Im Spiegel

Die Duschkabine öffnet sich, sie atmet aus. Ein Schwall heißer Luft entströmt sehnsüchtig seiner Gefangenschaft und setzt sich begierig auf kühle Elemente des Badezimmers, die Freiheit bedeuten. Der gesamte, kleine Raum ist nun befallen von schwirrender Feuchtigkeit. Er steht unter der Herrschaft erregt umherziehender und erobernder Wassermoleküle, die jedoch wenige Minuten später Geschichte sein wird, wenn das Gas seine Mobilität verliert und, von äußeren Umständen getrieben, zurück in seinen ursprünglichen Zustand versetzt wird.

 

Gemeinsam mit der Lawine wachgeküssten Dampfes bin ich der Dusche entstiegen... 

Nackt, feucht und warm. Mit der linken Hand versuche ich, die Nebelschwaden zu lichten, während der rechte Arm blind nach einem Handtuch tastet, der Waffe der Wahl gegen das bedrohliche Nass.         

Während des Trocknens, während das angenehm borstige Frottee über meine Haut schabt und die tropfenden Invasionstruppen verscheucht und in sich aufnimmt, denke ich über die Ambivalenz des Wassers nach. Gerade noch war es reinigend und wurde als Heiland gegen die altbekannten Schadstoffe mit den Namen Schweiß und Schmutz gefeiert und vergöttert, nun verkörpert es selbst eine sakrilegische Belastung, die weggeschrubbt und weggeföhnt gehört. Erst ausgenutzt und nun abgeschoben, erst gedatet und nun geghostet. Einerseits kostbarer Quell des Lebens, der achtlos verschwendet wird, der privatisiert wird, statt Grundrecht zu sein. Andererseits Todbringer, der die Lebewesen unterjocht und abhängig gemacht, der zwei der schrecklichsten Arten zu sterben kreiert hat, das Verdursten und das Ertrinken. Beide sind grausam, langwierig, furchterregend, zehrend und das Gegenteil eines schnellen Abtretens, das Gegenteil einer sauberen Lösung.                     

Mein Kopf entlässt mich, der eingenickte Körper erwacht wieder und ist zurück in der echten Welt, so als hätte jemand laut geschnipst oder mir einen Klaps auf den Hinterkopf verpasst. Ich bin immer noch, nein, wieder nass. Völlig gedankenverloren hatte ich dagestanden, ohne Kontrolle, und die schwüle Luft brachte mich zum Schwitzen. Auseinandersetzung verloren, die Feuchtigkeit gewinnt. Kein Wunder, wenn man Feuchtigkeit mit Feuchtigkeit zu bekämpfen versucht, denke ich mir wieder, trete gleichzeitig vor den Spiegel und wische ungelenk das Kondenswasser ab, um mich selbst betrachten zu können.

 

Noch während mein Arm vom Spiegel zurückweicht, setzen sich neue Moleküle gierig und dreist auf die eben abgewischte Glasplatte. Sie grinsen mir frech ins Gesicht, welches sie in diesem Moment besser erkennen können als ich selbst.                                                                                                               

Obwohl ich die Hand, die gerade über die glatte Fläche gehuscht war, trotz ihrer Bewegung einigermaßen scharf erfassen konnte, sehe ich mich selbst lediglich als verschwommene Kreatur, als visuelles Echo. Soweit ich das in der tropischen Diesigkeit des Badezimmers feststellen kann, belauert sie mich und stellt alle meine Bewegungen lieblos nach. Welche Emotionen, welche Mimik mein unpräzises Abbild dabei zeigt, bleibt mir verborgen, denn sein Gesicht wirkt wie eine Bleistiftzeichnung, über die mit dem Finger gestrichen wurde.                                                                                                                               

Zögerlich nähere ich mich, um mein und sein Antlitz besser erforschen zu können. Ich versuche ein ungelenkes Lächeln, die Person im Spiegel lacht mich aus, glaube ich. Ich trete nochmals einen Schritt heran und starre in trübe Augen. Nein, eigentlich liegt nur ein wolkiger Schleier über ihnen, denn hinter der Gardine spicken klare, dunkelbraune Augen hervor, die verträumte Melancholie und kindliche Verlorenheit in einem unsicheren, gebrochenen, aber gleichzeitig durchdringenden Blick verschmelzen lassen. Ich fühle mich beobachtet, ertappt, herausgefordert, angefleht, alles im selben Moment. Ich habe den inneren Drang, nach dem Spiegel zu greifen und ihn zu rütteln, und damit auch mich selbst.

Ich stolpere zurück, weiche den Augen aus, wische wieder über das Glas, die Augen verschwinden, hinterlassen aber einen flehenden Abdruck. Zwei optische Rückstände, die nachschimmern wie diese Flecken, die sich in unsere Netzhaut brennen, wenn wir direkt in die Sonne schauen.

 

Nun versuche ich, meine Frisur zu richten. Ich wische und hantiere, lege und streichle, wuschle und drücke, aber keine Frisur entsteht, der Spiegel zeigt mir Hilflosigkeit. Ich reiße mir Büschel aus und lache dabei schadenfroh: Es muss weg, alles muss weg, denn es macht keinen Unterschied mehr! Meine Hände werden zu Fäusten und zerdrücken krampfhaft die ausgerissenen Haare, obwohl das gar nicht geht. Die Adern meiner Arme treten hervor, das feixende Gesicht verwandelt sich in eine gruselige Fratze, die mich ängstigt, die mich unkontrolliert in Schlieren umkreist.                           

Dann fällt mir auf, dass ich das Gesehene in Wirklichkeit gar nicht tue: Meine echten Arme packen nämlich die runden Ecken des Waschbeckens wie die Reling eines untergehenden Schiffes. Im Spiegel wohnt jemand anderes. Unsere einzige Gemeinsamkeit ist das Pulsieren der Blutbahnen, die hämmern und pumpen, die krampfen und zerren.

 

Schnell fasse ich wieder an das Glas und wische, versuche die Person zu verscheuchen. Ich stoße Gegenstände vom Regalbrett unterhalb des Spiegels, mir wird plötzlich schwindlig. Die Zahnbürste nimmt eine elegante Flugbahn in Richtung Boden, die Vibration ihres Aufpralls verscheucht lästige Staubkörner, die sich dort häuslich eingerichtet hatten. Ihr Tanzen lenkt mich kurz von den Ereignissen im Spiegel ab und lässt mich dieses milchige Tor meiner Seele für einen Augenblick vergessen.                                                                                                                                          

Ich schüttele mich, atme laut aus, schnaufe, starte neu. Als ich in das Waschbecken spähe, schlängelt sich Blut in den Abfluss. Die Klinge des Einwegrasierers hat sich in meinem linken Arm festgebissen, ohne dass ich es bemerkt hätte. In meinem Kopf klingelt es, eine schräge Melodie aus Häme und Schuld erreicht mein matschiges Bewusstsein, der Schmerz jedoch nicht, er bleibt ausgesperrt.

 

Was will mein Spiegelbild bloß von mir? Möchte es von mir Besitz ergreifen? Möchte es mir etwas zeigen? 

Verunsichert von mir selbst wie sonst nur von anderen brechen die Ticks aus mir heraus: Ich kratze mich am Schädel, greife nach meinem Oberarm und reibe mir am Kinn, was mein Ebenbild spöttisch, vielleicht sogar höhnisch, kopiert und mir damit meine eigene Lächerlichkeit unter die Nase reibt. Ich schwitze weiter, ich habe den Drang zu duschen. Der Mann im Spiegel tritt einen Schritt nach rechts, bevor er seine Idee verwirft, wieder auftaucht und sich in seine Starre zurückzieht. Als einzige Bewegung verbleibt das Keuchen, das Atmen, das den Oberkörper merklich senkt und hebt.

Leicht panisch nestele ich an meinem Armband und schließe die Augen, so als ob ich mein Gegenüber damit verscheuchen könnte, nur weil diese Methode bei all meinen anderen Problemen hilft. Langsam öffne ich das rechte Auge und halte vorsichtig Ausschau nach ihm. Der Spiegel blickt mit links zurück, dabei kann ich mein linkes Auge gar nicht ohne das rechte Auge öffnen, keine Ahnung warum, eine weitere körperliche Unzulänglichkeit. Das dort drüben, im Sumpf aus weißen Wolken, das kann also definitiv nicht ich sein, oder?

Ich habe das Gefühl, dass er näherkommt und mich einverleiben möchte. In aufrechtem Gang und nach mir lechzend, ich dagegen wieder auf das Waschbecken gelehnt, während eine gut sichtbare, rote Spur meine letzten Bewegungen fein säuberlich aufgezeichnet hat wie ein Seismograph.

 

Wir beobachten, inspizieren und belauern uns gegenseitig, wie Duellanten aus einer anderen Zeit, mit Hüten und Revolvern um zwölf Uhr mittags. Jetzt oder nie. Ich grapsche hektisch nach dem Deo und sprühe meinem Ebenbild laut schreiend ins Gesicht. Das Pfefferspray aus Aluminium und Alkohol bringt uns beide zum Husten, der Abstand zur Detonation war wohl zu gering, auch mich trifft die Rauchbombe. Das verrückte Toxin, welches wir uns unter die Achseln spritzen, um der Geruchskonformität der Gesellschaft zu entsprechen, steigt mir in die Nase und setzt sich fest. Auch auf meinem Rachen befindet sich nun eine Schicht aus merkwürdigen Chemikalien, die einen eigenartig metallischen Geschmack besitzen.

Ich spucke aus, mein Speichel vermischt sich auf der Keramik mit dem Blut und den dicken Schweißtropfen, die mittlerweile von meiner Stirn perlen. Die Flüssigkeiten tanzen einen psychotischen Reigen, bevor sie sich umschließen und in Zeitlupe kreiselnd zur Dunkelheit des Ablaufs trudeln. Drei Körperflüssigkeiten, Hand in Hand, die ihr negativer Ruf eint, die alle nicht gesehen und gerochen werden wollen. Dabei sind sie essentieller Bestandteil von uns allen.

 

Standhalten funktionierte nicht, ignorieren klappte nicht, auch die direkte Attacke blieb leider wirkungslos. Mein ungleicher Zwilling berappelt sich genauso schnell wie ich und blinzelt mich erschöpft, aber auch angriffslustig an. Ich wollte mich ihm stellen, glaube ich, aber ich konnte es nicht. Vielleicht kann ich mich aber auch erst stellen, wenn ich es mehr möchte, wirklich möchte.               

Bleibt die Flucht. Für manche die Strategie eines mutlosen Verlierers, eines Jammerlappens. Für andere die Taktik des Klügeren, des Deeskalierenden. Für mich das einzig Mögliche, das einzig Vorstellbare, das einzig Verbleibende, mal wieder. Wegrennen, wegstehlen, unsichtbar werden.

Denn ich kann die Fragen nicht länger ertragen: Ist er ich oder bin ich er? Ist er mehr wie ich als ich selbst? Wer ist Spiegelbild und wer ist echt? Wer ist eine Kopie von wem? Auf welcher Seite des Spiegels befindet sich die Realität, falls es diese überhaupt gibt? Und letztlich, wer bin ich, und wie bin ich, falls ich ich bin, und möchte ich so überhaupt sein?                                                                                                                                                                                

Doch für einen erfolgreichen Ausbruch muss ich sehen, um mich nicht noch mehr zu verlieren, noch mehr zu verirren in meinem eigenen Kopf. Den Spiegel nicht aus den Augen lassend taste ich heimlich nach links, den Blick starr geradeaus gerichtet, in der Hoffnung, er würde meinen Plan nicht durchschauen. Aber er sieht ihn sogar voraus, dazu ist er mir zu nahe, zu sehr verbunden.

Er verschwimmt jedoch ein bisschen, wellt sich, flackert kurz, weil er Böses ahnt. Er möchte sich auflösen und verschwinden, wie der Rauch, der sich von den mutwilligen Zerstörungen des Feuers entfernt, so als hätte er damit nichts zu tun, als würde er sich in Sicherheit bringen, als würde er der Verantwortung entkommen wollen. Ich taste weiter, finde, greife, bringe heran, meine zweite Hand gesellt sich rasch dazu und zusammen setzen sie auf.

 

Ich sehe klar, der Raum lichtet sich, der Vorhang fällt. Die Figur im Spiegel sieht nun wirklich aus wie ich, zwar noch ein wenig ungläubig, aber gleichzeitig kess, siegessicher, oder aber müde, matt und stumpf, die Grenzen sind fließend. Eigentlich ist alles in Ordnung. Das Wasser und seine nebulösen Verbündeten, die die Schleusen meiner Psyche geöffnet hatten, werden degradiert und vertrieben, die Risse und Spalten wieder versiegelt, wie ein Deo die Poren der Achseln schließt. Vorläufig, für bis zu 48h (anscheinend), nicht viel, aber immerhin.

Ich atme tief durch und versuche, meinen Puls zu senken. Die Schrecken meines Geistes sind erneut verjagt, die Stimmen versprengt, der Verstand ist ruhiggestellt. Ich klebe ein Pflaster auf meine Wunde am Arm und erfreue mich daran, wie schön und leicht sich körperliche Verletzungen heilen, verbinden und verbergen lassen. Notdürftig reinige ich das Waschbecken von den Rückständen meines Kampfes. Sie versickern im Rohr und versinken in der Bedeutungslosigkeit, so als wäre nichts gewesen.

 

Ich verlasse das fensterlose Badezimmer und öffne die Tür. Natürliches Licht strömt herein, ich folge ihm nach draußen. Kein neues Leben bricht heran, leider, aber immerhin ein neuer Tag.                

In meinem Rücken steht eine schemenhafte Person im Spiegel und winkt, als freue sie sich auf ein Wiedersehen.

Doch ich bemerke sie nicht. Im Gegensatz zu ihr verschwinde ich.

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