Ohne Feinde keine Freunde

Mitte des 22. Jahrhunderts entdecken die Menschen auf dem Mars zufällig Relikte und Daten einer vergangenen, außerirdischen Kultur. Nach der Extraktion und Entschlüsselung des alten, aber gleichzeitig fortschrittlichen technischen Wissens (Mass Effect) sind die Menschen nun zu interstellaren Reisen fähig. Außerdem ist bewiesen: Es gibt und gab weitere intelligente Lebewesen in den dunklen, unerforschten Weiten des Alls. Der Horizont menschlichen Daseins hat sich auf einen Schlag massiv erweitert.

 

Die neuen Entwicklungen außerhalb der Erde beflügeln einen Prozess auf der Erde, von denen die heutigen Menschen nur träumen können... 

Nämlich: Alle Völker vereinigen sich, arbeiten zusammen und nehmen sich an die Hand, vollkommen unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung, Einkommen, politischer Einstellung und sonstigen eigentlich oberflächlichen Merkmalen. Die Religionen zersplittern (endlich), denn viele ihrer kruden und auseinanderdividierenden Theorien sind nun endgültig nicht mehr haltbar. Nur gemeinsam lassen sich nun die hochgesteckten Ziele erreichen: Die vollständige Erforschung, die spätere Kolonialisierung des Universums sowie die Kontaktaufnahme mit Außerirdischen. Warum gelingt es den Menschen, ihre eigenen Konflikte (endlich) zu vergessen und sich gemeinsam der Zukunft zu stellen, statt vergangenen Ideologien hinterherzulaufen?

 

Es gibt tausende von Ideologien, Religionen und Verschwörungstheorien auf dieser Welt, die alle eine Sache gemeinsam haben:  Ein irdisches Feindbild. Vereinfachte, wahllose Beispiele: Die Muslime haben die Ungläubigen, die Nazis die Juden, die Reichsbürger die Flüchtlinge, die Katholiken den Fortschritt, die Telegram-Gemeinde Leute mit Gehirn. Ohne Feindbild keine Gefahr, mit der man den Gläubigen drohen und die die eigene Heilsverkündung gefährden könnte. So ein bisschen Schiss müssen die Leute schon haben, sonst sind sie für noch so wirre Thesen nicht empfänglich. Und wenn die Zielgruppe finanziell oder sozial schlechter gestellt ist bzw. sich zumindest so fühlt, umso besser: Radikalisierungspotenzial frei Haus. Irrationale Emotionen hervorrufen und diese auf ein konstruiertes Feindbild hin kanalisieren gehört zum Handwerkszeug eines jeden guten Marketingmanagers einer beliebigen Ideologie. Denn ohne Feindbild kein Verschmelzen von Menschen zu einer Einheit, kein Zusammengehörigkeitsgefühl (und sei es nur die Unterschiedlichkeit zum Feind), keine Freunde der Idee.

 

Man findet dies auch außerhalb gesellschaftlicher, politischer und religiöser Prozesse. Selbst das Fan-Sein beim Fußball lebt von Feindbildern: Eine Portion Bayern-Hass gehört bei allen Nicht-Bayern-Fans unbedingt dazu, daraus lässt sich Energie gewinnen und die eigene Fan-Identität konstruieren. Oder konkreter: Dortmund-Fan sein ohne gleichzeitig Schalke zu hassen, wäre nur halb so erträglich. Eine eigentlich trotz des Schlussspurts eher durchwachsene Saison kann mit dem Abstieg der Königsblauen aufgewertet, vielleicht sogar gekrönt werden - wobei nun nicht Freude über den eigenen, erarbeiteten Erfolg im Mittelpunkt steht, sondern Häme und Schadenfreude. Die Bremer sind nun sogar so weit gegangen, selbst abzusteigen, weil ohne die Reibung mit dem verhassten Nachbarn aus Hamburg keinerlei Kraft mehr in diesem Verein zu stecken scheint.

 

Während sich die Menschheit eigentlich auf ihrem zivilisatorischen Höhepunkt befindet - pardon, befinden sollte - erleben wir, ausgerechnet aufgrund einer glorreichen technischen Erfindung, deren Funktionsweise kaum einer von uns wirklich versteht, einen Rückfall in längst vergessene Zeiten. Noch vor einigen Jahren als Hort des Wissens und der Bildung, als Katalysator der Demokratie und der Bürgerbeteiligung, als unerschöpfliche Inspiration für die eigene Handentspannung gefeiert, ist das Internet nun geprägt von Lager-Denken, von Abgrenzung, von einem digitalen mit-dem-Finger-auf-andere-zeigen. Haufenweise Fake-News und Propaganda wabern durch das Netz, willfährig geteilt und - was noch schlimmer ist - geglaubt von naiven Menschen, deren Recherche- und Medienkompetenz dringend aufgelevelt werden müsste. Konstruktive Willens- und Meinungsbildung, produktive Auseinandersetzung? Diskussionen, die auf sachlicher Ebene stattfinden und diese elendige aufgeblähte Moralisierung endlich stoppen? Sind mir schon lange nicht mehr begegnet. Egal, was man schreibt, man läuft Gefahr, zerfleischt zu werden von den Getriebenen des Internets, den Trollen, den (selbsternannten) unersättlichen ehrenamtlichen Streitkräften der (ihrer Meinung nach) einzig wahren Ansicht mit lechzender Gier nach Empörung, narzisstischer Selbstverwirklichung und einem Faible für Krawall bzw. Destruktivität.

 

Selbst sachliche Versuche der Debattenführung werden mit Feuer vergolten: Etikettierung, Lynchmob, Verleumdung, Hetze. Welcome back, Mittelalter.

Kritisiert man sachlich (zu Recht!) die Politik Israels, ist man Antisemit. Kritisiert man sachlich (zu Recht!) den »importierten Antisemitismus« aus der arabischen Welt, der sich mit dem bereits vorhandenen »europäischen Antisemitismus« vermengt, und leitet daraus die Forderung ab, diesem schrecklichen Konglomerat mit durchdachten Integrations- und Bildungsprogrammen zu begegnen, ist man Kulturrassist und islamophob.  Kritisiert man (zu Recht!) diese fehlenden Integrations- und Bildungsprogramme und fordert mehr Geld und Zuständigkeiten für die Integrationsprozesse, ist man Deutschlandverräter und auf lange Sicht Deutschlandabschaffer. Warum auch immer. Wie genau das zusammenhängt... nun, da wird es zu inhaltlich. Fackeln und Mistgabeln kennen keine Argumente.

Kritisiert man sachlich (zu Recht!) die Corona-Maßnahmen aufgrund ihres Zustandekommens, ihren Maßstäben und ihrer Einzelkomponenten, ist man Corona-Leugner. Kritisiert man sachlich (zu Recht!) blinde Ignoranz der Corona-Leugner, ist man Schlafschaf, Gehirngewaschener und vielleicht sogar ein Reptiloid (WTF?), je nach Ausmaß der ideologischen Verblendung auf der Gegenseite.

Auch viele Begriffe darf man augenscheinlich nicht mehr verwenden, weil sie von Linken/Rechten/Mitterechtsunten/Obenunten vereinnahmt oder neu konnotiert wurden. Verwendet man dennoch einen Begriff (unbeabsichtigt), die die Fraktion Obenunten nur zu gerne in ihren seltsamen Erzählungen publiziert, triggert man sofort die entsprechenden Netzanalysten der gegnerischen Fraktion Untenoben, die nun komischerweise nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen wissen, als einen sofort als Mitglied von Obenunten zu identifizieren und öffentlichkeitswirksam zu markieren. Schade, denn davor wusste man nicht einmal, dass es Obenunten und Untenoben überhaupt gibt bzw. schon gar nicht, welche Begrifflichkeiten zu ihren Kanons gehören. Zu spät. Es wird nicht erklärt, es wird bestimmt. Es wird nicht die Hand gereicht, sondern vorschnell abgeschnitten. Es werden nicht Gemeinsamkeiten gesucht, sondern Unterschiede mit Textmarker unterstrichen. Meinung vor Fakten, Moral vor Recht.

 

Man hat es wirklich nicht leicht, wenn man sich außerhalb seiner Bubble bewegen möchte, was man aber umgekehrt zwingend sollte, um weltoffen, kritisch und informationsüberprüfend durch das (digitale) Leben zu schreiten. Überhaupt bin ich gerade beim Nahost-Konflikt, dessen Komplexität und Tiefe schwer zu überblicken ist, sehr überrascht, wie viele Menschen scheinbar in einem Sekundenbruchteil eine Position finden können, die ohne Abwägung, Kompromiss, historisches Wissen und Reflexion auskommt. Und dann sogar den Mut und das Selbstbewusstsein haben, diese mit fester Überzeugung in der Öffentlichkeit als Wahrheit darzustellen. Wenn aber ein lausiger, pseudo-philosophischer Kalenderspruch (neumodisch: Wandtattoo) wirklich der Wahrheit entspricht, dann dieser: Wer am lautesten poltert, erntet zwar leider die dicksten Kartoffeln, verbirgt hinter diesen aber seine eigene Unwissenheit bzw. Überforderung.
Achso, und: Selbst mit diesem Text begebe ich mich in der aktuellen Aufgeregtheit und Empörungssucht des Internets in die Gefahr, Ziel eines Shitstorms werden... wobei, nein, dazu müsste er ja gelesen werden.

 

Warum das alles so funktioniert, wie es funktioniert, liegt an neuen und alten Feindbildern. Denn damit kann man sich die Welt auch heute noch sehr einfach machen, nun aber fernab von göttlichen Theorien (Wissenschaft sei Dank!), sondern im Alltag, in der Gesellschaft, in der Politik.

Gerade die Politik ist ein gutes Beispiel für inhaltliche Barfüßigkeit und perfide Ablenkungsmanöver. Die CDU/CSU befand sich lange (endlich) auf dem absteigenden Ast, der, was politische Visionen angeht, schon lange verdorrt war. Korruption, Ämtergeschacher, leere Worthülsen und Phrasen, Wirtschaftslobbyismus und das Arbeiten in die eigene Tasche gelten als die prägendsten politischen Merkmale der Union der letzten Jahre. Ein gewisser Andreas Scheuer (Namensgeber und Leitfigur des Adjektivs bescheuert) darf als Verkehrsminister fünf Jahre lang offenkundig Scheiße und keine neuen Straßen bauen, ohne dass er aus dem Amt befördert wird, während er und andere Konservative bei Abgeordneten anderer Parteien übergenau hinschauen und fordern, dass jeder marginale Kommafehler in ihren Dissertationen mit einem sofortigen Rausschmiss vergolten wird. Mitten in einer Pandemie, die so vielen Menschen direkten und indirekten Schaden zufügte, ließen sich schmierige Unioner zu lukrativen Masken-Deals verleiten, deren Schäbigkeit nur noch von der Dämlichkeit ihrer Annahme übertroffen wird, dass solche Dinge heutzutage nicht ans Tageslicht kommen würden.  

Aber egal, wie gut, dass die Grünen ein selbstlos Feindbild par excellence anbieten, auf die sich die Unionsgeier natürlich schlagartig stürzen, um ihren Arsch vor dem Grundeis zu retten, um von ihren eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken: Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin? Ein gefundenes Fressen. Da konnte die CDU/CSU ihre Macht und Wurzeln als »Volkspartei« (veralteter Begriff) wieder ausspielen, auf ihrem Konservatismus beharren (lieber nichts tun, als Neues zu probieren und möglicherweise zu scheitern) und irrationale Ängste schüren (fast schon ein wenig AfD-Style, nur in der light-Version):          
 "Eine zweifache Mutter mit politischen Ambitionen? Lächerlich, das geht doch gar nicht, Frauen müssen sich entscheiden!", pöbelt die Meute, während sie gleich vier farb- und ideenlose Männer als Kanzlerkandidaten aufstellen.

"Eine Frau, und als würde das nicht schon reichen, eine ohne Studienabschluss und Regierungserfahrung? Sie wird das ganze Land in die Scheiße reiten!", twittert ein völlig neuer Typus an besorgten Bürgern. Ein Typus übrigens, der sich die letzten Jahre u.a. darüber aufregte, warum nur Juristen und andere Akademiker im Bundestag sitzen und niemand aus dem "einfachen Volk", der sie angemessen vertritt.

"Sie hat 120.000 Euro an Zahlungen ihrer Partei an sie nicht angegeben, werft sie auf den Scheiterhaufen!", schreit die erzürnte Masse, die normalerweise sowieso alle Politiker:innen als korrupt und geldgeil bezeichnet, also eigentlich nichts Neues. Die Kirsche auf der Torte des Ablenkungsmanövers: Sie vergisst schlagartig, wie viele Millionen (!) die CDU von Gruppen außerhalb der Politik mit dem Ziel politischer Beeinflussung bekommt, die mit einer Ehrenerklärung einen lächerlich leicht zu durchschauenden Ablass unterschreibt, um sich von den Masken-Deals "Einzelner" reinzuwaschen, und einige Monate später das Gesetz zur Offenlegung von Lobbyzahlungen - natürlich ehrenhalber - lieber mal ablehnt. Zu dünnes Eis, das gesamte System der Union stünde auf sehr wackligen Füßen. Wenn die Politik zur Satire wird...

Unabhängig davon, wie man zu einer Politikerin, ihrer Partei und den jeweiligen Zielen steht, aber... das ist mir einfach zu billig. Aber vielen läuft es gut rein, sowohl als Möglichkeit der aktiven Einflussnahme als auch der passiven Empfängnis dieser schmutzigen Gedanken. Und tada: Die CDU/CSU stabilisiert sich, während es den Grünen tatsächlich schadet, wenngleich inhaltlich völlig absurd. Feindbilder for the win! Hilft auch bei akuter eigener Konzeptionslosigkeit. Inhalte überwinden (vgl. DIE PARTEI)! Wenn Satire zur Politik wird...

 

Nun aber zurück zu "Mass Effect": Laut des Fantasy-Epos benötigt die Menschheit also ein übergeordnetes Feindbild, um sich selbst einen zu können. Irgendwie musste ich gar nicht lange überlegen, denn eigentlich hätten wir ja eins, aber es ist leider nicht personal und daher (noch?) wirkungslos: Der Klimawandel. Immerhin gefährdet er - wie auch möglicherweise die Aliens - das Leben aller Menschen (unabhängig von Ort, Zeit und Kultur) und erfordert ein gemeinsames, zielgerichtetes Handeln. Leider hat der Klimawandel aber keine E-Mail-Adresse und kein Twitter-Account, die man mit Drohungen zuspamen kann. Leider lässt er sich weder durch psychische noch physische Gewalt einschüchtern, sondern nur durch eine Veränderung der Lebensweise. In diesem Detail steckt schon eines der Hauptprobleme, denn Ideolog(i)en sind starr, konservativ und fürchten sich vor einem Wandel ihres Weltbildes und ihres Tuns. Viele Dinge, "die wir halt machen, weil wir die halt schon immer so gemacht haben", müssten nun aber endgültig hinterfragt werden. Die positive, gemeinschaftsstärkende Sichtweise ("Ich kann etwas tun bzw. auf etwas verzichten, wovon alle anderen profitieren, besonders meine eigenen Kinder und Enkelkinder") hat keine Chance gegenüber der negativen, egozentrischen Sichtweise ("Ich werde weiterhin mit 250 km/h über die Autobahn brettern, das nimmt mir keiner weg!"). Auch deshalb verwunderlich, weil hier die Chance, einen Unfall zu bauen und zu sterben, statistisch höher ist, als einer Nebenwirkung einer Covid-19-Impfung ("Teufelszeug! Gift! Die chippen dich!") zu erliegen, aber wie gesagt, es geht um irrationale Ängste: "Man will mir mein Auto wegnehmen!", obwohl das nie jemand gesagt hat, sondern nur zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit diesem aufgerufen wurde. Aber das sind ja schließlich Details. Das Internet mag keine Details, sondern einfache Botschaften ohne Nebensatzkonstruktionen, mit denen man sich gedankenlos identifizieren kann. Erklärt jedoch nicht, warum z.B.  "Stoppt die Ausländer, sie nehmen uns die Frauen weg!" effektiver ist als "Stoppt den Klimawandel, er nimmt uns alles weg!".

 

Wohin ich mit diesem Text eigentlich wollte? Keine Ahnung. Irgendwie fand ich die Vorstellung schön, all die gesellschaftlichen Krankheiten endlich hinter uns lassen zu können. Und sei es aus egoistischen Gründen: Ich kann es nicht mehr hören und lesen, das ewige Gepoltere, die ewige Dummheit, den ewigen Stillstand, das ewige unversöhnliche Gegeneinander. Dieses Bekriegen untereinander, sei es im Real-Life als auch im Netz, zermürbt. Es nervt nur noch. Anfangs dachte ich, Corona zeigt uns, wie sehr wir das Miteinander - wenn es denn mal wieder möglich ist - genießen sollten. Während man einerseits von Wertschätzung und Individualisierung der Gesellschaft liest, haut einem der Knüppel aus Zusammenrottung, Abgrenzung und extrovertierten Überlegenheitsgefühlen volle Kanne in die Fresse. Wenn sich unser Miteinander aus dem Netz, das sich zur Zeit des Lockdowns nochmal extrem verschlechtert hat (wie ich finde), in das echte Leben überschwappt...

 

... dann werden wir keine Zukunft haben, nicht zum Mars reisen, nicht das Weltall erkunden und - so absurd das klingt - keinen extraterrestrischen gemeinsamen Feind finden, um uns endlich zu einen. Und schuld daran sind nur wir selbst. Und ich glaube, das ärgert mich am meisten.

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