Oktroyiert

Ein lauter Knall weckt mich aus meiner tiefen Dämmerung. Ich erschrecke und der Schlaf, nah an der Bewusstlosigkeit, entflieht aus meinen Gliedern. Das heftige Rumpeln vibriert in meinem Hinterkopf nach und wirft ein furchterregendes, schepperndes Echo. Meine Augenlider flattern, ich werde geblendet von einem hellen künstlichen Licht, das direkt auf mich gerichtet ist...

„Entschuldige, das war etwas unsanft von mir.“

 

Eine mir unbekannte Stimme spricht diesen Satz. Meine Augen kämpfen noch immer, während mein Gehirn bereits auf Hochtouren läuft, gedopt vom Adrenalin, welches mich durchströmt. Trotz der Flut an Alarmhormonen versuche ich so sachlich wie möglich, meine Lage zu analysieren und meine Umgebung wahrzunehmen, wenngleich noch immer leicht erblindet.

Mein Blick wandert an mir herunter, in dieser Richtung unbeirrter vom grellen, kalten Leuchten. Ich stehe, das ist sicher, und gleichzeitig merkwürdig, bin ich doch gerade erst dem wohligen Schlummer entglitten. Bewegen kann ich mich jedoch nicht. Meine Füße stehen auf einem dunklen Stahlblech, wenige Zentimeter über dem Boden. Meine Arme und Beine sind eng am Körper und mit Kabelbindern an blau gefärbte Metallstangen gefesselt. Keine Jesus-Pose, kein vitruvianischer Mensch, einfach nur ich, unprofessionell und notdürftig sicherheitsverwahrt. Ich befinde mich auf einer Art umgebauten Sackkarre, irgendwie größer, breiter, höher, schwerer, ohne Räder, dafür mit verlängertem Rahmen bis unter die Schaufel, einbetoniert und kaltgestellt, mit mir als zu transportierender Last. Da nur meine Gliedmaßen angebunden sind, kann ich frei atmen, Mein Oberkörper hat Raum und Luft, mein Kopf lässt sich drehen, abwenden, ausrichten. Die Gerätschaft, an die ich angekettet bin, rührt sich ihrerseits jedoch keinen Millimeter. Auf eine Knebelung hat mein Entführer dankenswerterweise verzichtet, wenngleich mich der heftig nachwirkende Schock noch nicht zur Sprache kommen lässt.

 

„Nun, aber wenn du schon mal wach bist, können wir ja beginnen.“

 

Wieder diese Stimme. Nicht verzerrt, aber ein wenig metallisch, die Klangfarbe nicht unangenehm, aber auch nicht direkt sympathisch. Ich blicke auf und versuche, dem Scheinwerfer und seiner Leuchtkraft zu trotzen. Er wirkt wie handelsüblicher Baustrahler, wie ich realisiere, der etwa drei Meter vor mir steht, geradewegs auf mich zielend und mich ins Visier nehmend. Ich scheine mich in einer ansonsten unbeleuchteten Garage, möglicherweise einer Werkstatt zu befinden, die vollgestopft ist mit alten Werkzeugen, nicht-identifizierbaren Metallteilen, Eimern, Kesseln, Farben und Formen. Alles ist verstreut und unaufgeräumt. Ein riesiges Durcheinander, das nach unvollendeten Projekten und starker Transpiration riecht, das stillsteht und dennoch nicht ruht. Das alles lässt mich an ein wirres Kaleidoskop denken, eins ohne Farben. Vielleicht aber spielt mir meine beanspruchte Netzhaut einen fiesen Streich, wird sie doch langsam beschädigt unter der glühenden Sonne der Leuchtdioden und fühlt sich an, als würde sie bald abblättern.

 

Innerhalb eines u-förmigen Tresens oder Tisches, die Öffnung von mir abgewandt, im dezenten Hintergrund, was die Illumination betrifft, aber doch in der Hauptrolle und im Mittelpunkt, werkelt und bewegt sich eine schwarze Gestalt. Sie verwischt in ihren Bewegungen, als wäre sie zu schnell für meine noch eingeschläferten Sinne, als würde sie aus flüssiger Finsternis bestehen. Sie hantiert, beschäftigt sich simultan mit mehreren Vorhaben, ist überall und nirgendwo. Der fließende Schatten tritt vage als gewaltiger Oktopus in Erscheinung, mit acht beschäftigten Armen, unwirklich, glibberig, glitschig in seinen Konturen. Die Dunkelheit um ihn herum gleicht einer schützenden Tintenwolke, ausgestoßen, um mich zu verwirren und abzuschrecken, aber sie scheint auch ein fest mit der Kreatur verbundener und ein ihr vertrauter Teil zu sein. Ein Antlitz lässt sich nicht einmal erahnen, ich kann nicht erkennen, ob sich das Wesen mir gerade zu- oder abwendet.

Hinter ihren schlangenartigen Extremitäten, die nesteln und fuchteln, die tüfteln und basteln, heften auf einer Pinnwand jede Menge Notizen, Zeichnungen, Pläne und Grafiken, die ich nicht entziffern kann, und wahrscheinlich auch nicht möchte. Manche Schriftstücke und Notizzettel sind mit roten Bändern wie Spinnweben verbunden, die die Einzelteile zu einem Netz verweben und zusammenhängend erscheinen lassen sollen. Ich fühle mich sofort an zweitklassige, öffentlich-rechtliche Krimis erinnert, in denen auf diese Weise Indizien zusammengetragen und Fährten verfolgt werden, um den Täter oder die Täterin zu stellen. Meist so circa nach achtzig Minuten, die zuvor inhaltlich nur wenig kunstvoll in die Länge gezogen wurden, weil es das unkreative Drehbuch und die altmodische Taktung des Fernsehens so verlangt.

Wenn mir meine ständigen und nutzlosen Gedankensprünge doch nur helfen würden, den Film zu verstehen, der gerade vor und mit mir abläuft...

 

„Also, wie fühlst du dich?“ Obwohl sich zwischen mir und der Kreatur ein paar Meter Abstand befinden, klingen die Worte nun wie geflüstert, wie direkt in meine Ohren gesäuselt, abwechselnd links, rechts, links, rechts, als würde ich fehlerhafte Kopfhörer tragen.

 

„Ich...“ Mehr ein Stammeln als ein Sprechen. Ich neige den Kopf wieder nach unten, meine Sehnerven fangen Feuer.                                                 

 

„Das war eine rhetorische Frage. Ich weiß doch, wie du dich fühlst.“ Passend zum fluiden Körperbau des Wesens präsentiert sich auch die Intonation seiner Sätze: Sie ist flüchtig, wabernd, mehrdeutig. Gerade verschwimmen Ehrlichkeit, Mitleid und Süffisanz im Strudel seiner Artikulation. Die wahre Bedeutung und Färbung der Phrasen ist unkenntlich und gleitet zwischen den Ebenen hin und her. Alle Buchstaben führen ein Eigenleben, welches die bekannten Worte mit fremder, schwammiger Energie füllt, sie ungreifbar, unpräzise und gleichzeitig vielsagend macht. Ein Mensch würde, zumindest im Film und bei entsprechender Inszenierung, nach solchen Worten eine halbe Zigarette rauchen und ganz lässig und kess einen bedeutungsschwangeren Rauchkringel zur gierigen Kamera hin pusten. Diese billigen Tricks und Klischees hat der Oktopus nicht nötig – oder nichts für sie übrig.             

 

„Dabei sollten wir froh sein, dass du endlich mal wieder überhaupt etwas fühlst, nicht wahr?“ Ein verbales Zuzwinkern, aber auch ein Vorwurf, alles im selben Augenblick, während die Schattenfigur weiter mit ihrem gesichtslosen Kopf aus Dunst durch die Gegend stiebt und laboriert. So als würde ihr diese Stimme gar nicht gehören, als hätte sie etwas Besseres zu tun, als wäre noch jemand in diesem Raum, der das Reden übernimmt, als käme die Stimme aus knarzenden Lautsprechern, ein bisschen hallend.

„Genau deshalb bin ich hier, und genau deshalb bist du hier. Ich will dir helfen, dich zu spüren, die Welt zu spüren, ein letztes Mal.“ Spott und Ernsthaftigkeit, bis zur Unkenntlichkeit durchmischt.

 

Trotz der herben, aber auch einfühlsamen Ansage schießt beiläufig und beinahe spielerisch ein Tentakel aus dem Zentrum, greift sich etwas aus der Finsternis und stellt eine weitere Sackkarre knapp vor mich. Sie ähnelt derjenigen, auf der ich interniert stehe und noch immer um eigene Worte verlegen bin. Ihr Rahmen ist aber grün statt blau, und ihre Schaufel befindet sich nicht wie üblich am Boden, sondern auf der Höhe meines Gesichtes. In ihr befindet sich ein Loch, um das Loch wiederum eine seltsame metallische Konstruktion, die auf eine Apparatur wartet, die passgenau eingesetzt werden möchte. Eine Halterung für eine noch grellere Taschenlampe, die meine Pupillen endgültig versengen soll? Deren Licht, so male ich mir die Argumentation der abstrakten Erscheinung vor mir aus, mich einerseits sehend machen soll, während sich andererseits der trübe Nebel der Katarakt in meinen Augäpfeln auszubreiten beginnt. Solange, bis sie aussehen wie die gespenstisch grauen Sehorgane von Schlangen kurz vor ihrer Häutung.

 

„Hör auf damit, ich bin doch kein Unmensch, das ist nun wirklich lächerlich. Ich würde dich niemals verletzen wollen. Trete hinaus aus deiner Phantasie. Es ist Zeit, endlich richtig aufzuwachen.“ 

 

„Wer auch immer du bist“, stottere ich unkontrolliert los, „was auch immer das hier sein soll...“ Ein Röcheln nach Luft, dann sprudelt es weiter aus mir heraus. „Du möchtest mich nicht verletzen? Dann knipse doch bitte den Strahler aus. Ich...“

 

„Oh nein, mein Freund, sicher nicht. Ich lasse dich nicht wieder in deine Träume fliehen. Ich lasse dich nicht wieder entschwinden, ich will dich hierbehalten. Ich möchte, dass du siehst, was ich sehe, und du dich endlich der Realität stellst.“

 

„Also mir scheint das alles hier ziemlich unrealistisch.“ Es liegt ein wenig mehr Kraft in meiner Stimme, ohne zu wissen, woher diese kommt.

 

„Ah, schön, du hast deinen Humor, deine Häme, dein Allheilmittel also noch nicht verloren“, schlägt es mir sofort entgegen, ein Kompliment wie ein Faustschlag in die Magengrube, „aber meinst du wirklich, du bist der richtige Ansprechpartner hierfür? Um zu beurteilen, was die Wahrheit, was die Wirklichkeit und was die Fiktion ist?“ Wo ein einschüchterndes Kichern zu hören sein müsste, klackert hier nur die Betriebsamkeit der Arme, die munter weiterschuften, völlig isoliert vom Inhalt des Gesprächs. „Ausgerechnet du, der den Unterschied zwischen leben und existieren nicht kennt. Der sich vor der echten Welt seit Jahren versteckt und sich vor ihr fürchtet, der sich zurückzieht wie ein Einsiedlerkrebs in seine feige gestohlene Muschel, der der Einsamkeit frönt, der in andere Welten flüchtet...“

 

„Okay, okay ich hab’s verstanden...“, versuche ich ihn vorzeitig zu unterbrechen.

 

In diesem Moment springt der schwarze Umriss unmittelbar vor mich, umgreift mich mit seinen Armen, positioniert seinen klebrigen Kopf direkt vor meinem und betrachtet mich missgünstig. Zumindest fühlt es sich so an, denn ein Gesicht lässt sich noch immer nicht ausmachen. Und eigentlich bleibt er auch nicht still stehen und betrachtet mich, sondern huscht unaufhörlich hin und her wie eine Bildstörung, die zetert und flackert, und eigentlich huscht alles, denn seine Berührungen sind nicht wahrzunehmen. Ich fühle mich dennoch umklammert und eingeschnürt von Schleimigkeit und Kälte. Immerhin wird das Licht des Strahlers abgeschwächt, es schimmert nur noch unmerklich durch den Oktopus hindurch. Er ist ein bedrohlicher, lebendiger Schemen, so erkenne ich, aber kein leibhaftiges, materielles Wesen. „Bitte nicht meine Monologe unterbrechen“, raunt er mir vibrierend zu, ein nett gemeinter Rat, aber scharf akzentuiert wie eine Todesdrohung. Es klingt, als würde er in meinem Kopf sitzen, als würden seine triefenden Tentakeln in meinem Gehirn wühlen, als würden diese Worte gar nicht außerhalb meines Verstandes existieren und gehört werden können.

Danach fegt er und alles wieder davon, zurück auf Anfang. Nach einer kurzen dramaturgischen Pause wird hinter der Tischplatte weitergearbeitet und weitergesprochen, irgendwo aus dem Off, aber nun wieder in der weiten Werkstatt statt in der Enge meines Geistes.

 

„Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, die Welt und du. Du verurteilst die Welt und alles, was auf ihr stattfindet, kritisierst sie, betonst ihre widerwärtige Verkommenheit, schöpfst dir Kraft aus ihren Fehlern wie Wasser aus dunklen Brunnen. Du ergötzt dich daran, ihr diese für alle sichtbaren Makel und offensichtlichen Mängel wortgewaltig unter die Nase zu reiben. Dabei, und deswegen bist du nun hier, ist nicht die Welt das Problem, sondern du.“ Einer der langen Arme streichelt liebevoll und wie in Zeitlupe einen Gegenstand, der sich aus der Ferne nicht identifizieren lässt, und überlegt haptisch, ihn endlich einzusetzen. „Und warum? Weil du keinen Platz für dich in dieser Welt findest, wälzt du die Verantwortung und die Schuld auf sie ab. Dabei kann der Welt dein Schicksal völlig egal sein. Du bist nur ein kleines, unbedeutendes Sandkorn am Strand des Lebens, eines von Abermilliarden. Auch wenn du dich nach Aufmerksamkeit, Liebe und Bewunderung sehnst. Dass du all das nicht bekommst, liegt aber ganz allein an dir, mein Freund. Nicht die Welt ist falsch, sondern du bist es.“ 

 

„Hätte ich Bedarf für einen Psychiater, hätte ich den eigenhändig konsultiert, danke.“ Selbstverständlich reagiere ich flapsig und gallig, wie auch sonst.

 

„Ach, Junge, wir wissen beide, dass dies nicht stimmt. Dazu hättest du, wie für vieles andere, gar nicht den Mumm. Lieber nutzt du deine Unzufriedenheit, deinen Unmut, deine mentale Instabilität aus, um damit deine Rolle zu definieren, die du nach außen spielst. Um all deine Schwächen vor dir selbst zu rechtfertigen, professioneller Hilfe zu entsagen und um damit im besten Fall sogar Anklang und Gleichgesinnte zu finden. Aber ich muss dich enttäuschen: Diese Rolle, dieses Laienschauspiel, ist nicht dein Weg zurück in die Welt, sondern zementiert und friert deinen Abschied aus dieser lediglich ein.“

 

„Sagst du mir jetzt endlich, wer du bist, und... warum du das alles über mich weißt?“ Ich hasse es, wenn diese zu groß geratene Meeresfrucht Recht hat. Dieser Hass legt sich nun wie ein bitterer Pelz auf meine Zunge.

 

„Willst du das wirklich wissen?“ Eine Frage wie eine Herausforderung zum Duell.

 

„Habe ich eine Wahl? Das würde mich angesichts der Umstände ein wenig überraschen."

 

„Ach, schön, dein Humor ist weiterhin aktiv, deine zynische, höhnische Ader pocht noch. Sei gewiss, das ist das Einzige, was dich noch am Leben hält.“ Eine zerbeulte Dose wird umgestoßen und das Geräusch ihres wuchtigen Aufpralls klingt im Widerhall der kargen Werkstatt wie ein lärmendes, synthetisches Lachen. „Aber du hast natürlich Recht. Wie ein guter Bösewicht erzähle ich dir alles, bevor ich dich erdolche, zerquetsche, aus dem Spiel des Lebens nehme wie einen Bauern beim Schach. Und nein, auch darüber solltest du dir im Klaren sein, es wird für dich keine Gelegenheit geben zu fliehen, dafür ist es zu spät. Es wird kein plötzliches Auftreten deiner Rettung geben, nur weil ich mich verquatsche. Dies ist kein Videospiel, kein Film, keine Serie. Und mal ehrlich, wer sollte dich denn retten kommen?“

 

„Touché.“

 

„Eben. Du bist für dich selbst verantwortlich, und das ist, wie wir beide wissen, zum Scheitern verurteilt.“ Ziemlich herzlos für ein Wesen mit drei Herzen, denke ich mir, bevor ich sage: „Komm auf den Punkt. Also, was steckt hinter all diesem Klamauk?“

 

„Ungeduld ist wahrlich keine Tugend. Sei’s drum, ich habe schließlich auch nicht ewig Zeit. Zwar mehr als du, aber auch ich bin endlich.“ Die Emsigkeit des Kraken stoppt, er streckt alle seine acht Arme von sich und sieht nun aus wie ein pulsierender, schwarzer Stern aus dunkler Materie. Er präsentiert sich in vollen Ausmaßen, inszeniert sich majestätisch, mächtig, nahezu göttlich. Die Silhouette des riesigen, stolzen Tintenfischs verfehlt seine einschüchternde Wirkung nicht. Noch entmutigender ist nur das, was er von sich gibt. Er formuliert die Sätze nicht länger gemütlich, lässig und beinahe teilnahmslos beiläufig, sondern mit einem gewissen Nachdruck, mit Stempel, mit Überzeugung, mit voller Inbrunst.

„Ich bin dein Innerstes, nach außen gestülpt, geboren aus deiner Manie. Ich bin du, wenn man dir die Haut abzieht, die dich festhält und dir Form gibt. Ich kroch geifernd und lechzend aus dir heraus, als deine Fassade bröckelte, und modellierte dich neu, anders, pflanzte die Saat der Schwermut in die Lücken deines Selbst wie Schlingpflanzen in ein zerfallenes Gemäuer.“ Die acht öligen Fangarme reißen Löcher in die Luft, während der Kopf seltsam entspannt bleibt. „Wir befinden uns hier in deiner Schaltzentrale, deinem Gehirn. Erkennst du es wieder?“ Die wabbeligen Fühler deuten auf viele Objekte gleichzeitig, zeigen den Raum wie ein bekiffter Makler im Zeitraffer, werfen immer wieder polternd Gegenstände um und durch die Werkstatt. „Ja, hier herrscht das Chaos, zumindest das dürfte dir bewusst sein.“

 

„Und weshalb sind wir hier? Wieso zeigst und erzählst du mir das alles?“ 

 

„Nun, ich wollte dir einen letzten Besuch gestatten. Schau dir das Getümmel, das Gewirr, die Anarchie doch an. Weshalb wohl muss in der äußeren Welt um dich herum immer alles penibel geordnet und strukturiert sein? Richtig, um einen Ausgleich zu schaffen. Damit du dich an ein fixes System klammern kannst, an die letzte Planke auf dem Ozean der Konfusion, die deine innere Welt vor dem Ertrinken rettet. Dein Verstand ist völlig zerfressen von der Krankheit, die ich verkörpere. Dabei bin ich nicht der Verursacher, der Gärtner des Chaos in dir, das hast du ganz allein angepflanzt und bewässert. Ich lenke es. Ich spiele auf seiner Klaviatur. Ich bin die Droge, von der du schleichend abhängig wurdest, ohne etwas von ihrer Existenz zu wissen. Ich habe langsam, aber sicher die Kontrolle übernommen, und bald wird sie endgültig und für alle Zeit die meine sein. Alles, was du tust, sind letzte Mittel, letzte Symptome, bevor ein neuer Kapitän, ein neuer Steuermann, das Ruder über dich übernimmt. Bevor du verrückt wirst, bevor deine Synapsen implodieren, bevor du stirbst, wie du alles in dir bereits hast absterben lassen. Du bist nur noch ein Schatten, ein verschwommenes Abbild deiner selbst, und bald wirst du endgültig verblassen. Ich höhle dich aus, fülle dich mit Schwärze, und stelle dich dann als ausgestopfte, leblose Puppe in meinen Trophäenschrank.“

 

„Schöner Vortrag. Und das soll ich dir glauben?“

 

„Solltest du, ja. Auch wenn du sonst an nichts glaubst.“

 

„Aha. Und wieso sollte es nun demnächst zu Ende gehen? Ich war schon immer so.“

 

„Du lügst. Du warst nicht immer so. Du hast mich irgendwann in deiner Hilflosigkeit und in einer besonders heftigen Phase des Selbstmitleids zu dir eingeladen und ich habe mich liebend gern bei dir eingenistet. Du warst mein Wirt und ich dein liebster Parasit. Du hast mich genährt und umsorgt, du hast mich unterhalten und gepflegt. Ich tat dir gut, ich räumte auf, ich flüsterte dir zu und du hast mich für dich genutzt.“

 

„Warum sollte ich das getan haben?“

 

„Das weiß ich nicht. Aber es ist mir eigentlich auch einerlei. Ich bin hier, ich bin gewachsen, dafür bin ich dir dankbar, und bald werfe ich dich ab wie unnötigen Ballast. Du bist leer und kannst mir nicht mehr viel bieten.“

 

„Mir geht es aber gar nicht schlechter als in meinen dunkelsten Momenten. Du musst dich täuschen.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich so zuversichtlich und überzeugt klinge, wie ich zu klingen versuche.

 

„Auch das ist so nicht ganz korrekt. Du hast dich nur daran gewöhnt. Du empfindest es mittlerweile als völlig normal, nichts zu empfinden, allem mit Spott zu begegnen, vor anderen und dir selbst zu fliehen. Du hieltst es auch lange Zeit für normal, zu saufen. Egal ob leichte Regungen von Freude oder Trauer: Falls du sie vereinzelt noch in dir wahrnehmen konntest, bewegten sie sich beide in Richtung Trunkenheit. Du brauchtest den Alkohol als Resonanzverstärker, damit dich die Emotionalität endlich wieder durchrauschen konnte, damit sich dein Gehirn stummschalten ließ, damit sich aus der schwachen Freude starke Euphorie und aus leichter Trauer schwere melancholische Schübe entwickeln konnten. Doch selbst das gelang dir irgendwann nicht mehr. Die Wirkung des Suchtmittels schwächte sich ab, da überstrapaziert. Und während du einen weiteren liebgewonnenen, aber trügerischen Mitstreiter verlorst, ohne dich nach günstigen Alternativen umzuschauen, hatte ich mehr als ausreichend Zeit und Gelegenheit, dich mir einzuverleiben.“

 

„Muss ich nun Angst vor dir haben?“

 

„Ah, ja, die Angst. Einer der wenigen emotionalen Zustände, den du noch in seiner Gesamtheit und Wahrhaftigkeit erleben kannst. Eins der wenigen emotionalen Stadien, von welchem du noch weißt, wie es sich anfühlt, weil du es als ständigen Begleiter in dir trägst.“ Eine kurze Pause, als müsste der schwarze Oktopus nachdenken, anstatt seinen vorgefertigten, auswendig gelernten Vortrag abzuspulen. „Doch ich würde sagen... nein, musst du nicht. Denn es ist bereits vorbei, unumkehrbar. Angst verspürt man nur, wenn man denkt, dass man noch etwas zu verlieren hat. Das ist hier nicht der Fall. Lass es einfach passieren. So wie sonst auch immer. Halte dich raus, nimm es hin, stelle dich taub, weigere dich.“

 

„Gibt es noch eine Chance, dieser ganzen Scheiße zu entkommen?“ Ich bin selbst entsetzt, wie monoton ich klinge. Eigentlich müsste ich schreien, wüten, mich wehren. Ich stelle diese Frage so schulterzuckend, so gleichgültig, als würde ich einer Passantin eine Auskunft über den schnellsten Weg zum nächsten Kiosk entlocken wollen, obwohl ich diesen gar nicht besuchten möchte.

 

„Dafür ist es leider zu spät. Dafür hättest du erkennen müssen, dass du das Problem bist und nicht die anderen. Auch du hast Gefühle, jeder hat Gefühle. Deine Disposition ist es nicht, Gefühle zuzulassen, sondern rauszulassen. Denn in dir tanzen sie hemmungslos und wild umher, wenngleich unbemerkt, missachtet. Du hast massive Mauern um dich errichtet und alles eingesperrt, was aus dir heraustreten möchte und muss. Du hältst sie zurück, weil du sie als Schwäche und als irrational begreifst, weil sie dich angreifbar machen würden – was auch alles stimmen mag, wenngleich nicht derart pauschal. Aber sie gehören zum Menschsein nun einmal dazu.

Menschsein bedeutet fehlerhaft zu sein, bedeutet verwundbar zu sein. Nur wer Fehler macht und zugibt, kann sich weiterentwickeln. Exakt in dieser Weise verhält es sich mit den Emotionen: Nur wer sie zu handeln lernt und sie in geeignete Bahnen lenkt, macht Fortschritte, lässt seinen Charakter reifen wie einen guten Wein. Ignoranz, Feigheit und Unterdrückung sind aber keine geeigneten Mittel hierzu. Sie führen zu Stillstand, zu Frust, zu Resignation. In dir stauen sich deshalb die Emotionen, die eigentlich nach draußen streben. Sie reißen ein schwarzes Loch in deine Psyche und lassen dich von innen heraus verkümmern. Langsam, sachte, aber unaufhaltsam. Das wiederum, mein Freund, war meine Eintrittskarte in dein Bewusstsein.“

 

„Nun, was hätte ich denn dagegen tun können? Als Freund hast du doch sicher ein paar gute Ratschläge.“

 

„Wie du schon klug bemerkt hast, bin ich nicht dein Psychiater. Ich profitierte von deiner Lethargie, zehrte von deiner selbstzerstörerischen Seelenlosigkeit. Eine kleine, in deinen Augen vermutlich primitive Sache hättest du aber definitiv häufiger tun sollen. Jetzt kann ich es dir ja verraten. Es ist eine naturgegebene Körperfunktion so alt wie die Zeit, ein geheimes Hausmittelchen gegen psychische Verunreinigung.“

 

„Und das wäre?“

 

„Weinen.“

 

„Ach, komm, jetzt wird’s endgültig albern.“

 

„Ich meine das ernst, wie alles, was ich sage. Ganz anders als du. Das Weinen reinigt, das Weinen ist Balsam, das Weinen verringert Stress. Der reißende Fluss vormals zurückgehaltener Tränen schwemmt die aufbewahrten Gefühle davon, erleichtert dich von ihrer Schwere, schafft Raum für neue Erfahrungen, Eindrücke und Empfindungen.“

 

„Selbst für einen Oktopus dezent kitschig. Hast du esoterische Philosophie in Atlantis  studiert?“ 

 

„Ich erscheine dir als Oktopus? Faszinierend. Ich dachte eher an eine Spinne, schließlich fürchtest du dich vor ihnen. Und das übrigens völlig irrational, emotional und ohne guten Grund. Harmoniert eigentlich so gar nicht mit deinem Selbstbild, mit deiner Idealvorstellung. Wie dem auch sei... ja, weinen hätte dir geholfen. Sollen wir es mal ausprobieren?“

 

„Vergiss es. Ich weine nicht. Und schon gar nicht vor dir.“

 

„Ich hatte befürchtet, dass du das sagst. Na gut, dann werde ich dich wohl oder übel zum Weinen bringen müssen. Kein Problem, ich habe hierfür schon alles vorbereitet. Wie wunderbar vorausschauend von mir, nicht wahr? Als würde ich dich kennen.“

 

Die Kreatur aus schwarzer Nacht beginnt wieder wie wild durch den Raum zu fleuchen. Sie fahndet nach einem bestimmten Objekt, teleportiert sich dann, ohne die Luft mit kinetischen Erschütterungen zum Vibrieren zu bringen, zwischen mich und die Sackkarre vor mir, richtet her, baut auf, installiert.

 

Als sie zur Seite tritt, steckt in dem Loch mit der Metallkonstruktion eine Bohrmaschine, jedoch mit zwei parallelen Bohrfuttern. Die beiden Bohrer, Nachbarn auf horizontaler Ebene, warten vereint auf ihr Startsignal. Ihr Abstand zueinander scheint fein säuberlich und nicht zufällig eingestellt worden zu sein. Das Gerät ist momentan ausgeschaltet, zuckt aber begierig, als würde es leben. Der Oktopus schiebt die Karre mit dem Doppelbohrer für seine Verhältnisse genüsslich und langsam direkt vor mich, sie ist nun etwa dreißig Zentimeter von mir entfernt. Mit vor Entsetzen und Beklemmung weit aufgerissenen Augen registriere ich die scharfen Spitzen der noch leblosen Werkzeuge, die sich ansonsten rücksichtslos in Wände fressen und nun unmittelbar vor mir lauern.                                

 

„Bereit?“

 

Wieder eine rhetorische Frage, denn nur einen Moment danach füttert er die selbstgebaute Maschine mit Strom. Die Bohrer beginnen zu rotieren. Ihr unangenehmes, lästerndes Kreischen ruft eine aufgewühlte Ganzkörpergänsehaut hervor, während ich gleichzeitig beginne, heftig zu schwitzen. Der Schweiß tropft mir von der Stirn, während ich die Contenance zu wahren versuche.

 

„Okay, wie du willst.“

 

Der Krake bewegt die raffinierte Karikatur einer harmlosen, unschuldigen Sackkarre näher an mich heran. Meine verkrampften Augen sind nun nur wenige Zentimeter von ihren kreiselnden Feinden entfernt, die lautstark danach gieren, hungrig wie ein Zahnstocher in eine Paprika-Olive einzudringen, um die rote Füllung aus ihrem grünen Gewand zu befreien. Ich wünsche mir still und heimlich, dass mein Kopf genau wie meine Gliedmaßen fest angebunden worden wäre, denn ich fürchte eine panische, verzweifelte Bewegung meinerseits, einen ruckartigen Reflex, eine Kurzschlussreaktion. Ich zittere bereits, und das unter einem Schwall an klebriger Feuchtigkeit. Eine unbedachte Regung, ein zu intensiver Schrei, und mein Kopf sähe aus wie eine fleischige Kegelkugel, die Bohrer wie zwei Finger aus zäher Hornhaut in sie eingedrungen, um sie unter freudetrunkenem Grölen die glatt polierte Bahn gen Jenseits zu schleudern.

 

„Na, komm, lass es raus. Trau dich.“

 

Die sich windenden Speere rücken nochmals näher, es passt kein Blatt Papier mehr zwischen Fleisch und Metall. Ich möchte meine Augen fest schließen und zusammendrücken, reiße sie aber immer weiter auf, denn ich habe Angst, dass sich ansonsten meine Wimpern im grauenhaften Reigen der Kreisbewegungen verlieren. Meine Augenlider würden abgerissen und ausgewrungen werden wie alte Handtücher.                                                          

 

Dann endlich passiert es: Meine trockenen Augen werden geflutet, sie spülen sich aus. Ein kleines Rinnsal kämpft sich über meine vom Schweiß säuerlichen Wangen, begleitet von den Fanfaren eines heftigen Schluchzens, welches tief aus dem Inneren des Berges hervorbricht.

 

„Na, siehst du, es geht doch.“ Nun hört sich mein Antagonist an, als würde er mit einem schwer erziehbaren Teenager reden. Das ist leider genau der richtige Ton. Die Bohrer beenden wie auf ein wortloses Kommando ihren bedrohlichen Tanz, bleiben aber in meiner Nähe, aufmerksam und jederzeit einsatzfähig. „Es muss raus, alles muss raus. Das Weinen ist der Schlussverkauf der eigenen Gefühle, ein praktisches Wartungsinstrument des Körpers. Es ist ein Schutzmechanismus, der den Druck reguliert, der unliebsame Gäste wie mich aufhält und am Eindringen hindert, wie ein guter Türsteher. Schau mich an.“ Ich versuche, seiner Anweisung zu folgen, aber meine Tränen versagen mir einen klaren Blick. Nur zu gerne würde ich mit meinem Ärmel die Schande von meinem Gesicht wischen.

 

„Sieh mich an!“, schreit der Oktopus, so als hätte er Schmerzen. Seine Arme rudern in Raserei, und die Schallwellen seines dröhnenden Rufs pusten die Nässe auf meiner Haut weg wie diese großen Trockner von Waschanlagen die Wassertropfen auf frisch gereinigten Autos zerfließen lassen. Nun kann ich ihn betrachten. „Erkennst du es?“, ergänzt er leicht verstimmt, aber scharf wie ein Messer. Und tatsächlich, wie er gerade in der Schusslinie des Baustrahlers steht, wirkt seine Farbe durchsichtiger, weniger schwarz, vielleicht gräulicher oder bläulicher, irgendwie weniger manifest. „Ja, deinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, schadet mir. Das hätte meine Belagerung verhindern oder zumindest herauszögern können. Ich verlasse meinen Wirt ungern, musst du wissen, aber man kann mich dennoch verjagen, wenn man schnell genug herausfindet, wie das geht. Ein Glück, dass du nie das Bedürfnis hattest, dies zu erfahren.“

 

Als würde er aus seinen eigenen Weisheiten und meiner Einfalt Kraft gewinnen, schüttelt er sich kurz, regeneriert übergangslos seine tiefschwarze Farbe und auch der Klang seiner Äußerungen gewinnt seine alte Sicherheit zurück. Aber immerhin steht er im Licht und gönnt meinen verquollenen Augen eine Pause, während er weiterdoziert:

„Und sind wir doch mal ehrlich: Du sehnst dich doch heimlich danach, loszulassen, anders zu sein, vielleicht sogar wie ein Tier zu leben. Diese verfluchte Denkerei abzulegen, die dich hemmt, verlangsamt, an der du verwelkst und vertrocknest. Sie endlich hinter dir zu lassen, endlich deinen Trieben und Instinkten zu folgen. Endlich machen, ohne zu hinterfragen, endlich machen, was dich glücklich werden lässt. Ohne darüber zu zerbrechen, was wohl die anderen davon halten, die anderen, die dir völlig egal sein könnten... doch leider war dir immer nur dein eigenes Leben egal. Dafür konntest du nichts, das hat sich im Laufe der Zeit ergeben, und ich habe das unterstützt, dich darin bestärkt, weil es mich stärkte, deine stoische Leblosigkeit war mein Nährboden. Deine pausenlosen Denktiraden, deine leidenschaftlichen Denkorgasmen, die dir abends den Schlaf rauben und morgens das Frühstück zubereiten, deine Zweifel, vor allem die, die gegen dich selbst gerichtet waren, füllten meine neun Gehirne wie heftige Gewitterschauer eine wartende Regentonne. Ich konnte wachsen, bis ich dich ausfüllte, bis ich mich zum Dirigenten deiner Gedanken aufschwingen konnte und immer wieder dasselbe depressive Lied orchestrierte. Das, mein Freund, ist übrigens der Grund, warum sich Suizidenten in den Kopf schießen und nicht ins Herz.“

 

Wieder eine verdammt gut gesetzte Pause, das würde ich ihm gerne sagen, doch ich fühle mich schwach vom Weinen, vom Zuhören, von den verbalen Röntgenstrahlen.

 

„Doch weißt du, was das Schlimmste daran war, was ich dir wirklich übelnehme? Du hast dich nicht nur in deiner exzessiven Nachdenklichkeit verschanzt, sondern sie als besonders, als herausragendes Merkmal identifiziert. Du interpretiertest deine seelische Krankheit um zu einer positiven Eigenschaft, die anderen fehlen würde. Aber nicht, um damit Energie und Vitalität für dich zu generieren – das auch –, sondern um dich über andere zu erheben. Du hieltst dich für schrecklich unverstanden und verleugnet, aber auch für etwas Besseres, da Anderes. Du konntest nicht akzeptieren, dass ausgerechnet dir Ruhm, Glück, Anerkennung und Karriere nicht vergönnt war. Alles davon hättest du dir selbst nur zu gerne zugestanden, nicht wahr, du eitler Narr? Amüsant genug, schließlich bezeichnetest du andere als selbstgerechte Narzissten, dabei warst und bist du der enttäuschte, erniedrigte König der Narzissten, dazu noch ein elendiger Neider. Du beschimpftest andere als oberflächlich, während du sie selbst ausschließlich an ihren oberflächlichen Merkmalen zu begreifen versuchtest. Deine falschen Entscheidungen, Wege und Taten projiziertest du auf andere, um dich reinzuwaschen und die anderen grundlos anzuklagen. Weil du dein Leben nicht im Griff hattest und du deine selbstverschuldeten Fehler vor dir selbst nicht einräumen konntest und wolltest, musstest du andere in die Verantwortung ziehen, um dich selbst und dein Gewissen zu beruhigen.“

 

Der Oktopus gestikuliert wieder aufgeregt herum, wenngleich ein wenig fahrig, erneut auf der Suche nach etwas Bestimmten. „Ah, hier, eine passende Metapher, die liegen hier ja überall herum wie Fallobst. Du verhieltst dich immer wie ein kleines, hilfloses Kind, welches nicht in der Lage war, eine eigene Sandburg zu bauen. Deshalb zerstörtest du deine brüchige Ruine eigenhändig, um jammernd und heulend Alarm schlagen zu können, um auf andere, dir unbekannte Kinder am Strand zeigen zu können, die deinen lächerlichen Versuch eines lehmigen Palastes kaltblütig dem Erdboden gleichgemacht hätten. Das alles in der elendigen Sehnsucht, dass dich endlich jemand in den Arm nimmt und dir hilft. Aber immerhin konntest du erfolgreich von deiner eigenen Unfähigkeit ablenken.“

 

„Ich weiß, ich soll deine langen, eintönigen Monologe nicht unterbrechen, aber so langsam könnte ich tatsächlich mal etwas Positives vertragen.“

 

Der schwarze, wabernde Schatten fährt fort, unbeeindruckt von meinem Einwurf, die Kassette läuft einfach weiter. „Anstatt dir helfen zu lassen, dich zu offenbaren, dich an- und einzugliedern, fandst du Gefallen an der Rolle des Außenseiters, des Verrückten, des Sonderlings, des Nerds, des Einzelgängers, des Ausgestoßenen. Was du dabei verschwiegst: Du wurdest nie ausgestoßen. Du hast dich selbst abgesondert, bist emigriert. Die anderen wollten ein Teil von dir sein, was du zu verhindern wusstest; umgekehrt vermiedst du, ein Teil der anderen zu werden. Das war meine Chance, den leeren, vorhandenen Platz einzunehmen. Und nun sieh dich noch ein letztes Mal um...“

Die zwielichtigen Arme des Wesens zeigen wieder in alle Richtungen, hinweisend, beweisend, erweisend.

„Jeder Kriegsschauplatz ist aufgeräumter als du. Niemand weiß, wer du bist – nicht einmal du selbst kannst das noch beurteilen oder gar greifen. Du bist ein Geist, gefangen im eigenen Kerker, verschmort im eigenen Saft. Hier brodelt es, dort bläst du Hunderte Seifenblasen aus Ideen, die noch vor der Planung einer möglichen Umsetzung zerplatzen, weil deine Feigheit, deine Antriebslosigkeit und dein Kummer dieselbe bereits verhindern. Hier kocht es hoch, dort befinden sich tausende Baustellen, überall werden Straßen aufgerissen, aber nur selten werden welche zugepflastert. Du bist innerlich zerrissen, aufgewühlt, unstet, wankelmütig, verpixelt. Alles kann, aber nichts wird. Es fällt dir schwer, dich auf eine Sache zu konzentrieren, einen Plan zu verfolgen, loszulassen, entspannt zu sein, weil in dir mehrere Stimmen sprechen. Sie alle schreien in Moll, und sie alle stammen aus meinem Megaphon."

 

„Das weiß ich doch alles.“ War das Trotz oder Selbstaufgabe?

 

„Umso schöner, aber auch verwunderlicher, dass du nie etwas dagegen unternommen hast. Denn das hast du nie verstanden: Wenn dich die Welt nervt, dann ändere die Welt, die dich umgibt. Besonders dann, wenn du dich selbst schon nicht verändern kannst. Stattdessen hast du geschauspielert. Du wirktest nach außen wie die Ruhe in Person, immer einen kessen Spruch auf den Lippen, unantastbar, gelassen, losgelöst, unbeeindruckt. Du mimtest einen coolen Jugendlichen, dabei steckte in dir ein alter, verbitterter Mann. Niemand konnte und durfte in dich hineinblicken, und nie gabst du etwas von dir preis.“

 

„Aber nun ist es ja eh zu spät, nicht wahr?“

 

„Völlig richtig, wie ich bereits mehrmals sagte. Du hattest Zeit genug. Ich offenbare mich dir, weil ich Mitleid habe. Weil du mir an den Herzen liegst, weil ich dich beobachtet und studiert habe. Du tust mir leid, wie alle anderen, die ich aus der Düsterkeit heraus schädige, bis sie kollabieren. Sei dir gewiss: Du bist einer von vielen. Auch wenn du das nicht gerne hörst. Ein jeder ist in einer gewissen Lebensphase für mich empfänglich.“

 

„Okay. Wie lange habe ich noch?“

 

„Das liegt allein an dir. Auch wenn du deinen Untergang nicht mehr abwenden kannst, so hast du noch ein wenig Spielraum, ihn zu vertagen. Mach das Beste daraus. Ich werde warten. Ich werde überdauern."

 

„Alles klar.“ Apathie, selbst in diesem Moment? Ich bin von mir selbst überrascht und angewidert. Zum zweiten Mal.

 

„Du nimmst das alles unbeeindruckt und schulterzuckend hin? Wie immer? Oder nimmst du mich nicht ernst?“

 

„Ich bin mir nicht sicher. Beides?“ Manchmal schäme ich mich wirklich für mich selbst.

 

„Wie du meinst. Aber denke daran... überall, wo du bist, da bin auch ich. Du kannst nicht vor mir fliehen, denn ich sitze in dir. Ich weise dir den Weg und bin gleichzeitig die Fußabdrücke, die du im Schnee, im Matsch oder im Sand hinterlässt. Wir sind eins, aber ich gebe den Takt vor, bewege die Fäden. Du bist meinem Willen unterworfen."

 

„In Ordnung. Lass mich gehen.“

 

„Verabschiede dich.“

 

Die fluide, dunkle Masse zuckt auf mich zu, entfernt die Sackkarre mit dem Folterinstrument und gönnt sich dann einen seltenen Moment der Ruhe, als sie exakt vor mir schwebt. Überlegt sie, mich doch noch hierzubehalten? Oder wie lange sie mir noch eine eigene Existenz gewährt? Begutachtet sie mich traurig, mitfühlend, lachend, schnippisch? In meine Überlegungen hinein schießt sie gnadenlos und ohne Vorankündigung auf mich zu, wickelt sich um mich herum, diffundiert in mich hinein.

 

Ich spüre wie immer nichts, aber es fröstelt mich kurz. Das kaltweiße Licht des Baustrahlers fällt über mich her, ich presse meine Augenlider fest und verstört zusammen, als könnte ich mit ihnen Kohle in Diamanten verwandeln...

und bin zurück.

Ich liege wieder, wie sonst nach dem Aufwachen, flauschig gebettet unter einer Decke aus Tristesse, wie üblich, alleine, in ewiger Ruhe. Nicht mehr gefesselt, aber dennoch wie gelähmt, stumm, statisch, wie ein Kokon, in dem sich der Geist zu regen versucht. Ich bin nicht länger auf wirren Reisen, sondern endlich angekommen, heimgekommen. Endlich frei, endlich nicht mehr in der Gewalt eines anderen, endlich verlassen.

 

Nur eine Sache ist merkwürdig: Das grelle, weiße Licht schimmert noch immer. Und es kommt näher.

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