Was Unterricht und Videospiele gemeinsam haben (sollten)

Richtig gute Videospiele sind selten. Richtig guter Unterricht ebenso. Das liegt am enormen Arbeitsaufwand, fehlenden finanziellen Mitteln und wenig Zeit. Dennoch bieten Videospiele einige interessante Aspekte für das Lehrer-Dasein.

 

Um falschen Erwartungen vorzubeugen: Ich spreche im Folgenden nicht über "Computerspiele" als Unterrichtsthema oder das Lernen mit bzw. durch Videospiele (z.B. geschichtliche Fakten und Welten per "Assassin's Creed"), sondern versuche, ein paar Aspekte der digitalen Spielekultur, die auf eine ganze Menge Kinder/Jugendliche faszinierend wirken, auf den Unterricht zu übertragen.

Denn klar ist: Im virtuellen Raum, besonders bei Rollenspielen oder Online-Multiplayer-Games, "trainieren" die Kinder selbstständig, mit Spaß und aus eigenem Antrieb. Wie ist es zu erklären, dass sich Schüler A stundenlang Kämpfe liefert oder (Neben-)Quests erfüllt, um den eigenen Charakter "aufzuleveln"? Natürlich gibt es eine schicke Anzeige, bei der man den Spiel- und Erfahrungsfortschritt z.B. in Prozent serviert bekommt das fehlt leider im wahren Leben. Wieso gibt dieser Schüler dann aber im Unterricht sofort auf und hat keine Motivation, sich selbst zu verbessern, in dem er Zeit in "Trainingseinheiten" steckt, um es dann anschließend noch einmal zu versuchen?

Und weshalb probiert Schüler B bei "Super Mario" das vermaledeite siebzehnte Level immer und immer wieder, um es irgendwann vielleicht einmal zu schaffen? Woher kommt der Antrieb, das Nintendo-Gerät nicht wie das Schulbuch wegzuwerfen?
Das mag sicherlich einige Faktoren haben. Was mich interessiert, ist die Spielwelt. Im Lehrerslang: Die Lernumgebung. Rollenspiele bieten da herrliche Verbindungen zwischen den scheinbar so verschiedenen Dingen.

 

Was in einem Game die insgesamt stimmige Pixel-Welt ist, betrifft in einer Schule viele Faktoren. Das fängt bei einer schicken und gut strukturierten/organisierten Schule an sich an, setzt sich mit der Gestaltung der Klassenzimmer fort und endet mit der menschlichen Seite: Die Schulkultur und salopp gesagt die mitarbeitenden Leute entscheiden, ob ich mich wohlfühle oder eben nicht. Dieses sehr subjektive Empfinden jedes Einzelnen kann natürlich nicht vollständig auf die "Lernumgebung" projiziert werden. Dennoch ist ein gelungenes Schulklima der erste wichtige Punkt. In einem Videospiel wären das die allgemeine Steuerung und z.B. Komplexität der Karte/Spielwelt, der optische Eindruck der begehbaren Umgebung und die Interaktionsmöglichkeiten mit Raum, Zeit und anderen Charakteren.
Doch dann kommen die entscheidende Faktoren für die Unterrichtspraxis: Der Lehrer bzw. die Lehrerin, womöglich als Lernbegleiter(-in), also quasi das Videospiel-Tutorial bzw. die Hilfe-Einblendungen (im Optimalfall nur am Anfang nötig) und das Arbeitsmaterial. Also die Quests bzw. Aufgaben eines jeden Spielers/Schülers.

 

Die Aufgaben sollten so gestaltet sein, dass sie unabhängig vom eigentlichen Auftrag interessant und motivierend wirken. Wie oft habe ich in Rollenspielen schon dämliche Objekte in irgendwelchen Gruften und Dungeons suchen müssen? Sehr oft. Und es dennoch immer wieder (halbwegs) gern getan. Weil ich vorankommen möchte und die Spielwelt spannend genug ist, ein paar spielerische Wiederholungen verkraften zu können. Wenn die Schüler und Schülerinnen also so in der Lernumgebung versinken, dass sie die eigentlich ähnlichen Aufgaben nicht als identisch wahrnehmen oder sie als voranbringend wahrnehmen, lassen sich Übungsaufgaben jederzeit integrieren. Es muss nur einen neuen Reiz ausüben, auch wenn das in der Theorie einfacher klingt als es ist. Hat man für eine Unterrichteinheit aber einen gelungenen thematischen Rahmen, quasi eine nachvollziehbare und interessante Story, kann das gelingen.

 

Ein wichtiges Gut in Rollenspielen ist die (Entscheidung-)Freiheit. Das ermöglicht nicht nur ein erneutes Durchspielen ohne Langeweile, sondern eröffnet dem Spieler die Möglichkeit, Fragen und Ereignisse eigenständig zu beantworten und zu bewerten. Darüber hinaus kann man sich in der Interaktion mit NPCs üben und seine eigene Spielweise (schneller/langsamer, vertiefend/an der Oberfläche bleibend, ohne oder mit Umwege etc.) entwickeln.
Im Unterricht schneidet dies das Themenfeld der Differenzierung und Individualisierung. In der Praxis beinhaltet dies meist unterschiedliche Varianten der eigentlich identischen Arbeitsaufgabe. Also vergleichbar mit dem Schwierigkeitsgrad eines Spiels. Was aber fehlt, ist das Eingehen auf die verschiedenen "Spielerpersönlichkeiten": Schüler A möchte sich einem Thema kreativ widmen oder einfach mal rumprobieren (Trial & Error), Schüler B nutzt klassische Aufgaben und braucht vorgegebene Pfade, während Schüler C mit etwas Eigenartigem, etwas Fremden konfrontiert werden muss, um Interesse zu entwickeln (Stichwort "Alterität").
Allgemein sollte es viele Methodenwechsel geben. In jedem brauchbaren Rollenspiel sind die Quests abwechslungsreich und unterschiedlich. Im Unterricht bieten sich gerade kooperative Methoden (eine Art "Multiplayer") an. Das heißt: Gegenseitiges Unterstützen, um gemeinsam zum Ziel zu kommen. Und die nötige Abwechslung.
Mir ist klar, dass das alles utopisch ist. Weder bietet jedes Fach und jedes Thema diese Möglichkeiten an, noch haben wir die Zeit, dies umzusetzen bzw. zu planen. Leider.

 

Prinzipiell gilt, dass Videospiele und Unterricht mit Herz und Verstand geplant und umgesetzt werden müssen. Genauso wie es jeden Gamer aufregt, wenn ein Spiel unfertig erscheint, aber lieblos auf den Markt geworfen wird, um Kohle zu scheffeln (leider eine Unart der derzeitigen Branche Tendenz steigend), so merken die Schüler, wenn der Unterricht hölzern und aufgesetzt wirkt. Letztendlich wird er auch nicht funktionieren. Publisher können das mit DLCs reparieren, Lehrer nicht. Aber da sind wir wieder beim schon angesprochenen Zeitproblem. Teamwork unter Lehrerkollegen ist daher ein Muss. Denn eines ist sicher: Der Aufwand, eine solche Lernumgebung zu gestalten, ist riesig. Aber – das ist zumindest meine Meinung – er lohnt sich.

 

Natürlich sind Videospiele kein Feld, mit dem sich jeder Lehrer und jede Lehrerin auskennt. Die Ansätze sind aber auch ohne eigene Videospielerfahrung anwendbar. Zusätzlich kann man sich auch an weniger komplexen Videospielen orientieren. Und gerade offene Settings und reformpädagogische Ansätze haben diese Aspekte wenn auch natürlich unter anderen Begrifflichkeiten bereits integriert. Wichtiger hierbei: Die Ideen dürfen dabei nicht nur Farce verkommen, nur weil ich eine Videospielfigur (oder andere popkulturelle Erscheinung) auf mein Arbeitsblatt pinsele, verändert das noch lange nicht den Unterricht. Hier soll und muss groß gedacht werden.

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