theorie und Praxis, das es Lernenden erlaube, sich Wissen und Können innerhalb eines »offenen Lehrplanes« auf methodisch individuellem Weg anzueignen. Für ihn besitzt »Offener Unterricht« fünf mögliche Dimensionen:
Organisatorische Öffnung |
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Methodische Öffnung |
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Inhaltliche Öffnung |
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Soziale Öffnung |
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Persönliche Öffnung |
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Einzelne Dimensionen können dabei auf andere einwirken, es gibt also Überschneidungen. Je nach Umsetzung bzw. Akzentuierung der einzelnen Dimensionen ergeben sich in der Praxis vier Stufen der Öffnung:
Stufe 0 |
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Stufe 1 Die methodische Öffnung |
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Stufe 2 Die methodisch-inhaltliche Öffnung |
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Stufe 3 Die soziale Öffnung |
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In der schulischen Realität ist Stufe 0 am häufigsten anzutreffen. Peschel kritisiert dabei die häufige und ausschließliche Fixierung der Umsetzung auf methodisch-organisatorische Aspekte wie die Etablierung der Freiarbeit, eines Wochenplanes oder eines Projektunterrichts (s.u), die nicht mit einem autonomen Lernen gleichgesetzt werden dürften. Seiner Meinung nach beginne echte Offenheit erst ab Stufe 3 und dem »Loslassen der Kinder«, selbst Stufe 1 und 2 entsprächen lediglich einem Wandel von Lehrer- zu Materialzentriertheit.
c) Dimension der Öffnung (Thorsten Bohl/Diemut Kucharz)
Bohl und Kucharz sehen ebenfalls die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen »Offenem Unterricht« und »geöffnetem Unterricht«. Für sie ist »Offener Unterricht« eine Art geschützter Begriff, der erst ab einem bestimmten Grad an Freiheit bzw. Offenheit verwendet werden sollte. Bei »Offenem Unterricht« wird eine Selbst- und Mitbestimmung der Lernenden auf inhaltlicher und partizipativer Ebene gewährleistet, während »geöffneter Unterricht« es bei einer Selbstregulation auf organisatorisch-methodischer Ebene belässt.
Dimensionen des geöffneten Unterrichts |
Persönliche Offenheit wird hier als Grundvoraussetzung für Unterricht jeglicher Art gesehen und ist daher keine eigene Öffnungsdimension. |
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organisatorische Öffnung |
methodische Öffnung |
inhaltliche Öffnung |
politisch-partizipative Öffnung (= soziale Öffnung bei Peschel) |
Dimensionen des Offenen Unterrichts (→ Selbstbestimmung) |
Der »Quantensprung« bzw. der Übergang von einem zum anderen Konzept ist die Offenheit im inhaltlichen Bereich. Für das Erreichen eines »Offenen Unterrichts« könnte es laut den Autoren genügen, wenn Lernende Aufgaben aus einem reichhaltigen und anspruchsvollen Angebot auswählen dürften. Eine freie Themenauswahl von Seiten der Lernenden ist dafür also nicht zwingend notwendig, wenngleich zu befürworten. Das Curriculum (Bildungsplan), die Vorbereitungen auf Abschlussprüfungen und die strenge »Output-Orientierung« (x Noten bis Zeitpunkt y) machen dies in der Praxis jedoch nahezu unmöglich. Auch das künstliche Auseinanderdividieren der Inhalte in »Fächer« mit jeweiligen »Fachlehrern« erschweren fächerübergreifendes, offenes inhaltliches Lernen. Öffnungen auf methodisch-organisatorischer Ebene sind deutlich leichter umzusetzen. Von daher findet sich in Schulen logischerweise maximal »geöffneter Unterricht«.
d) Bildungskompetenzen des »Offenen Unterrichts«
Je nach Form bzw. Ausgestaltung finden womöglich Akzentuierungsverschiebungen statt. Grundsätzlich lassen sich jedoch folgende Kompetenzen formulieren:
Selbststeuerung |
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Selbstbestimmung |
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Selbstwirksamkeit |
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Demokratisierung |
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Sozialisation |
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Unterrichtskonzepte innerhalb des »Offenen Unterrichts«
Das Begriffsverständnis einzelner Konzepte innerhalb des »Offenen Unterrichts« ist weitaus präziser als die Definition des »Offenen Unterrichts« an sich. Die Zugehörigkeit folgender Konzepte zum »Offenen Unterricht« ergibt sich v.a. durch größere Wahlmöglichkeiten bzw. Freiheiten der Lernenden. In der praktischen Umsetzung finden sich viele Mischformen aus den unten vorgestellten Konzepten, die unterschiedliche Komponenten/Elemente (Input-Phasen, Freiarbeitsphasen, Wochenpläne etc.) mixen und/oder verschiedene Schwerpunkte (z.B. Differenzierung vs. Individualisierung, theoretische vs. praktische Beschäftigung) setzen.
a) Wochenplanarbeit
Das Konzept wurde ursprünglich rein für die Grundschule entwickelt und stellt einen Kompromiss zwischen Planung der Lerninhalte durch die Lehrenden und möglichst selbstständiger Arbeitsorganisation der Lernenden dar. Die Lehrkraft gibt also die Arbeitsaufträge (Pflicht- und Wahlaufgaben) und den Zeitrahmen vor, die Lernenden entscheiden über die Reihenfolge, das Arbeitstempo, den Raum, den Zeitpunkt der Auseinandersetzung und die Sozialform. Es findet dementsprechend eine Öffnung auf methodisch-organisatorischer Ebene, aber nicht auf inhaltlicher Ebene statt. Während der Arbeitszeit tritt die Lehrkraft als Berater und Beobachter auf, die je nach Bedarf gezielt hilft, fördert und unterstützt. Weiterhin ist es möglich, (quantitativ und/oder qualitativ) differenzierte bzw. individuelle Wochenpläne zu erstellen, um verschiedenen Niveaus gerecht zu werden. Die ursprüngliche Konzeption sieht außerdem vor, dass Lernende im Laufe der Zeit in der Lage versetzt werden, ihre Wochenpläne eigenverantwortlich und eigenhändig zu erstellen.
Vorteile |
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Nachteile (v.a. in der Praxis) |
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b) Stationenarbeit
Historisch gewachsen ist die sehr inhaltsorientierte Stationenarbeit aus dem Zirkeltraining (Sport) und reformpädagogischen Einflüssen. Ein Thema wird dabei in verschiedene Stationen aufgeteilt, die jeweils selbstständiges Lernen ermöglichen und im besten Fall vielseitige, abwechslungsreiche sowie handlungsorientierte Aufgabentypen zur Vertiefung, Erarbeitung oder Übung bereithalten. Für die Bearbeitung jeder Station steht den Lernenden eine bestimmte Zeit (z.B. 15 Minuten) zur Verfügung, anschließend wird gewechselt. Die Stationen ermöglichen eine Variation der Sozialform und sollen den Lerngegenstand mit so vielen Sinnen wie möglich erfahrbar machen. Das Stationenlernen ist aber weniger ein durchgängiges Unterrichtskonzept als eine Möglichkeit, den üblichen Unterricht für einen festgelegten Zeitraum aufzubrechen. Der oben definierten Ansprüche eines »Offenen Unterrichts« wird die Stationenarbeit ebenfalls nicht gerecht.
Vorteile |
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Nachteile (v.a. in der Praxis) |
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c) Werkstattunterricht
Der Werkstattunterricht ist eine Weiterentwicklung der Stationenarbeit in Richtung Offenheit, Ganzheitlichkeit und Kompetenzförderung. Eine Lernwerkstatt ist dabei ein vielfältiges Arrangement aus Lernsituationen und Lernmaterialien zu einem bestimmten Thema. Anders als die Stationenarbeit (s.o.) ist der Werkstattunterricht ein durchgängiges Konzept, eine von der Lehrkraft arrangierte Werkstatt kann u.U. mehrere Wochen tragen: Es gibt nur wenige Pflichtaufgaben, dafür eine riesige Zahl an unterschiedlichsten Wahlaufgaben, die alle eine selbstständige Bearbeitung ermöglichen und ganzheitlich, d.h. fächerübergreifend, denken. Eine Werkstatt zum Thema »Klimawandel« kann also z.B. Inhalte aus Physik, Chemie, Biologie, Geschichte, Geographie und Politik umfassen. Außerdem bestimmen die Lernenden frei über Reihenfolge und Sozialform, weiterhin kontrollieren sie ihre Lösungen eigenständig (Selbstkontrolle). Die Lehrkraft agiert dabei als Berater, um individuelle Lernprozesse anzuregen.
Vorteile |
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Nachteile (v.a. in der Praxis) |
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d) Freiarbeit/Freie Arbeit
Lernende bestimmen in der Freiarbeit frei und eigenaktiv über die Inhalte, die Art ihrer Aktivität, das Lerntempo, die Sozialform, das Material und die Arbeitsplätze innerhalb eines vorgegebenen Zeitraumes. Die Lernenden können Themen nach ihren Interessen wählen, selbstständig nach Informationen/Material suchen und das Thema nach ihrem Gusto bearbeiten. Die Grenzen dieses Konzepts, welches durchgängig oder stundenweise praktiziert werden kann, liegen in einem vereinbarten organisatorischen Rahmen und in der Rücksichtnahme auf andere Lernende. Manche Umsetzungen terminieren regelmäßige Treffen der Gesamtgruppe, in denen sich über die aktuellen Projekte ausgetauscht oder die Ergebnisse derselben präsentiert werden können.
Vorteile |
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Nachteile (v.a. in der Praxis) |
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e) Projektunterricht
Projekte nehmen Kooperationsfähigkeit, handelndes Lernen und Probleme mit direktem Lebensweltbezug bzw. gesellschaftlicher Relevanz in den Fokus. Lernen findet hier in einem ganzheitlichen, interdisziplinären, kreativen und forschenden Rahmen statt, die Themen folgen dabei den Interessen der Lernenden. Diese übernehmen, einzeln oder in Gruppen, die Projektinitiative (Einigung auf ein Problem), legen Regeln des sozialen Miteinanders fest, planen Lösungswege und Vorgehensweisen, erproben diese praktisch und beurteilen schlussendlich sowohl die Ergebnisse als auch den Ausführungsprozess (Reflexion). Durch diese selbstbestimmte und engagierte Auseinandersetzung sollen sowohl Sach-, Selbst-, Methoden- als auch Sozialkompetenzen gewonnen werden. Ziel ist die Erziehung eines vernünftigen, kritischen, handlungsbereiten und verantwortungsbewussten Menschen vor dem Hintergrund einer demokratischen Gesellschaft.
Vorteile |
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Nachteile (v.a. in der Praxis) |
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Prüfen und Bewerten im »Offenen Unterricht«
Die Varianten des »Offenen Unterrichts« sind in der Theorie besonders gut geeignet, die Zielsetzungen des »Erweiterten Lernbegriffes« sowie des selbstständigen Lernens als auch die Kompetenzen des Bildungsplanes zu verwirklichen. Die Praxis des Prüfens und Bewertens muss sich hierfür aber gleichsam zur veränderten Lernrealität weiterentwickeln und ihrerseits alle Subkompetenzen des »Erweiterten Lernbegriffes« umfassen:
Subkompetenz des Lernens | Beispiele | traditionell | Bewertung im »OU« |
inhaltlich-fachlich | Fachwissen, Urteile, Definitionen... | im Vordergrund | gleichberechtigter Anteil |
sozial-kommunikativ | Kooperation, Empathie, Argumentation... | im Hintergrund | gleichberechtigter Anteil |
methodisch-strategisch | Visualisierung, Planung, Recherche... | im Hintergrund | gleichberechtigter Anteil |
persönlich | Selbstvertrauen, Kritikfähigkeit, Selbsteinschätzung... | im Hintergrund | gleichberechtigter Anteil |
Die bisherigen, äußerst produktorientierten Bewertungssysteme des Regelunterrichts werden nicht allen Subkompetenzen gerecht. Die Bewertung im »Offenen Unterricht« bezieht sich auf komplexe, höhere Prozesse, die sich z.B. aus Arbeits-, Recherche-, Kooperations- und Präsentationsphasen zusammensetzen. Das Endprodukt des Lernprozesses ist ebenfalls wichtig, steht aber nicht mehr allein im Zentrum der Bewertung. Im »Offenen Unterricht« sind daher diagnostische Kenntnisse besonders wichtig und sollten als wichtiger Teil eines professionellen Berufsverständnisses verstanden werden, da auf die üblichen Bewertungsschemata (z.B. Klassenarbeitsnoten) zugunsten von Beobachtungsverfahren in Kombination mit z.B. Portfolios oder Lerntagebücher verzichtet wird:
naive |
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systematische Beobachtung |
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Studien zur Wirksamkeit
Gleich vorneweg: »Offener Unterricht« bzw. eine »Öffnung des Unterrichts« ist kein Qualitätskriterium im Sinne eines wirksamen Unterrichts. Die Vorteile lassen sich zwar theoretisch schlüssig begründen, der Erfolg des Konzepts ist in der Praxis jedoch von außerordentlich vielen Kriterien abhängig. Seine Konstitution als ein Zusammenspiel vieler Einzelfaktoren und seine fehlende Definition führt zu einer eher überschaubaren empirischen Datenlage. In jeder vorhandenen Studie wurde das offene Setting im Hinblick auf die Öffnungsdimensionen jeweils anders konstruiert und nutzte andere Konzepte (z.B. Freiarbeit, Wochenplanarbeit). Die Forschung zielt darüber hinaus meist auf differenzierte Einzelaspekte, wie z.B. die Individualisierung. Jedoch lässt der Grad an Individualisierung keinen Rückschluss auf die Offenheit des Unterrichts zu, schließlich kann z.B. auch ein lehrerzentrierter Unterricht individuelles Material bereitstellen. Das Zusammenfügen dieser Einzelaspekte führt meist zu keinem einheitlichen Bild, dafür zu kontroversen Diskussionen.
Bei den Studien handelt es sich oft um qualitative Erhebungen, was einerseits in einer exakten Beschreibung des Unterrichtsgeschehens resultiert, die Ergebnisse andererseits aber nur auf kleinen Stichproben (z.B. eine einzelne Klasse) basieren, was der Repräsentativität verringert. Außerdem beschränken sich die Erhebungen oft auf den Grundschulbereich, weil hier Ideen des »Offenen Unterrichts« aktuell hauptsächlich umgesetzt werden.
Folgende empirische Ergebnisse lassen sich grundsätzlich festhalten:
Pro |
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Neutral |
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Contra |
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Die Gründe für den durchwachsenen »Erfolg des Konzepts« liegt laut den Studien maßgeblich an drei Faktoren: Erstens waren die Lernenden auch bei selbst gewählten eher mäßig interessiert, der anfängliche Enthusiasmus kam schnell zum Erliegen. Eine intensive Durchdringung wurde nicht angestrebt, mit mittelmäßigen Ergebnissen gab man sich zufrieden, Quantität und schnelles Abarbeiten standen weiterhin im Mittelpunkt (vermutlich aufgrund des Vergleichbarkeitsfaktors bzw. des Konkurrenzdenkens). Zweitens traten viele falsche Lernergebnisse auf, die sich aufgrund der selteneren Kontrolle seitens der Lehrkraft einschleifen und festsetzen konnten. Die angebotene Selbstkontrolle wurde eher unverantwortlich genutzt, richtige Ergebnisse z.B. einfach abgeschrieben, eigene Fehler nicht hinterfragt. Und drittens schnitten schwache Lernende, die viel Zuwendung, Anleitung und Struktur benötigten, besonders schlecht ab, da sie aufgrund der Anzahl an Wahlmöglichkeiten und der geforderten Selbstständigkeit resignierten. Die starken Lernenden dagegen kamen gut zurecht, arbeiteten aber auf ähnlichem Niveau wie im Regelunterricht. Zwischen den von sich aus arbeitswilligen und den überforderten Lernenden ergaben sich häufig Konflikte, die sich auf Störungen des Gesamtgeschehens bezogen.
Insgesamt gesehen ergibt sich also ein differenziertes Bild, die Wirkung des »Offenen Unterricht« hängt massiv mit den Umständen zusammen. Ein besonders wirkmächtiger Faktor für das Gelingen oder Scheitern des Konzepts findet sich in der Person der Lehrkraft:
Rolle der Lehrkraft |
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Rolle der Lehrkraft |
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a) Lernzeit und Konzentration (Frank Lipowsky)
Die qualitative Studie ging von der Annahme aus, dass die Konzentrationsfähigkeit der Lernenden Einfluss auf die Nutzung der zur Verfügung stehenden Zeit in offenen Settings besitzt. Die Ergebnisse, die sich jedoch nur auf den Mathematik-Unterricht beziehen, besagen, dass konzentrationsschwächere Lernende nur ca. 60% ihrer Lernzeit dafür genutzt hätten, ihre Aufgaben zu bearbeiten. Die restliche Zeit benötigten sie hauptsächlich für Orientierungs- und Auswahlprozesse, wobei sich ihre Entscheidungen schlussendlich oft von denen anderer leiten ließen. Außerdem fiel es ihnen schwerer, nach einer Unterbrechung bzw. Störung zeitnah zurück in den Arbeitsprozess zu finden. Weiterhin arbeiteten sie lieber mit einem Lernpartner zusammen und bevorzugten strukturierte statt offene Aufgaben. Konzentrationsstarke Lernende arbeiteten dagegen intensiver und nutzten knapp 80% ihrer Zeit für aufgabenbezogene Tätigkeiten. Sie benötigten sehr viel weniger Zeit für Orientierungs- und Entscheidungsprozesse, arbeiteten lieber alleine, bevorzugten offene Aufgaben und hatten längere, ausdauerndere Arbeitsphasen. Insgesamt gesehen schöpften beide Gruppen ihre jeweiligen Potenziale nicht gänzlich aus, da die Erfahrung und die Kompetenzen für eine selbstständiges Agieren innerhalb eines offenen Settings fehlten. Der Studie selbst mangelt es jedoch an einer Angabe des Zeitnutzungsverhaltens im Regelunterricht, was die Vergleichbarkeit erschwert.
b) Kooperation in offenen Unterrichtsarrangements (Christina Huf)
Diese Studie nahm das Kooperationsverhalten von Lernenden in offenen Settings der Grundschule unter die Lupe. Im Wochenplanunterricht kooperierten Lernende zwar, dies aber meist auf Anraten der Lehrkraft und ohne sich wirklich gegenseitig bzw. (zeit-)effektiv zu helfen. Bei der Freiarbeit ließ sich gegenseitiges Helfen und Kooperation häufiger beobachten, das Von- und Miteinanderlernen ist hier zentrale Handlungsperspektive und der Unterricht von vielfältigen Formen der Kooperation geprägt. Grund hierfür ist womöglich der größere Entscheidungs- und Handlungsfreiraum, während der Zeitdruck des Wochenplanes eher ein koexistentes Lernen befördert, bei der kooperierende Handlungen als »Zeitfresser« empfunden werden und daher lieber unverbunden nebeneinander statt wirklich miteinander gelernt wird.
Fazit: Pro & Contra
Zu den Kritikpunkten am »Offenen Unterricht« zählen die fehlenden Strukturierungsmaßnahmen, die vor allem schwächere Kinder z.B. in Bezug auf Selbststeuerung überlasten, die mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte für eine adäquate Überführung der Theorie in die Praxis und die eher oberflächliche Auseinandersetzung der Lernenden mit ihren Themen. Insbesondere Peschels radikaler Ansatz wird als »wirklichkeitsferner und weltfremder Schonraum« bezeichnet, der nicht auf das spätere Leben und Wirken in Beruf und Gesellschaft vorbereiten würde. Die meisten der bisher in den Schulen umgesetzten Varianten des »Offenen Unterrichts« erscheinen mehr als halbherzig durchdachte und nur kurzfristig durchgeführte »Bonbons« (v.a. Projekte), die die hoch gesteckten Ziele der Theorie niemals erreichen können. Auch die Freiarbeit kommt meistens eher als spielerische, ziellose Abwechslung zum Schulalltag oder reine Beschäftigungstherapie daher, anstatt als langfristiges und konsequentes Konzept wirken zu können.
Auf der Seite der Vorteile steht der Lebensweltbezug, der an Vorwissen und Interessen der Kinder anknüpft und die Lernprozesse mit intrinsischer Motivation auflädt. Darüber hinaus können viele Elemente der mangelnden Erziehungstätigkeit der Eltern kompensiert werden, da soziale und kooperative Kompetenzen (z.B. durch demokratische Aushandlungs- und gemeinschaftliche Lern- bzw. Problemlöseprozesse) sowie aktives Erleben und Erfahren forciert werden. Die Vermittlung von Fähigkeiten (kognitives Wissen) und Fertigkeiten (Ausführung von Tätigkeiten) entwickelt die Kinder zu eigenständigen, aktiven und kritischen Menschen. Die Lehrkräfte besitzen weiterhin die Möglichkeit, sich intensiv um einzelne Lernende zu kümmern, sie in ihrem Tun zu beobachten und aus ihren Erkenntnissen heraus ein differenziertes bis individuelles Lernangebot zu schnüren.
Wie bereits bei den Studien gesehen, ist die qualitative Evaluation des »Offenen Unterrichts« schwierig und die Datenlage schwammig. In günstigen Fällen kann er als besserer Weg zur Erreichung von Lernzielen dienen, in ungünstigen Fällen jedoch das Gegenteil erreichen. Große Abhängigkeit zeigt das Konzept von der Qualifikation der Lehrkräfte und der jeweiligen Unterstützungsmaßnahmen in ihren veränderten Rollen als Lernbegleitungen. »Offener Unterricht« ist also weder ein pädagogisches Allheilmittel noch prinzipiell gut oder schlecht. Konstruktivismus und Instruktionalismus können und sollten nicht nach einem Alles-oder-nichts-Prinzip realisiert, sondern die Vorteile beider Konzepte gewinnbringend zusammengeführt werden. Viele Autoren befürworten deshalb schlussendlich einen herkömmlichen Unterricht mit großer Methodenvielfalt, also eine Art »gemäßigten Konstruktivismus«, anstatt einen »Offenen Unterricht« nur um seiner selbst willen zu organisieren.
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