Thees Uhlmann, sein Roman & Ich

Über Zufälle bin ich auf den Roman »Sophia, der Tod & Ich« von Thees Uhlmann gestoßen, welcher 2015 erschienen ist. Die Geschichte, die Figuren und der plauderhafte, authentische Schreibstil gefielen mir schnell richtig gut, doch noch schneller bemerkte ich Ähnlichkeiten zwischen dem namenlosen Protagonisten und mir. Schnurstracks verdiente er sich meine Sympathie und ich schloss ihn in mein Herz, welches sich sonst nur so äußerst ungern öffnet.

 

Eine literarische Selbstanalyse.

Selten konnte ich mich mit einer literarischen Figur so gut identifizieren wie hier, die Parallelen sind beinahe beängstigend: Er ist sich trotz fortschreitenden Alters stets treu geblieben, wenngleich vielleicht auf Kosten der Reife und des mentalen Erwachsenwerdens. Er ist ein nerdiger Einzelgänger und meistens glücklich damit. Er ist dauernd ironisch bis sarkastisch, um sein unsicheres und wankelmütiges Inneres zu verschleiern, und kann auch die bedenklichsten Themen und fiesesten Ereignisse nicht so wirklich ernst nehmen (obwohl er es eigentlich sollte).

Trotz seiner rauen, kalten Schale ist er aber eigentlich ein liebenswerter, geborgenheitssuchender Kerl, der durch das Chaos, welches sich Leben nennt, eher hilfesuchend stolpert statt aufrecht geht. All seine Äußerungen sind gewitzt, flapsig und verworren, zeitweise aber ebenso philosophisch, moralisch, reflektiert und selbstironisch, wenngleich nicht immer beabsichtigt.

In den folgenden Zeilen nutze ich ein paar ausgewählte Zitate und Gedanken des Buches, um meine tiefe Verbundenheit mit dem Protagonisten und unsere gemeinsame Weltsicht herauszuarbeiten und darzustellen. Ganz getreu dem Motto: „In meinem Leben möchte ich auch nicht an der Seite stehen und zuschauen müssen.“

Zugegeben: Ex-Freundin Sophia äußert diese Bemerkung und nicht der Protagonist selbst, so viel Zeit fürs Detail muss dann doch sein. Der Ausspruch passt aber dennoch ganz gut zu meiner Selbstwahrnehmung.

 

 

Die Angst vor dem Läuten

 

Starten wir gleich mit etwas ziemlich Eigenartigem: Das Verhalten bzw. Nicht-Verhalten, wenn es an der Türe klingelt. Und der darauffolgende, langwierige Prozess des Tür-Öffnens, falls man sich tatsächlich dafür entscheiden sollte oder kann. Dieses eigentlich simple Alltagsschema Klingeln - Öffnen ist für den Protagonisten des Buches und für mich kein ebensolches. Zwischen den beiden Polen liegt mindestens Überraschung, dann eine Zeit des Nachdenkens, der Panik und der Unsicherheit. Etwas strange, ja, aber ist halt so.

Im Roman beginnt das wie folgt: „Dass ich die Tür öffnete, kam eh eigentlich nie vor.“ Das stimmt, obwohl ich mich gerne zuhause aufhalte, aber nur einen sehr überschaubaren Freundeskreis pflege. Und um einen Grund zu besitzen, die Tür zu öffnen, müsste es zuvor geläutet haben. Beim Protagonisten ist das wohl ähnlich, da er ergänzt, dass bei ihm ebenfalls fast nie jemand klingeln würde.  Wenn, dann sind es schwer beladene Postboten mit Paketen für mich selbst oder für die betriebsamen Nachbarn, die wie jedes Mal ausfliegen, wenn sie kostbare Fracht erwarten, wahrscheinlich aus der guten Gewissheit heraus, dass der alte Nerd im 1. Stockwerk die neuesten Bestellungen schon annehmen wird. Das entspricht zwar auch der Wahrheit, aber ich bin leider meist nicht über die Notwendigkeit meiner unausgesprochen angeforderten Rezeptionsarbeit informiert.

Ganz anders bei Paketen, die mir selbst zugestellt werden sollen: Da erwarte ich die entsprechende Lieferung natürlich bereits sehnsüchtig im Voraus, Paketnachverfolgungs-App sei Dank, minütlich überwacht im Live-Ticker, der Refresh-Button auf Anschlag. Oftmals stehe ich unten, bevor der ausgelaugte Packesel von DHL, Hermes & Co. überhaupt meinen Namen vom Klingelschild ablesen kann. Nur bei DPD klappt das leider nicht, deren Liefer-Prognose ist erschreckend weit von der Realität entfernt. Aber bei denen bin ich ja schon froh, wenn sie meine Adresse finden. 

 

Grundsätzlich lassen sich aber dank der futuristischen (Überwachungs-)Technik unliebsame Überraschungen und Störungen des Mittagsschlafs vermeiden. Denn hier sind wir beim entscheidenden Punkt angelangt, nämlich der Phase des Nachdenkens zwischen dem Wahrnehmen des schrillen Klingeltons und der optionalen Aktivität des Türöffnens. Thees Uhlmann beschreibt das so: „[...] dass ich nach dem Klingeln erst einmal darüber nachdachte, wer warum ausgerechnet bei mir klingeln könnte, und ich dann deswegen die Tür nicht öffnete.“ Zack, zu lange nachgedacht, der böse Klingler schon wieder weg. Problem erledigt?

Im Ernst, so absurd das klingen mag, ich kenne diese Momente und erlebe sie regelmäßig. Es ist nicht nur die rein körperliche Faulheit, die dieses (absichtliche?) Versäumen konstituiert. Es sind plötzliche Gedankengänge, nein Gedankenstraßen wie diese, die mich und meinen Körper in eine eigentlich völlig unnötige Starre versetzen:

„Scheiße, war meine Musik doch zu laut gestern?“ Oder andere mögliche Beschwerden.

„Habe ich noch irgendwas bestellt, diesen Umstand aber in der Hitze des erneuten Online-Kaufrausches vergessen?"

„Klingelstreich? Um diese Uhrzeit?!“

„Schornsteinfeger, Heizungsfritzen, Feuermelderkontrolleure... hing da letztens irgendwo ein Termin-Zettel?“

Und vor allem: „Könnte das ein Spontanbesuch irgendeines Freundes sein? Oh Gott, Hilfe, ich will gar keinen Kontakt zur Außenwelt heute! Das hat auf der Arbeit schon gereicht!“ Zum Glück (?) ist sowas jedoch ausgeschlossen, ich wiederhole, übersichtliche Sozialkontakte.

 

Gründe für die Furcht sind a) ein Sauhaufen in der Wohnung, b) ein Zerstören meines peniblen Tagesplans oder c) beides. Meine Tage sind meist relativ durchstrukturiert, Arbeit auswärts, Arbeit daheim, dann Zeit für mich, also Feierabend. Jeder Tag hält sich an ein ähnliches, gleichförmiges Programm.

Ausufernde Störungen in der Home-Office-Phase versuche ich zu vermeiden, klar, ergibt Sinn. Wenn aber gar in den letzten Abschnitt unangekündigte Besuche platzen, bin ich so sehr auf meine eigene »Qualitytime« (Zocken, Schreiben, Lesen etc.) fokussiert, dass ich die läutenden Personen nur zu gerne verpasse, obwohl ich faktisch Freizeit habe. Bin ich verabredet, ist das völlig okay und somit in den Tagesplan eingespeist, aber steht »Ich-Zeit« auf dem Programm, tue ich mich schwer, diese Zeit spontan und selbstlos zu opfern. Auch wenn ich nur unproduktiv dasitze. Der Feierabend ist trotzdem Zeit von mir für mich, die mich runterbringt und erholt. Mein Verhalten ist nicht böswillig gegenüber den Kontaktsuchenden gemeint und auch kein Zeichen dafür, dass ich keinen Kontakt mit dieser Person haben möchte. Nur eben nicht ohne Vorankündigung, nur eben nicht jetzt in dieser Sekunde.

 

In gleicher Weise gilt das auch für das Telefon. Ich telefoniere super ungern, vielleicht, weil ich nun mal einfach keine Plaudertasche bin und es in den meisten Fällen keine erzählenswerten Neuigkeiten gibt, da meine Tage, wie gesagt, nach Schema F ablaufen. Mein getaktetes Zeitmanagement schiebt lästige Alltagspflichten wie Anrufe (Ärztin, Friseurin etc.) außerdem in die Home-Office-Phase des Tages, um eine entspannte und unbelästigte »Ich-Zeit« im Anschluss zu garantieren.

Und sind wir mal ehrlich: Telefonate haben meist einen bestimmten, kleinen Auslöser, eine Frage oder Sache, die es zu klären gilt. Aber das Gespräch artet einfach regelmäßig aus, man kommt in die Smalltalk-Hölle, hört sich Lebensgeschichten an, ist Therapeut, arbeitet Probleme und Ereignisse auf. Bestenfalls vergisst man den eigentlichen Anlass sogar und schreibt die Frage „Kommst du jetzt morgen eigentlich auch zu XY und falls ja, kannst du mich mitnehmen?“ dann im Nachgang per Messenger.

Außerdem, das muss ich jetzt mal loswerden, empfinde ich es aus Sicht des Anrufenden anmaßend und dreist, dem ausgewählten Anrufsopfer ungefragt Zeit stehlen zu wollen und einfach davon auszugehen, dass dieses jetzt ungefragt in diesem Moment mitunter ewig Zeit für mich und mein Anliegen haben muss und wird. Andere Leute einfach anzurufen und vollzulabern ist damit ein egomanisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit.                               

 

Ob das Klingeln an der Türe oder das des Telefons: Aus Angst vor Zeitverlust nehme ich den Hörer nicht ab oder drücke nicht die Klinke. Teure »Ich-Zeit«, die sich oft genug nur schwerlich freischaufeln lässt und knapp bemessen ist, würde sonst verrinnen, mein Tagesplan auseinanderfallen – so fühlt es sich zumindest an, was natürlich totaler Quatsch ist. Oder ich komme gar nicht dazu, diese absurde Angst zu entwickeln, weil ich erstmal alle möglichen Szenarien durchspielen muss, wer da aus welchen Gründen überhaupt (durch)klingeln könnte, und die Person leider schon weg ist, bevor ich mich entscheide, nicht zu öffnen oder nicht ranzugehen.

Möglicherweise finde ich es auch einfach deprimierend, dass alle anderen ständig großartige Neuigkeiten zu erzählen haben beziehungsweise diese Leute denken, dass sie großartige Neuigkeiten zu erzählen hätten, dabei stimmt das gar nicht. Während ich auf die Frage „Was gibt's Neues?“ meistens gelangweilt mit „Ach, eigentlich nichts.“ antworte und damit nicht einmal übertreibe. Ich bin damit zufrieden. Aber die anderen tun immer so, als wäre Stillstand ein verachtenswertes Übel und nur der ständige Fortschritt – bzw. realistisch betrachtet: die ständige Bewegung – ein hehres Ziel.

 

 

Bedürfnis nach Ruhe

 

Möglichem Ärger aus dem Weg zu gehen, bevor er überhaupt entstehen kann, ist eine Maxime, mit der ich mit absolut identifizieren kann. Dieser „soziale Autismus“, wie Sophia das spöttisch nennt, ist bei mir exakt so ausgeprägt wie beim Protagonisten. Ich zahle lieber das Park- oder Zugticket – auch wenn es mir absurd teuer vorkommt –, oder kaufe die Eintrittskarte für einen Ausflugsort – auch wenn es eigentlich frech ist, für ein Stück eingezäunte Natur Geld zu verlangen –, oder halte mich an noch so absurde Regeln, einfach nur deshalb, weil ich sonst ein schlechtes Gewissen hätte und es potenziell nach Stunk riechen könnte. Im Buch klingt das so: „Ich hab einfach keinen Bock auf Stress. Ich hab keinen Bock auf Gesabbel. Ich will einfach meine Ruhe und in meiner Ruhe in Ruhe gelassen werden.“

Schöner hätte ich es nicht sagen können – diese Einstellung spielt wahrscheinlich auch bei der zuvor behandelten »Angst vor dem Läuten« eine nicht unerhebliche Rolle. Denn stupides Gerede und vermeidbare Planabweichungen gehen mir seit jeher gehörig gegen den Strich. So viel kostbare Luft, so viel verschwendeter Atem, so viel verlorene innere Entspannung.

 

Selbst entwickelte Lebenslügen – oder zumindest Äußerungen, die einen zügigen Fluchtweg aus einer brenzligen Situation aufzeigen – helfen mir (und dem Protagonisten), die äußere Welt zufriedenzustellen, während in der inneren Welt die Wellen toben. „Mir geht’s gut, passt“, „Ja, stimmt, du hast Recht“ – Hauptsache langwierigen Auseinandersetzungen oder dem verhassten Alibi-Smalltalk entkommen, um schneller zurück ins Schneckenhaus kriechen zu können.

Wenn ich tatsächlich auf die Frage „Wie geht es dir?“ antworten wollen würde, müsste ich erst einmal eine lange Zeit darüber nachdenken, und es würde definitiv ein noch längerer Monolog folgen. Zu mir würde Sophia genau wie zum Protagonisten sagen: „Du bist wirklich der einzige, der überlegen muss, wie es ihm geht.“ Dabei traue ich Floskeln einfach nicht und hätte einfach nur gerne eine Statistik, wie viele Menschen ihr „Mir geht es gut, danke!“ wirklich ernst meinen.

Ich stehe nicht so auf schwarz und weiß, für mich gibt es nun einmal abartig viele Farbnuancen dazwischen, deswegen fallen mir auch schnelle Entscheidungen schwer, weil ich gerne alle Varianten durchdenken möchte, auf Kosten der Spontaneität. Und diese Nuancen bzw. Überlegungen kann man eben einfach nicht in Kürze darstellen oder in Eile anstellen – auf langes Kauderwelsch und Küchenpsychologie habe ich auf der anderen Seite aber auch keine große Lust. Und so mache ich das meiste mit mir und in mir selbst aus – ob das so gut ist, sei dahingestellt.

Das ändert sich nur, wenn ich entweder unter Alkohol stehe oder in überragender Laune bin. Dann bin ich „nicht mehr so verhangen und mit dem Kopf in den Wolken“, wie das die Mutter des Protagonisten treffend beschreibt. Dann kann es regelrecht aus mir raussprudeln, ich öffne mich (zumindest ein Stückchen), werde gesprächiger und persönlicher. Blöd nur, dass es meist nur selten Gründe gibt, wirklich extrem gut drauf zu sein. Kopf in den Wolken eben.

Oder wie der Tod im Roman so nett formuliert: „Manche reden mit der Welt, und andere reden mit sich.“

 

Im Prinzip überträgt sich die benötigte innere Ruhe auf das äußere Erscheinungsbild. Andere, mir unbekannte Menschen, bewerten mich als einen grauen, unauffälligen Typen, wenig (offensichtlich) spannend, schwer zu knacken, unnahbar, der in seiner Eigenbrötlerei vielleicht sogar ein bisschen arrogant wirkt. Menschen, die ich kenne, sehen das ähnlich. Manche schätzen jedoch auch die Ruhe, die ich ausstrahle, die schwere Entzündlichkeit, die Zurückhaltung, die Entspanntheit, die Entschleunigung, und mich damit als Fels in der Brandung.

Auch manche Frauen nehmen das zu Beginn so wahr, erfreuen sich an meiner Funktion als Ruhepol, als verlässlichen Anker in ihrem Leben. Zumindest so lange, bis ich dann doch zu langweilig werde und sie sich wieder nach Action und wildem Dschungelabenteuer sehnen. Ich war deshalb nie ein Weiberheld, trotz eines Studiums mit Frauenquote nah an 100%. Der Protagonist im Buch findet dafür folgende Erklärung „Menschen wie mich liebt man nicht. Menschen wie ich sind da, ohne dass man sie groß bemerkt. Wir sind das Gegenteil von den Menschen in der Werbung.“ Eben anders und auf den ersten Blick nun wirklich nicht aufregend. Grundsolide ja, aber ohne exotischen Reiz.                                                                                                                                                                                                                                                                                                 

Mein Wunsch: Ein Leben in geregelten Bahnen, jedoch mit der lebhaften Sehnsucht, nicht festgefahren zu sein. Das Ausbrechen aus dem Strudel des Alltags gelingt aber leider oft nur in Sondersituationen – beim Protagonisten sogar erst durch das Kennenlernen des personifizierten Todes. Seine Mutter klagt zuvor: „Bei dir bewegt sich nichts. Bei dir ist nichts mehr passiert, seitdem du sprechen und laufen gelernt hast. Du bist […] stoisch wie die Bewohner einer Nordseeinsel im Herbststurm.“

Vielleicht habe ich deshalb so viel Gefallen an skandinavischen Ländern und Norddeutschland gefunden, weil es da genug wetterbedingte Gründe gibt, sich daheim verkriechen zu können, ohne soziale Zwangsverpflichtungen und ohne schlechtes Gewissen. Unnötiges Gelaber wird dort gleichsam verurteilt. Wie die deutschen Nordlichter zu sagen pflegen: „Moin Moin ist schon Gesabbel. Moin reicht.“

Da streifen wir ein weiteres Thema: Der Protagonist beschreibt im Buch, dass er ein interaktives Weltkartenposter mit Stecknadeln besitzt, auf der er seine bereits bereisten Orte kennzeichnen kann, tatsächlich aber nur zwei Orte (sein Heimat- und der aktuelle Wohnort) markiert sind. So schlimm ist es bei mir nun wirklich nicht… aber: Reisen ist für mich maximale Überwindung, eine Steigerung zum Alltag. Fremde Orte, fremde Menschen mit fremder Sprache, fremde Sitten. Reisen braucht Planung, Spontaneität und Geld, und das alles gleichzeitig. In Punkt 1 kann ich mich reinsteigern und neige dazu, alles zu verkopfen, Punkt 2 und 3 besitze ich selten.

 

Und gerade auf die Art von »Urlaub«, die die meisten machen, habe ich noch weniger Lust: Für viele ist Reisen doch auch nur ein neurotisches Abklappern der immer gleichen Örtlichkeiten, die von irgendwelchen in unseren Köpfen hausenden Sightseeing-Nazis als »must-visits« bezeichnet werden. Das Leben und die Kultur dort wirklich kennen zu lernen ist eine zu vernachlässigende Nebensache. Die Hauptsache ist das Schießen von eindrucksvollen Reisefotos und Standard-Selfies, um sich und seinen Ausflug stilecht im Netz präsentieren zu können. Selbst das Reisen ist damit mittlerweile einer gewissen Fremdbestimmung unterworfen, es gilt, eine Liste an Pflichtlocations abzuarbeiten. Noch ein Selfie hier, und uuh, schau mal, wo ich war, wo mich mein dringendes Bedürfnis, das 1x1 des westeuropäischen Reisens abzuhaken, hingeführt hat. Ja, ganz toll und brav hast du das erledigt, liebe Narzisse, super!

Der Inbegriff dieses sich wiederholenden Vorganges ist London – nichts, rein gar nichts erscheint mir unattraktiver als London. Gefühlt alle waren schon da, alles vermeintlich Wichtige hat man schon bis zum Erbrechen auf Fotos und in Videos gesehen bzw. sehen müssen. Die schaurige Atmosphäre aus dunstigem Wetter, grotesk geschwollen redenden Menschen, der aus der Zeit gefallenen und schrecklich albernen Kommerz-Monarchie sowie dem miesen Essen braucht eigentlich kein vernunftbegabter Mensch. London ist das lebende Klischee, das ist keine einzigartige Stadt, sondern ein Magnet aus Kalkül, aus Gier, aus wechselseitiger Selbstinszenierungs- und Geltungssucht. Zumindest das oberflächliche London, für das die meisten Leute nun einmal für ein paar Tage dahin reisen. Oh toll, das tausendste austauschbare Mädel XY in der gleichen Pose vor dem noch austauschbareren Big Ben, Wahnsinn, mitreißend, echt – was eine tolle Erinnerung! Und im Hintergrund des Bildes sieht man, wenn man ausnahmsweise mal genauer hinschaut, wie sich zwanzig andere in derselben Pose vor dem gleichen Objekt instatauglich fotografieren lassen.

„Wie, du warst noch nicht in London?“ „Ja, stell dir vor, muss und will ich auch nicht, und ich habe dennoch alles gesehen!“ Wirklich kein Mensch auf der Welt möchte noch diese absurden Wachposten mit ihren noch absurderen Hauben sehen, die alte klapprige Königin in ihren Kanarienvogeloutfits, die roten Doppeldeckerbusse, das Riesenrad… nein, keiner! Am besten im Anschluss direkt noch nach Paris weiterziehen, oder? Kotz!

Am besten gefallen mir dann außerdem die Reisenden, die immer auf umweltbewusst und ökologisch tun, die mich rösten, weil ich der Notwendigkeit halber eine Plastiktüte nutze, aber dann jedes verlängerte Wochenende mit dem Flugzeug irgendwohin düsen, einfach weil sie es sich leisten können, obwohl es sich unser einigermaßen liebgewonnener Planet bald nicht mehr leisten kann.

Oder die, die sich ein All-Inclusive-Hotel buchen und danach freudig erregt erzählen: „Ich war in Land Z“, dabei haben sie von Land Z gar nichts gesehen, die Anlage könnte auch in Land G oder P gestanden haben, weil die konstruierten Touristengebiete überall gleich aussehen und sie den komfortablen Hotelkomplex 7 Tage nicht verlassen hatten. Wenn das Flugzeug heimlich nach Q geflogen wäre statt nach Z, hätten sie das nicht einmal bemerkt. Der einzige Moment, in dem sie überhaupt feststellen konnten, dass sie sich augenscheinlich nicht in Deutschland befanden, war, als der braungebrannte Kellner "funf" statt "fünf" sagte, und sie das witzig oder charmant fanden.

Und schon habe ich mich wieder grundlos aufgeregt. Denn ich kann es natürlich auch sehr gut nachvollziehen, wenn Menschen sich von ihrem hart erarbeiteten Geld endlich mal einen Hauch Luxus gönnen möchten, endlich mal sorgenfrei (zumindest für diese eine verdammte Woche) das Leben genießen wollen, bevor der unaufhaltsame und wiederkehrende Stress des Alltags sie erneut verschluckt, vielleicht sogar zerkaut. Diese Menschen sehnen sich im Endeffekt auch nur nach Entspannung, Sicherheit, Sorglosigkeit, Pool, Strand, Stand-by und 24/7-Alkohol, es war für sie schließlich schon ein Kampf, diese Reise überhaupt möglich zu machen, da lässt es sich nur zu leicht darauf verzichten, auch noch im Urlaub eigenhändigen Aufwand für irgendetwas zu betreiben. Selbst verordnete Passivität als Appetizer und Muntermacher, bevor die lange Schlange vor dem großzügig ausgestatten Buffet der Befindlichkeiten wieder süffisant züngelt, dreimal am Tag. Daher kann ich ihnen nicht wirklich böse sein, nein, ich kann es sogar wirklich verstehen. 

Aber wenn ich schon reisen muss/darf/soll/kann, dann doch lieber ab nach Skandinavien, in den Norden, in die Natur, wo alles etwas weniger künstlich und erzwungen daherkommt. Auch auf der Suche nach Ruhe, aber echter Ruhe. Und damit schließt sich der Kreis.

 

 

Sicht auf die Dinge

 

Ich hatte vorhin von Lebenslügen und verbalen Notausgängen geschrieben – werden diese Allgemeinplätze jedoch von anderen in meine Richtung vorgetragen, empfinde ich diese als ironisch bis sarkastisch. Als Autodidakt in Sachen effektivem Zynismus – der in einer schleichenden Art und Weise irgendwann die Oberhand übernahm und mich langsam überwältigte – finde ich Sätze wie „Wird schon klappen“ und „Kopf hoch, alles wird gut“ ziemlich primitiv, ziemlich naiv, denn so leicht klappt nichts und so leicht wird nie alles gut (was auch immer das im konkreten Fall bedeuten mag). Die Welt ist nicht einfach, und als Vieldenker macht man sich die Welt noch komplizierter als sie eigentlich schon ist. Und im Umkehrschluss ist es eben nicht leicht, den Kopf hochzunehmen, wenn offensichtlich nichts ohne Weiteres gut ist und wird. Das Karussell dreht sich.

 

Nennt mich fatalistisch, aber: Die Welt besteht, genau genommen, zu einem nicht gerade geringen Teil aus dampfender Scheiße. Dümmliche, egomanische Arschlochmenschen haben Erfolg (weil sie Selbstbewusstsein aus ihrer Dummheit und selbst eingeredeten Geilheit ableiten können), in ihrer protzigen, vereinfachten und aus Äußerlichkeiten bestehenden Welt gelingt ihnen alles, während die größten Philosophen und Wissenschaftler, die aufopferungsvollsten, sozialsten Diener der Gesellschaft (wie z.B. Erziehende, Lehrkräfte, Pflege-, Betreuungs- und medizinisches Personal) keinerlei Bedeutung erlangen und dafür Jahr für Jahr noch weniger Wertschätzung erfahren – sie sehnen sich vielleicht auch nicht so sehr nach Privilegien, nach Anerkennung, nach Geltung, nach Gehör, nach Geld, aber sie hätten es definitiv verdient.

Grenzdebile Influencer verdienen sich gleichzeitig eine goldene Nase, ohne irgendwas zu können, außer unbegründet Geld dafür zu bekommen. Von Schicksalsschlägen gezeichnete, am Existenzminimum lebende und täglich am Limit schuftende Menschen versinken in Depressionen und Armut, während zufällig und glücklicherweise in elitären Verhältnissen geborene Schwachmaten das Leben in vollen Zügen genießen dürfen und dafür nicht einmal das 9-Euro-Ticket des Proletariats benötigen. Der Erbadel aktuellster Prägung.

Vitamin B und Arschkriecherei werden belohnt – Können, Talent und Fleiß nicht. Menschen werden entlassen, der Börsen-Kurs der Firma steigt. Von der Leyen ist EU-Chefin. Menschen wollen Ertrinkende nicht retten; Menschen nutzen Fluchtbewegungen aus, um inkognito in andere Länder zu reisen, um dort Zwietracht und Terror zu säen, auf Kosten so vieler indirekt und direkt Beteiligter. Leute, die über alles nachdenken und die besten Lösungen suchen, kommen keinen Schritt weiter, weil den unreflektierten, schwarz-weiß-denkenden und es sich einfach machenden Menschen in dieser Zeit alles in den Schoß fällt. 

So ist die Welt. Niemand kann mir etwas anderes erzählen. „Du musst an das Gute im Menschen glauben“ – hört mir auf, das könnt ihr euch als buntes Wand-Tattoo ins Schlafzimmer kleben, aber deshalb wird es auch nicht wahrer. Ok, außer, wenn ihr natürlich enttäuscht werden wollt, dann könnt ihr euch entweder Wand-Tattoos besorgen oder tatsächlich daran glauben.

 

Schaut euch doch nur den ehemaligen Präsidenten der USA an, den kennzeichnen alle Eigenschaften, die ich als negativ erachten würde, und verschmilzt sie sogar zu einem wahren Egomanie-Monstrum, zu einem Sonnengott nach heutiger Handschrift (nur die lächerliche Frisur bleibt auf traditioneller Linie erhalten), zu einer reinen Personifizierung von Großkotzigkeit, Antipathie und Populismus – und ein solcher wird einfach mal leichtfertig ins Präsidentenamt gewählt (und in ein paar Jahren vielleicht sogar erneut, ausschließen würde ich das nicht)!

In der Trump-Ära zeigte sich mal wieder das hässliche Antlitz, das wahre Gesicht weiter Teile der Bevölkerung. Denn die kleinen Männer und die kleinen Frauen sind eben doch noch immer einfältiger und rückständiger, als man das gemeinhin vermuten mag, während man sich voller Hoffnung und in guter Absicht schützend vor sie wirft. Sie stehen eben auf Überheblichkeit, auf Führungspersönlichkeit, auf Stolz, auf Krieg, auf Protz, auf Fanatismus, auf Recht haben, auf Konservatismus, auf Abgrenzung, auf einfache Lösungen und auf rücksichtslosen Konsum. Das ist der Fetisch der Gesellschaft, und in unregelmäßigen Abständen, in günstigen Momenten, gibt es Phasen, in denen er sich offen zeigt. Das wird sich nie ändern. Reflexionskompetenz, das Eingestehen eigener Fehler und Unwissenheit, Rationalität, Moral, (so-ziale Verantwortung), Selbstlosigkeit, Ethik, Rücksichtnahme – Tugenden für Loser!

 

Nur deshalb flüchten sich Leute auf der anderen Seite des Spektrums überhaupt in virtuelle Welten, in Bücher, Filme, Serien und Spiele, weil man die echte nicht ertragen kann. In diesen Phantasiegespinsten, mal nah am echten Leben, mal weniger, sind die Menschen zwar ebenso scheiße, gewaltbesessen, selbstverliebt, heuchlerisch, opportunistisch und eindimensional, aber immerhin kann man sich selbst einreden, dass das alles doch nur Fiktion gewesen sei.

Bis man das Fenster öffnet oder gar auf die Straße geht. Wer mal im Einzelhandel gearbeitet hat, hat diese Menschen mit ziemlich großer Sicherheit kennenlernen dürfen. Kunden, die samstags um kurz vor 20 Uhr noch schnell und stürmisch den Laden betreten, um sich wie tollwütige Auerhähne aufzuspielen. Die die ganze Woche zuvor echt gar keine Zeit hatten, irgendwo und irgendwann einkaufen zu gehen, und in der Hektik der späten Stunde kocht sich nun jeder Fehlgriff eines Mitarbeiters und jede falsche Information gleich zu einem Spiel auf Leben und Tod hoch, verbale Backpfeifen.

Gleichsam unerträglich waren Kunden, die sich vor den Weihnachtsfeiertagen echauffierten und rumpelstilzchenmäßig aufführten, weil sie völlig gestresst noch riesige Mengen einkaufen gehen mussten, ohne sich dabei auch nur ein einziges Mal in die armen Einzelhändler hineinzuversetzen, die selbst am 24.12 noch bis mittags arbeiten müssen und nur diese eigentlich das Recht besäßen, sich zu beschweren, sich zu fragen, wann sie selbst eigentlich einkaufen gehen sollen, während sie vor den (für manche) schönsten Tagen des Jahres, den Tagen der Eintracht und der Gemütlichkeit, noch einmal stundenlang von rasenden Rentnern und maulenden Myrten angeschissen werden, was den Geist der Weihnacht schon ein wenig vertreibt, bevor er überhaupt in diese aufopferungsvollen Menschen fahren darf. Die lästige Weihnachtslieder-Playlist auf Repeat, die im durchschnittlichen Supermarkt in ihrer kitschigen, monotonen Grausamkeit vor sich hin dudelt, erhöht die potenzielle Gewaltbereitschaft und nervliche Anspannung auf beiden Seiten zusätzlich. Dass unter diesen Umständen noch nicht mehr passiert ist, gleicht einem Weihnachtswunder.

Auch nett: Kunden, besonders ältere, die schon länger einkaufen als ich lebe, die aber immer noch nicht verstanden haben, dass man Artikel abscannen muss, es so etwas wie Flaschenpfand gibt und die minutenlang ihr wertloses Kupfer abzählen, während hinter ihnen die Schlange wächst und wächst und die sich dann über „die ungeduldige Jugend“ aufregen, die sich so egoistisch verhalten würde. Aber was darf man auch grundlegend von Menschen erwarten, die für einen Arsch voll Geld Naturell(e)-Wasser kaufen, Woche für Woche, am besten noch in schäbigen Einwegflaschen, obwohl sie bestes Leitungswasser aus dem heimischen Hahn in ihre Gläser schütten könnten.

 

Sind wir mal ehrlich, man tritt aus der Tür und sieht größtenteils Idioten. Und Idioten nerven übelst. Das ist einfach Fakt. Rede ich mir zumindest ein. Jedenfalls will ich deshalb gar nicht allzu viele dieser unserer Gattung kennenlernen, weil das sonst eh nur zu Problemen und Stress führt, ich angewidert bin oder beides zusammen. Vielleicht bin ich aber auch nur deshalb so pessimistisch, weil ich manchmal das Gefühl habe, vom Pech verfolgt zu werden (»Pechbury«) – selbst kleinste Dinge, die bei (allen) anderen glattgehen, führen bei meiner Fahrt durchs Leben zu heftigen Schlangenlinien bei Regenwetter.

Der Zynismus, einmal erlernt, wird schnell zu einer grundlegenden Lebenseinstellung, und damit zu einer ernstzunehmenden Krankheit. Nichts kann mehr ernst genommen, alles muss ins Lächerliche gezogen werden. Ich bin in Gesprächsgruppen derjenige, der sich inhaltlich kaum beteiligt, der aber für den unnötigen und deplatzierten Gag sorgt. Dieser Gag ist dabei meist nicht einmal selbst ausgedacht, sondern zuvor aufgeschnappt worden, wie es auch der Protagonist in seinen Aussagen zugibt. Juhu, endlich habe ich ihn mal wieder erwähnt, bin ja leider etwas abgeschweift. Er, also der Gag, ist aber dennoch die einzige Möglichkeit, bei all der Ernsthaftigkeit oder Absurdität der stattfindenden Diskussion wieder (kurzzeitig) Anschluss zu finden. Wie als würde man aus der Ecke am Ende des anderen Raumes winken und leise rufen: „Hey, ich bin auch noch da!“ Dabei wurde man zuvor gar nicht kalt in die Ecke abserviert, sondern hat sich selbst dorthin gestellt, und möchte nun wieder zurück an den Tisch kommen, zumindest für einen Augenblick.

Ach ja, Zynismus. Politische Versprechen? Rufen maximal ein müdes Lächeln hervor. Unzuverlässige, lügende Menschen wollen sich »bessern«? Müdes Lächeln. Meine Bahn hat Stand jetzt keine Verspätung? Müdes Lächeln. Der Hamburger SV steht auf Platz 2? Müdes Lächeln. Der Zynismus und ich ahnen Dinge, die am Ende leider oft eintreten, so als hätten wir sie selbst beschworen. Zwischen Realismus und Pessimismus verläuft eben nur ein schmaler Grat. Diese selbsterfüllende Prophezeiung wird dann als Erfolgserlebnis verbucht, inklusive des Gefühls des Sieges, der Bestätigung, der Überlegenheit. Diese machen jedoch ihrerseits süchtig und nähren Kollege Zynismus. Teufelskreis.

Schlussendlich lebe ich deshalb nach der Maxime: „Wenn man nichts erwartet, kann man nicht enttäuscht werden.“ Falls es dennoch enttäuschend ist, ist es automatisch weniger enttäuschend, weil man das ja so vorausgesehen hat. Umgekehrt ist die Freude umso größer, falls sich doch mal positive Überraschungen einstellen sollten. Psychologische Win-Win-Situation.

 

Gerade aufgrund meiner Einzelhandelserfahrungen, um auf diese noch einmal zurückzukommen, skizzierte sich in mir ein ziemlich negatives Gesellschafts- und Menschenbild, welches von den Erfahrungen des Studiums, der Hochschulpolitik und des Referendariats zusätzlich ausgemalt wurde, die nämlich unter anderem Postengeschacher, Realitätsfremde, Intransparenz, Stiefelleckerei und dubiose Machenschaften sowohl hinter als auch vor den Kulissen bereithielten. Selbstverständlich trafen diese eindrücklichen und nachhaltigen Real-Life-Erfahrungen bei mir auf einen grund-pessimistischen Nährboden, weshalb das Bedürfnis, so wenig wie nur möglich unter (fremden) Menschen sein und ihr Treiben beobachten zu müssen, geradezu gen Himmel wucherte.

Jedenfalls, hier noch eine Anekdote in Bezug auf den Einzelhandel: Natürlich sind die Menschen, denen man begegnet, und die Geschichten, die sich ereignen, unglaublich abhängig davon, in welchem Laden man arbeitet, welche Artikel man anbietet und welche Klientel an Kunden man anlockt bzw. anlocken möchte.

Denke ich an meine Zeit als Nebenjobber während des Studiums in einem Billig-Baumarkt zurück, kommt mir im Nachhinein das Grauen. Sicher, es gab auch höfliche, interessierte, respektvolle Kunden, die lediglich Hilfe suchten; ein großer Teil, auch weil Hauptzielgruppe, verhielt sich ganz nach dem Motto „Der Kunde ist König“, welches sich ähnlich wie „Geiz ist geil“ vollkommen in der Mentalität der Gesellschaft bzw. dieses Gesellschaftsteiles festgefressen hat.

Das heißt konkret, dass diese in einen kindlichen Egozentrismus verfielen, wenn ihnen etwas nicht passte oder sie (dringende) Wünsche hatten, allerdings mit der rhetorischen Bösartigkeit eines Erwachsenen (oder einer besorgniserregenden sprachlichen Fragmentartigkeit, je nach Fall). Inhaltlich ging es, unabhängig von der sprachlichen Qualität der Botschaften, in diese Richtung:

„Ich will zusätzlichen Rabatt (grundsätzlich und bedingungslos).“ 

„Ich will zusätzlichen Rabatt, weil die Verpackung einen kleinen Knick hat. Völlig irrelevant, dass der Artikel selbst damit gar nichts zu tun hat. Ach, Sie haben gesehen, wie ich die Packung vorhin willentlich habe fallen lassen? Frechheit, Verleumdung!“

„Ich will mit dem Filialleiter reden, weil mir immer noch niemand Rabatt gibt.“

„Ich will mit dem Filialleiter reden, weil ich zu blöd bin, Preisschilder zu lesen oder zu faul bin, Artikel suchen zu müssen. Sauladen hier!“

„Ich will mit dem Filialleiter reden, nicht mit der Filialleiterin. Ich befinde mich hier in einem Baumarkt, was soll mir eine Frau da helfen können? Das ist doch lächerlich.“

„Ich will mit dem türkischen Verkäufer reden, weil der mir sicher unter der Hand Rabatt gibt und ich lieber kungeln möchte, denn für uns gelten hier andere Regeln als für die normalen Deutschen. Wir Türken sind eine Familie, wir halten zusammen, weißt du? Scheiß geizige Deutsche.“

„Ich will mit dem deutschen Verkäufer reden, weil der Türke mich sicher falsch berät und mich abziehen möchte. Scheiß halsabschneiderische Türken.“

„Ich will diesen Schrott-Akku-Bohrer hier zurückgeben. Er funktioniert nicht, weil ich zu dumm bin, das Gerät aufzuladen. Stattdessen mache ich lieber samstagvormittags Terz in der Prime-Time und nerve alle Beteiligten, weil ich ja sonst eh keine Hobbys habe, und drohe mit rechtlichen Konsequenzen.“

„Ich will diesen Akku-Bohrer reklamieren, weil er nach einem Jahr den Geist aufgegeben hat, möchte aber dennoch wieder ein solches Billigexemplar für zwanzig Euro kaufen – aber bitte mit Rabatt, weil scheinbar taugt er ja nicht viel.“

„Ich will und erwarte gefälligst, dass ich eine Minute vor Ladenschluss von zwölf Experten beraten werde, weil MEIN Problem jetzt echt dringend und wichtig ist, und ich armer angriffslustiger Frührentner in weißem Unterhemd und schmierigem Brusthaar natürlich den ganzen Tag davor keine Zeit hatte, aus dem Haus zu gehen, da noch 10 Dosenbier zu Besuch waren.“

„Ich will die Artikel, die ich vorhin eigenhändig ausgewählt habe und die damit nicht zufällig in meinem Einkaufswagen gelandet sind, nun doch nicht mehr kaufen, deshalb werde ich sie einfach irgendwo hinschmeißen und liegen lassen. Beim nächsten Besuch will ich mich außerdem beim Filialleiter darüber echauffieren, wie unordentlich dieser Drecks-Laden doch ist.“

„Ich will schneller abkassiert werden, bin aber selbst zu bescheuert, um Dinge selbst abzuwiegen (was dann am Kassierenden hängen bleibt), meinen Geldbeutel aus den Untiefen meiner Jeans zu kramen, mit meinen Wurstfingern die Münzen zu sortieren oder einfach mit Karte zu zahlen.“

„Ich will eine Kassiererin, weil solch‘ niedere Jobs immer von Weibchen ausgeführt werden (müssen). Frauen lassen sich doch gerne bezahlen, höhö. Kann das nicht die Filialleiterin machen? Was macht die eigentlich überhaupt und stattdessen? Käffchen trinken?“

„Ich, Ich, Ich, will, will, will.“                                                                                                                                                                                                             

 

Und so weiter und so fort. Aber was will man in und von einem Laden auch erwarten, der vorgibt, für seine Ramschwaren einen »Sonderpreis« anzubieten, obwohl es die üblichen Standardpreise sind (und die teilweise höher liegen als beim Konkurrenzgeschäft gleich um die Ecke); dessen einzige Marketing-Strategie es ist, die Kunden mit roten Preisklebern zu überreizen und zu täuschen; der mit gefälschten, utopischen Unverbindlichen Preisempfehlungen (UVP) auf seinen Eigenmarken arbeitet und diese prominent auf den Produkten platziert? Eigentlich ein Fall für den Verbraucherschutz, oder wer auch immer für solche delikaten Angelegenheiten zuständig ist. Grüße gehen raus!

Neben zahlreichen Diskussionen, Diebstählen, internen Streitigkeiten, Fehllieferungen, Mäuseplagen und anderen Ärgernissen war das der alltägliche Wahnsinn, kein Spaß. Die Mäuse waren mir dabei noch am liebsten. Solche süßen, kleinen Racker. Wenn eine Mausefalle zuschnappte, brach mein Herz wie das Genick des putzigen Nagers. Immerhin gab’s Käse als Grabbeigabe.

Im Ernst: Dass sich Baumarktmitarbeitende verstecken würden, ist kein Klischee, sondern Selbstschutz.

 

Vielleicht ist meine realistisch, Verzeihung, pessimistisch angehauchte Weltanschauung dennoch ein böser Fehler, wer weiß. Auch der Protagonist reflektiert weise: „Und plötzlich dachte ich, dass diese ganze unversöhnliche Härte, mit der ich dem Leben und seinen Menschen gegenübergestanden hatte, Zeitverschwendung gewesen war […]."

Vielleicht ist die einzige Variante, diese Welt und ihre Bewohner erträglich zu machen, tatsächlich das Leben intensiv zu leben und zu genießen, keine Kosten und Mühen zu scheuen, ohne Rücksicht auf Verluste zu agieren, einfach am Zirkus teilzunehmen – aber würde ich mich dann nicht vielleicht selbst zu einem dieser egoistischen, unbedachten Spinner entwickeln, über die ich doch so gerne abledere? Und falls das falsch sein sollte, wer sagt das meinem Gehirn, das sich vehement gegen einen Strategiewechsel sträubt?

Oder sind meine Sätze und Ansichten alles nur bequeme Ausreden, um nicht nach draußen treten und über meinen Schatten springen zu müssen? Um nicht das Gute in jedem Einzelnen von uns – irgendwo muss es doch sein! – wahrnehmen zu müssen? Vielleicht sind die Menschen gar nicht so schlecht, wenn ich ihnen offen gegenübertreten würde, ganz ohne Vorurteile. Projiziere ich eventuell nur meine eigene Unzufriedenheit auf andere und suche Schuldenböcke?

Als ich vor kurzem wieder zum Buch »Tschick« griff, stolperte ich über folgenden Absatz und kam ins Grübeln:

„Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. Da klingelte man morgens um vier irgendwen aus dem Bett, weil man gar nichts von ihm will, und er ist superfreundlich und bietet auch noch seine Hilfe an. Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen, damit man nicht völlig davon überrascht wird.“

 

Nach der Lektüre dachte ich darüber nach, was mir in den letzten Wochen so ereignet war. Und tatsächlich, ich habe festgestellt, so platt es klingt, dass wenn man Menschen in positiver Weise begegnet, einem auch Positivität entgegenspringt. Klar, ich bin jetzt auch nicht mehr im Einzelhandel, wo Kunden (mutwillig) Arbeitsabläufe stören, Ärger suchen und ich gekünstelt nett sein muss statt authentisch sein zu dürfen. Und klar, es gibt Leute, mit denen kann man einfach nicht, da existiert ein Wellenlängenproblem. Aber dennoch: Die anderen Menschen funktionieren als ein Spiegel deiner selbst. Ein Lächeln, ein Witzchen, ein charmanter Umgang, eine kleine Hilfestellung im Alltag kann Wunder wirken. Eine Binsenweisheit, aber tatsächlich wahr.

Letztens war ich sogar mal außerordentlich gut drauf (soll es hin und wieder geben!) und hätte beinahe eine Tramperin mitgenommen, was ich normalerweise strikt vermeide, denn solchen Transportparasiten möchte ich eigentlich keinen Wirt stellen. Ich weiß nicht, was mich da geritten hat, womöglich die Tatsache, dass sie nicht schwer bepackt und mit prototypischem Deuter-Rucksack ausgestattet war, was sie als typische, verlauste Backpackerin disqualifizierte. Jedenfalls war sie so glücklich darüber, dass ich angehalten hatte, dass sie mich regelrecht anstrahlte und vergnügt erzählte, dass ich der Erste sei, der seit einer Stunde angehalten hätte, obwohl sie hier mitten in der Pampa stehe und das nur, weil sie den falschen Zug erwischt hätte.

Nun ja, das traurige Ende der Geschichte: Leider fuhr ich in die komplett entgegengesetzte Richtung und ließ sie deshalb stehen, aber dennoch fand ich die Begegnung so eindrücklich und motivierend. Die ganze Wärme und die trotz der misslichen Lage gute Laune der Dame, die mir entgegenschlug, fühlte sich fremd, aber auch toll an. Einfach nur, weil ich versucht hatte, etwas Gutes zu tun, hilfsbereit zu sein und nicht meine beliebten Scheuklappen aufzusetzen. Meine ganze Gefühlsduselei und die neuen Erkenntnisse haben ihr natürlich wenig geholfen, wenn ich so darüber nachdenke, aber ich hoffe, sie steht nicht noch immer dort und wartet.

 

Aber wieso zur Hölle war ich an diesem Tag eigentlich derart gut drauf? Nun, auch, weil ich an meiner neuen Schule den Glauben an die Menschheit ein wenig zurückerlangt hatte. Ich treffe Kinder und Eltern, die an einer guten Bildung und dafür an einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten interessiert sind, statt die Lehrkräfte zu verachten und mit der beschissenen Schule einen Schuldigen für ihre miesen Lebensverhältnisse und Erziehungsversäumnisse parat zu haben. Hier gibt es Lehrpersonen, die auch von den Kindern lernen möchten und individuell Lerninhalte anbieten können, die Vertrauen schenken und unterstützen statt vorgeben und bestrafen, die eine Beziehung zu den Kindern aufbauen können/dürfen, statt diese nur als abzufrühstückende Nummern zu sehen (oder dank des Systems sehen zu müssen). Jeder und jede wird so genommen, wie er/sie ist, gefördert, was er/sie kann, und auch ich kann mich so ausleben, wie ich bin, statt vorgefertigte Rollenbilder erfüllen zu müssen. Ich wurde von allen Seiten (auch oder gerade von den Kindern!) unvoreingenommen akzeptiert und großherzig aufgenommen. Und plötzlich macht die Arbeit mit den Kindern wieder Spaß, zumindest häufiger als bisher gewohnt, ein nervlicher Knochenjob ist es natürlich dennoch. Die Zeit vergeht wie im Fluge, und ich kann mich voll auf die wichtigsten Personen, die Kinder, konzentrieren, anstatt von organisatorischem und Korrektur-Kram erstickt zu werden. Und so komme ich mittlerweile (meist) gut gelaunt in die Schule und nicht ängstlich oder miesepetrig – genau wie meine Klasse übrigens. Weil die (Arbeits-)Atmosphäre positiver ist, ist auch das Leben positiver. Irgendwie.

Und plötzlich sind Menschen gar nicht mehr so blöd. Zumindest manche. Gelegentlich muss man es nur zulassen. Oder eben zulassen können. Denn hierfür spielen auch die äußeren Umstände eine wichtige Rolle, unter denen sich Menschen im Alltag begegnen (z.B. auf der Arbeit, in der Schule, im Supermarkt, im Verein). Viele Unsicherheiten, Umgangsprobleme und Stressfaktoren sind hausgemacht, institutionell vorgegeben, kulturell etabliert, medial geprägt oder entstammen ökonomischen Unterschieden oder politisch-gesellschaftlichen (Fehl-)Entwicklungen.

Darf ich von Menschen Freundlichkeit und Glückseligkeit erwarten, die in ihrem Job unter psychischer und/oder physischer Dauerbelastung stehen, die aufgrund von Inflation und eschreckenden Mietpreisen dennoch jeden Pfennig umdrehen müssen und deren Rente definitiv nicht sicher ist, denen Unterstützung jeglicher Art seitens verantwortlicher Stellen versagt bleibt, die sich alleinerziehend um ihre Kinder kümmern und gleichzeitig arbeiten gehen müssen, die von der Politik unbeachtet bleiben, die spätestens seit ihrer Schulzeit unter der Fuchtel von Konkurrenz- und Eigentumsdenken sowie dem Motto „Friss oder stirb“ stehen, die überrumpelt werden vom technischen Fortschritt, die im Strudel der Bürokratie ertrinken, die aufgrund oberflächlicher und nichtssagender Merkmale wie Alter, Geschlecht, Religion und Aussehen ausgegrenzt werden, die getrieben sind von Zeitdruck und bürokratischen Verpflichtungen? Vermutlich nicht.

 

Wenn es einen direkt bemerkbaren Faktor des »World Happiness Indexes« gibt, ja dann vielleicht den Umgang der Menschen unter- und miteinander. In skandinavischen Ländern, mitunter zu den Siegern dieses Contests zählend, wirkten die Menschen bei meinen Besuchen tatsächlich offener, fortschrittlicher, optimistischer, freundlicher, liberaler.

Kleines Gedankenexperiment: Du hältst mit deinem geliehenen Wagen während deines Roadtrips an einem kleinen Wäldchen im Nirgendwo, um im Auto zu nächtigen. Privatgrundstück, was dir jedoch nicht bewusst ist, ein paar hundert Meter weiter siehst du zwar ein paar Häuschen, aber du denkst dir nichts dabei.

Reaktion des deutschen, dickbauchigen Grundbesitzers mit Hut, der stockfuchtelnd auf die zukommt, an der Leine ein sabbernder Rottweiler: „Hey, was soll das denn, verschwinde hier, du Streuner, das ist mein Land! Aber z.Z., ziemlich zügig, sonst rufe ich die Bullen! Das gibt es ja gar nicht, so etwas Unverschämtes.“ Im Weggehen tritt er dir erzürnt das rechte Vorderlicht kaputt, was spätestens die Mietwagenfirma nicht ganz witzig finden wird.

Reaktion der adretten finnischen Familie, die geschlossen auf dich zukommt: „Hey, alles klar? Also, Folgendes, du stehst hier auf einem Privatgrundstück, das ist natürlich rechtlich problematisch, aber du schläfst ja im Auto, oder? Okay, kein Thema, hast du einfach nicht gewusst. Wenn du keinen Müll oder so hinterlässt, drücken wir ein Auge zu, wir wissen ja, wie das ist, wir sind auch gerne unterwegs und sehen das nicht so eng, solange hier nicht ein ganzes Festival veranstaltet wird. Ach, das ist übrigens meine bezaubernde Frau Kirsti, meine Tochter Marlu... und ich bin Pekka. Wie lange bist du schon unterwegs? Wenn du irgendwas brauchst, oder eine Dusche nehmen willst, komm einfach vorbei, da vorne das mittlere Haus. Alles klar, bis dann, genieße deinen Finnland-Ausflug! Ach, und übrigens... dein rechtes Vorderlicht ist beschädigt.“

 

Klischee oder Realität? Ihr entscheidet.

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