Schlechte-Nacht-Geschichte

„Liegst du gut? Fertig eingerichtet?“, fragte es aus der mondhellen Dunkelheit.

„Ja, einen Moment.“ Salia schüttelte nochmals ihr Kissen auf und kuschelte sich danach unter lautem Knistern in ihren dunkelblauen Schlafsack.

 

Zu diesem Zeitpunkt ahnten die beiden besten Freundinnen noch nicht, dass diese Nacht eine schrecklich besondere werden würde...

„So, jetzt bin ich bereit... und wirklich mal gespannt. Du machst dir doch sonst nicht so viel aus Lesen und Schreiben.“

„Ach, ich weiß, aber ich hatte da so eine Idee. Vielleicht, weil ich in den Sommerferien zu viele Filme und Serien geguckt habe, keine Ahnung. Jedenfalls habe mich einfach mal hingesetzt und probiert, meine Einfälle in Worte zu fassen. Das war gar nicht so leicht. Wie unser Lehrer früher gesagt hat, weißt du noch? Dass die Schriftstellerei mühsam sei und extrem viel Zeit fressen würde? Er hatte Recht, wie so oft. Aber ich habe mir diese Zeit genommen und drauflosgeschrieben. Besser, als die nächste willkürlich vorgeschlagene Serie bei Netflix zu suchten, war es auf jeden Fall.“

 

„Was Herr Burkhard wohl heute macht? Hat er nicht die Schule verlassen?“ Nachdem Paulina mit einem Nicken geantwortet hatte, neigte Salia kurz ihren Kopf, als müsse sie nachdenken, und fuhr dann fort. „Schade eigentlich, war ein witziger Typ. Ich habe ihn immer gemocht. Also, so sehr man einen Lehrer eben mögen kann.“         

 

„Ich auch. Manchmal war er schon ein bisschen merkwürdig, aber welcher Lehrer ist das nicht? Jedenfalls..."

 

„Was er wohl über deine Geschichte sagen würde?“

 

„Das werden wir nie erfahren. Denn weißt du, was das Tollste ist?“ Sie zeigte erst auf Salia und deutete dann mit ihrer Hand eine Kreisbewegung an, während sie laut und festlich sprach wie die Ansagerin einer TV-Show. „Nur du, als meine beste Freundin, darfst hier und heute bei der exklusiven Weltpremiere dabei sein. Hammer, oder?“

 

„Ja, welch eine Ehre, vielen Dank.“ Beide begannen zu kichern. Dieses innige, herzliche und vertraute Kichern war ihr Markenzeichen, welches sie zusammenschweißte und nun seit Jahren verband. Es konnte sich mitunter minutenlang ziehen, weil sie sich gegenseitig immer wieder mit ihrer Fröhlichkeit und ihren aus Freude verzerrten Gesichtern ansteckten. Auch Mitmenschen wurden von der sprudelnden Positivität ihres Kicherns angesteckt, ob sie wollten oder nicht. Salia konnte sich dank des lauten, geteilten Giggelns außerdem die Anmerkung verkneifen, dass sich die Begriffe »exklusiv« und »Weltpremiere« ihrer Meinung nach dezent widersprochen hätten.

 

Es war das letzte Ferienwochenende, und sie hatten es zu einem wunderbaren werden lassen, mit viel Spaß und gemeinsamen Erlebnissen, an die sie sich noch lange erinnern werden. Die Übernachtungsparty sollte nun den glorreichen Abschluss dieses Wochenendes darstellen, die Krönung. Das letzte Highlight, bevor am Montag wieder der lähmende Trott durch die Dörfer schlurfen, an den Haustüren klingeln und alle Kinder unmissverständlich in die Schule zerren würde. Zum Programm dieser Übernachtungsparty sollte nun die eigens verfasste, kleine Geschichte zählen, die die beiden Mädchen in den Schlaf begleiten durfte. Paulina hatte sie am Nachmittag beiläufig erwähnt und nun wollte sie tatsächlich vorgelesen werden. Salia hielt das für eine hervorragende, charmante Idee, denn sie liebte Bücher, Erzählungen und den wundervollen Zauber, der in ihnen wohnte.

 

Außerdem war es mittlerweile schon ziemlich spät und sie verspürten beide ein leichtes Gefühl der Müdigkeit, eine Geschichte zum Einschlafen also genau passend. Viel mehr als Lesen, Zuhören und Kichern schien sowieso nicht mehr möglich. Das Vorlesen wäre zudem deutlich anstrengender gewesen als das gebannte Zuhören.

 

„Ready?“ Eines der Lieblingsworte von Paulina. Sie sprach es absichtlich sehr deutsch aus und versah es zusätzlich mit einem bayerischen, rollenden R. Es wirkte so entstellt, wie wenn jemand mit einem Akkordeon versuchen würde, in einer Jazzband mitzuwirken. Darüber mussten beide natürlich erneut herzhaft glucksen.

 

„Ja, schieß los“, antwortete Salia, gleichsam mit einem leichten Schmunzeln in ihrer Stimme und Freudentränen in den Augen, wie so häufig. Paulina formte daraufhin mit ihrer rechten Hand eine Pistole – sie streckte ihren langen Zeigefinger aus, reckte den Daumen nach oben und fuhr die restlichen Finger ein. Dann zielte sie auf Salia und sagte: „Peng, peng!“

 

„Haha, sehr witzig.“ Salia schlug sich ihre Hand an die Stirn.

 

„Kuscheltier zur Hand? Es wird schon etwas gruselig...“ 

 

„Oje, aber es ist keine Horrorgeschichte, oder? Du weißt ja, ich...“

 

„Manche sagen so, manche so.“

 

„Oh, Pauli, du machst mich echt fertig.“

 

„Wart‘ mal ab, Sally, das wird die Story gleich für mich übernehmen.“ Wieder ein rollendes R in einem englischen Wort. Salia reagierte mit einem verächtlichen, aber liebevollen Augenrollen, welches beinahe zu hören war. „Also gut. Es geht los."

 

Mit ihrem Rücken an die Holzwand gelehnt und sich gegenüber ihrer Freundin befindend, schaltete sie die grüne LED-Leuchte in der Optik eines Kaktus an. Dieser sollte sowohl heimelige Stimmung verbreiten als auch das nötige Licht spenden, sodass Paulina ihre händischen Notizen erkennen konnte. „Als Erstes kommen ein paar Infos, das ist quasi eine Art Vorgeschichte.“

 

Prolog:

Es waren einmal zwei Mädchen, Louise und Marina, die hatten sich über viele Wochen ein Baumhaus in ihrem Lieblingswald gebaut. Nun war es endlich soweit: Sie wollten ihren über dem Erdboden schwebenden Palast feierlich eröffnen und danach dort nächtigen. Das Wetter schien perfekt dafür, warm und trocken, obwohl die Uhr bereits Herbst zeigte. Sie packten Kissen, Decken, Schlafsäcke und ihre liebsten Plüschtiere ein, um es sich schön gemütlich machen zu können. Außerdem brachten sie belegte Brote, zuckerhaltige Getränke, Süßigkeiten, Chips, Zahnbürsten, LED-Kerzen, ein Fernglas und ihre Lieblingsbücher mit. Auch wenn sie ein bisschen Angst vor der tiefen Furcht besaßen, die die Stille und undurchdringliche Schwärze der Nacht in ihnen auslösen könnte, nahmen sie sich vor, stark und mutig zu bleiben und sich nicht gegenseitig zu verunsichern.

 

„Also liest dort niemand eine nervenzerfetzende Horrorgeschichte vor, oder?“, grätschte Salia scherzend dazwischen, wie immer sehr aufmerksam und gewitzt.

 

„Korrekt“, konterte Paulina relativ herb, um die Atmosphäre, die sie zu kreieren versuchte, nicht zu vertreiben. Salia erkannte jedoch genau, wie ein sanftes Lächeln ihre Lippen umspielte.

 

Hauptteil:

Die strahlenden Sterne zeichneten die schönsten Bilder auf die schwarze Leinwand des Nachthimmels, als Louise schon leicht verträumt die Strickleiter nach oben hievte. Sie rollte den Verbund aus Seilen und hölzernen Trittbrettern zusammen und verstaute ihn innerhalb der Hütte, links neben den offenen Eingang. Unvermittelt nahm sie einen merkwürdigen Geruch wahr, den sie zuvor, im Inneren des Häuschens, nicht bemerkt hatte und nun nicht einordnen konnte. Einige Meter weiter, in den Untiefen des Laubs, entdeckte sie ein lila-blaues Leuchten, wie eine Flamme aus Eis, doch es bewegte sich und schien keinen festen Platz zu besitzen. Im Licht der funkelnden Himmelskörper erkannte sie, dass sich der Abgrund unter ihr veränderte: Die Natur begann, sich zu regen und den Herbst freizulassen. Rauchiger Nebel legte sich plötzlich auf die Wiesen wie ein Leichentuch über frisch verstorbene Körper. Was vorher rot und gelb glänzte, zeigte sich nun in einem matten Grau. Ein nasser Herbststurm zog auf, wie aus dem Nichts. Die Temperaturen fielen.

 

Louise war irritiert und versuchte sich einzureden, bereits im Schlaf zu liegen und sich in einem Albtraum zu befinden. Sie zwickte sich in ihren schmalen Unterarm. Kleine Kerben verharrten in ihrer Haut, aber ansonsten passierte nichts. Leise, um ihre Freundin nicht zu wecken, griff sie um die Ecke, tastete nach der Kerze und schnappte sie sich. Leider musste sie schnell feststellen, dass sie mit ihr nicht besser oder weiter sehen konnte. Aber sie wurde wegen ihr gerade gesehen, das spürte sie, diese Gewissheit schlug in sie ein wie ein schriller Blitz. Leicht panisch knipste sie die Kerze wieder aus und lauschte. Ein Windstoß, der erste Bote des drohenden Orkans, trug eine unbekannte Stimme in ihre Ohren, dazu das krächzende Jaulen eines Werwolfs.

Sie krabbelte panisch in das Baumhaus zurück und rüttelte am Schlafsack von Marina. Doch Marina war fort. 

 

Diese kurze, dramaturgische Pause nutzte Salia, um die Lesung ihrer Freundin zu unterbrechen: „Also, ich muss sagen, du und deine Geschichte machen mir jetzt schon Angst. Der Nebel wie ein Leichentuch, also wirklich, ich wusste nicht, dass eine solche Wortwahl in dir schlummert. Das ist ja so makaber wie das, was Hr. Burkhard immer verfasst hat und wir eigentlich nicht hätten lesen sollen.“

 

„Weiter?“, entgegnete Paulina, trommelte dabei mit ihren Fingern nervös auf den Boden und blickte nur kurz von ihrem handgeschriebenen Manuskript auf. Ihre ansonsten so beeindruckend großen, lebendigen blauen Augen blieben im Zwielicht der Hütte ungewohnt stumm.

 

„Und Werwölfe... also echt, du hast wohl einmal zu häufig bei diesem schrecklichen Spiel in der Schule mitgemacht und den verrückten Einfällen unserer Klassenkameraden und des Erzählers gelauscht.“ Salia startete eine ihrer berühmten Tiraden, zwischen Wut und Belustigung, bei denen sie üblicherweise mit ihrem rechten Fuß auf den Boden stampfte, um die Wirkung ihrer Aussagen zu untermalen. „Fehlt nur noch diese verrückte, schreiende Oma, die jedes Mal stirbt. Sind wir mittlerweile zu alt für diese typischen Mädchengeschichten, in denen nichts passiert, aber es immer um Freundschaft, Liebe, Pferde, Regenbögen und Sonnenschein geht? Da kann man danach gut...“

 

„Weiter?“ Paulina ergötzte sich an ihrer neuen, ungewohnten Rolle, die kalt alle Einwände und Einwürfe ignorierte. 

 

„Nun, wenn es denn sein muss. Du nimmst das Ganze ja ziemlich ernst, so kenne ich dich gar nicht.“

 

„Ich lese weiter.“                                         

 

Bestürzt setzte sich Louise auf den Boden, um den Schock zu verdauen. Alles, was sie gesehen, gerochen und gehört hatte, ergab in ihrem Kopf keinen rechten Sinn. Ein abruptes Geräusch, ein Knacksen, wie das Brechen eines morschen Astes, ließ sie zusammenzucken. Sie zog sich hinter die hohen Planken des Baumhauses zurück, hielt die Luft an und spitzte die Ohren. Nichts. Sie hörte nichts mehr, und nie war ihr Stille so laut und einschüchternd vorgekommen wie in diesem Augenblick. Sie versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren und nicht in Panik zu verfallen, aber in ihrem Inneren brauten sich Schreie und unüberlegte Fluchtreflexe zusammen.

 

Die Wolken glitten wie im Zeitraffer über den Himmel und versammelten sich rund um den Mond, der sie eindeutig beobachtete. Sein fahles Licht, durch die Banden der Wolken nun kanalisiert und nicht mehr diffus, wies ihr ein wenig zu offensichtlich den Weg, direkt in die Richtung des bläulichen, tanzenden Feuers. Sollte es sie in ihr Verderben führen? Oder offenbarte es die schnellste Route zu ihrer verlorengegangenen besten Freundin? Ohne eine Antwort auf diese Frage gefunden zu haben, linste sie misstrauisch aus dem Fenster ihrer provisorischen Festung. Wieder Nichts. Der Pfad schlängelte sich leer und unbewohnt durch den Wald, begleitet von kleinen Nebelschwaden, die über die Erde huschten wie weiße Ratten. Ein paar Schritte weiter schlug er eine glänzende Schneise durch das ansonsten verworrene Dickicht und an seinem Ende flackerte die bekannte kalte Glut, die Louise und ihr Interesse anzog wie eine Motte.

 

Sie hatte keine Wahl, sie musste los. Aufgrund der kühlen Brise schlüpfte sie erst in ihre weiche Stoffweste und dann in ihre weinroten Sneaker. Danach ließ sie die selbstgebaute Strickleiter wieder nach unten fallen. Daraufhin erfasste sie eine kaum merkliche Druckwelle. Wie um sich vor einem unerwarteten Sandsturm zu schützen, schlug Louise instinktiv die Hände vors Gesicht. Als sie die Augen nach dem kurzen Ruck wieder öffnete, sah sie gerade noch, wie sich die Wolken und der Nebel wieder verzogen und das glimmende Feuer erlosch. Marina schlummerte munter und völlig ahnungslos vor sich hin, wie Louise an den lauten, gemächlichen Atemzügen ihrer Freundin ablesen konnte.

 

Sie selbst war fassungslos, aber auch erleichtert. In ihrem Hinterstübchen rührte sich etwas, sie wollte begreifen und dazu musste sie forschen. Deshalb griff sie wieder nach der Leiter und zog sie erneut nach oben, aber dieses Mal wie in Zeitlupe. Und tatsächlich: Sobald die Enden der Stricke den Kontakt zu Mutter Erde verloren, entstand ein Sprung im Glas der Realität. Die Szenerie verflüssigte sich, entkoppelte das Baumhaus von der echten Welt, wurde zu einem Zerrbild der Wirklichkeit, in der vieles identisch blieb, aber sich doch alles veränderte. Wieder dieser unbekannte Geruch, wieder diese eisige Flamme, wieder die Stimme, wieder die Wolken und der Wind. Marina war verschwunden.

 

Probe, neuerliche Versuchsanordnung, frische Beweise: Berührte die Leiter abermals den Boden, wurde das Baumhaus wieder wie ein Heißluftballon festgebunden und am Davonschweben gehindert. Die Normalität kämpfte sich in den Vordergrund zurück und zerriss die Kulisse der befremdlichen Parallelwelt wie ein loses Blatt Papier. Fasziniert und mit kindlicher Neugierde betrachtete Louise den munteren Wechsel der Dimensionen, den sie steuern konnte und der ihrem Willen unterlag, so als würde sie eine Schneekugel schütteln, immer und immer wieder. Sie hatte das große Bedürfnis, Marina ihr neues, verrücktes Spielzeug zu zeigen, aber das ging nicht. Verschwand die echte Welt, verschwand auch sie.

 

Sie zählte, clever wie sie war, eins und eins zusammen und ihr Schicksal offenbarte sich ihr. Die vom Mond beleuchtete Spur musste der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl sein, das war die Lösung! Sie musste ihre Freundin aus den Fängen der Imagination, aus den Auswüchsen der Phantasie befreien. Das war ihr Auftrag, ihre Quest.

Doch zuerst wollte sie sich vorbereiten, sich rüsten. Horchen und spähen. Wie gern hätte sie diese Aufklärungsarbeit gemeinsam mit Marina geleistet, die Einsamkeit mit ihr geteilt wie die Erkenntnisse, die sie sammelten. Außerdem könnte sie ihr Köpfchen und ihre schnelle Auffassungsgabe mehr als gut gebrauchen. Aber sie musste diese Aufgabe alleine bewältigen, ausnahmsweise, daran gab es keinen Zweifel. Sie wusste jedoch auch, dass sie das schaffen würde, sie glaubte an sich. Ihre Freundin im Stich zu lassen, war keine Option, in keiner der beiden Welten. Und sie wollte auch in diesem benachbarten Universum mit ihr zusammen sein. Koste es, was es wolle.

 

Leicht fröstelnd von den umherpeitschenden Böen, die ihr blondes Haar zerzausten, nahm sie am Rand des Baumhauses Platz, ließ die Beine über dem Schlund des lebenden Waldes baumeln und hantierte an Marinas Fernglas. Akustisch ließ sich nicht viel vernehmen – abgesehen von den Geräuschen des Lufthauchs, der sich durch die farblosen Blätter schlängelte und in den sich nur selten kleinere Stimmfetzen verirrten. Deshalb begann Louise rasch mit der optischen Detektivarbeit und guckte durch den Feldstecher, den Pfad entlang bis zum Ziel ihrer kommenden Reise. Die unmittelbar angrenzenden Farne, Büsche und Bäume schienen sich träge zur Seite zu neigen, um Louise eine bessere Sicht zu ermöglichen.

 

Ungläubig und mit offenem Mund sah sie eine Art Campingplatz, jedoch aus dem Reich der Fiktion. Statt Zelte befanden sich dort primitiv anmutende Verschläge aus braunen Holzstämmen und Tierfellen. Das azurblaue Lagerfeuer schwebte über der Grillstelle und benötigte keinerlei Brennmaterial, es zündelte ganz aus sich selbst heraus und sein Licht schien die Dunkelheit nicht einfach zu durchdringen, sondern zu vertreiben. Um es herum standen sieben, acht pelzige Werwölfe, mit langen Schnauzen und in wachsamer Habachtstellung. Die Hälfte von ihnen beobachtete den Wald, als erwarteten sie mögliche Eindringlinge. Der Rest betrachtete hungrig die gerösteten Flamingos, die an einem hohen, vom Ruß verfärbten Metallgestell über der züngelnden Glut befestigt waren, an ihren gewaltsam verdrehten und verknoteten langen Beinchen aufgehängt wie natürliche Piñatas an einem geflochtenen Tau. Das erklärte wohl den strengen Geruch, der am Anfang des Eintritts in diese Wirklichkeit umherströmte.

 

Weiter hinten auf dem Areal stand ein großes, hölzernes Totem, welches kunstvoll geschnitzt und geschliffen worden war. In schwarz und rot und weiß gehalten, zeigte es oben eine thronende Eule, wie eine Gottheit, die diese seltsame Gruppe an Wesen bei ihrem Tun beschützen sollte. Die kleineren Details des Pfahls konnte Louise nicht erkennen. Vage ausmachen ließen sich lediglich ein weiteres, tierisch wirkendes Gesicht mit gefletschten Zähnen, ein gezackter Fisch und ein umgedrehtes Herz, welches sich in der Brust des Kauzes befand. Unten, auf dem Boden stehend und an das mystische Objekt gebunden, befand sich Marina. Gefesselt, aber unversehrt und wohlauf.  

Beklemmung und Trotz machten sich in Louises Brust breit. Doch gerade als sie schon die Leiter fassen wollte, um ihre Mission zu starten, erblickte sie noch etwas, nein, jemanden anders, der das Totem gerade in gleichmäßigen Schritten umrundet hatte. Eine Person in einer braunen Robe stand nun vor Marina, streckte die Arme aus und murmelte irgendwelche Formeln in einer fremden, veralteten Sprache. Nur Bruchteile dieser seltsamen Sätze erreichten Louise, es war ihr deshalb nicht möglich, ihren Inhalt zu verstehen. Auch die Posen und Bewegungen der Gestalt blieben uneindeutig, aktuell wippte sie hypnotisch mit ihrem Oberkörper. Ihr Gesicht war zudem unter einer Kapuze verborgen. Sie konnte Marina gerade als Heiligkeit preisen und verehren, oder aber als lebendige Zutat für eine schwarzmagische Beschwörung opfern. Beides lag im Bereich des Möglichen.

 

Louise – und voraussichtlich auch Marina – blieb keine Zeit. Sie durfte nicht länger warten und musste ihre beste Freundin befreien. Sie hängte die oberste Sprosse an einem rostigen Nagel ein, der praktischerweise aus dem Gebälk ragte, sodass die Leiter weit nach unten reichen konnte, aber in der Luft blieb. Sowohl der Ab- als auch der Aufstieg sollten ihr damit mühelos gelingen können, war sie doch ausgesprochen sportlich und beweglich. Nur mit ihrem Mut und der tiefen Freundschaft zu Marina ausgerüstet, holte sie tief Luft, kletterte nach unten und sprang ab...

 

„Pauli, mir fallen die Augen zu, es ist echt schon spät. Und diese Geschichte... ich glaube, ich kann ansonsten wirklich nicht mehr schlafen. Willst du mir den Rest nicht morgen weiter vorlesen?“ In Salias leiser Stimme schwang Schläfrigkeit, aber auch ein kleines bisschen Beklemmung mit.

 

„Na, gut, wie du meinst. Es fehlt zwar nicht mehr viel bis zum Epilog, aber wie du siehst...“, sie gähnte unüberhörbar, „bin ich auch ziemlich fertig. Schlafen klingt gut für mich. Keine Ahnung, wie viel Uhr es ist."

 

„Uff, da bin ich ja froh, dass es überhaupt einen Epilog gibt. Aber ja, wir werden morgen früh genug geweckt werden, von den Vögeln und der Sonne. Nimm es mir bitte nicht krumm, mir hat die Geschichte gefallen, auch wenn sie für meinen Geschmack etwas blutrünstig war, aber für heute reicht’s einfach.“

 

„Alles gut, Sally.“ Paulina rutschte in ihren Schlafsack. „Nachti, bis morgen.“ Einige Minuten später stand sie aber nochmals auf, was die raschelnden Geräusche ihres Schlafsackes deutlich untermalten.

 

„Was ist los?“, fragte Salia, ihre Stimme schon eingenickt und wie mit Schleifpapier bearbeitet, so als wäre der Sand aus ihren Augen in ihren Kehlkopf gerieselt.

 

„Die Leiter“, erwiderte Paulina in sanftem Flüsterton, pflichtbewusst und verlässlich wie eh und je.

 

„Ach ja, stimmt, fast vergessen. Danke.“

 

Die funkelnden Himmelskörper zeichneten die schönsten Bilder auf die schwarze Leinwand des Nachthimmels, als Paulina schon leicht verträumt die Strickleiter des Baumhauses nach oben hievte. Sie rollte den Verbund aus Seilen und hölzernen Trittbrettern zusammen und verstaute ihn innerhalb der Hütte, rechts neben den offenen Eingang. Unversehens nahm sie einen merkwürdigen Geruch wahr, den sie zuvor, im Inneren des Häuschens, nicht bemerkt hatte und nun nicht einordnen konnte. Einige Meter weiter, in den Untiefen des Laubs, entdeckte sie ein rot-oranges Flimmern, wie ein glühendes Feuer, sie sah es tanzen und knistern. Im Licht der strahlenden Sterne erkannte sie, dass sich die Schlucht unter ihr veränderte: Die Natur begann sich zu regen und den Sommer einzusperren. Qualmender Nebel legte sich plötzlich auf die Wiesen wie ein Grabtuch über noch lebendige Körper. Was vorher grün funkelte, zeigte sich nun in einem melierten Grau. Ein feuchtes Gewitter zog auf, wie aus dem Nichts. Die Temperaturen fielen.  

 

Paulina war irritiert und versuchte sich einzureden, bereits im Schlaf zu liegen und sich in einem Albtraum zu befinden. Sie zwickte sich in ihren schmalen Unterarm. Kleine Furchen verweilten in ihrer Haut, aber ansonsten passierte nichts. Leise, um ihre Freundin nicht zu wecken, griff sie um die Ecke, tastete nach dem leuchtenden Kaktus und schnappte ihn sich. Leider stellte sie schnell fest, dass sie mit ihm nicht besser oder weiter sehen konnte. Aber sie wurde wegen ihm gerade gesehen, das spürte sie, diese Gewissheit fuhr in sie ein wie ein greller Blitz. Leicht panisch knipste sie den Kaktus wieder aus und lauschte. Ein Windstoß, der erste Bote des drohenden Unwetters, trug eine namenlose Stimme in ihre Ohren, dazu das heisere Bellen eines Hundes.            

 

Sie krabbelte hektisch in die Eingeweide des Baumhauses zurück und rüttelte am Schlafsack von Salia. Doch Salia war fort. 

 

 

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Das war eine gekürzte Version der Geschichte aus dem Buch »Am Buffet der Befindlichkeiten«

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