Unter Wasser

April. Vom Gefühl her der erste Vorbote des Sommers. Vielleicht aber nur deshalb, weil dieser Monat das Sommersemester einläutet – er wird also mit Wärme, Freizeit, noch geringerem Arbeitspensum, herrlich langen Tagen und ausgiebigen Grillfesten verbunden.

 

Das erweckt in mir das Verlangen, mich auf die Badesaison einzustimmen. Rucksack gepackt, Badehose an, obenrum aber stilecht mit Kapuzenpulli, kein Bedarf für eine Sonnenbrille – die Temperaturen des Aprils lassen mich hierfür (noch) im Stich...

Kurzer Fußmarsch über angenehm glatte Asphaltstraßen, die erst später im Jahr in der Hitze schwirren oder womöglich sogar schmelzen werden. Anschließend über staubig-steinige Sträßchen, die zu spontanem Kieselkicken einladen, um sich die kurze Zeit des Laufens zu vertreiben. Darüber hinaus wärmt die zusätzliche Bewegung meinen Körper auf, der sich über die Beweggründe mei­nes Kopfes noch ziemlich unklar zu sein scheint.

 

Nun erreiche ich das Wäldchen, die Wildnis im weitesten Sinne, zumindest aus der Sicht eines verwöhnten Stubenhockers, welche mir mein imaginäres Bild des aufkeimenden Sommers allerdings vorläufig zerschmettert. Schleimige Matschwege, teilweise riesige braune Pfützen – und es riecht absolut nicht wie nach einem dieser eindrucksvollen Sommergewitter, dich mich so faszinieren. Die mit Steinen versehenen Wege wirken dunkler, aber gesünder als im Sommer üblich, weil nicht bei jedem Schritt Staub aufgewirbelt wird. Vogelstimmen und flinkes, sich bewegendes Rascheln im Unterholz sind noch kaum zu hören. Bäume und Pflanzen können sich, was die Jahreszeiten betrifft, auch noch nicht so ganz entscheiden: Manche befinden sich noch im Winter-Modus, andere trauen sich langsam heraus und tasten mit ihren Knospen, Blättern und Stängeln nach Wärme und Licht, nach Insekten und nach Pollen. Ob sie so enttäuscht werden, wie ich in die­sem Moment, lässt sich nicht feststellen.

 

Ich lasse mich von meinem Weg aber nicht abbringen.

 

Da ist er: Der kleine See. Womöglich ist die Bezeichnung Tümpel eher treffend. Aber zumindest ein sauberer Vertreter seiner sonst so schmutzigen Art mit all dem Laub, all den Insekten und den gruseligen Schatten, die durch die trübe Dunkelheit unter Wasser flitzen. Einsam befindet er sich inmitten des Waldes, eine An­höhe umringt ihn. Kaum zählbare Mücken an seinen Rändern aus Schilf, auch sonst keinerlei Lebenszeichen, das Grüne hat noch Pause. Eben, ja fast regungslos liegt er da, als würde auch er warten, dass jemand ihn aktiviert und sanft aus dem Schlaf holt.

 

Ich breite mein grünes Handtuch auf dem feuchten Gemisch aus Moos und Gras aus, ziehe mir ungewohnt entschlossen den Pullover vom Leib – und ich bedaure das sofort, als es mich im fast sonnenlosen Dämmerlicht unverzüglich fröstelt. Egal, jetzt bin ich schon hier. Ich tapse ungelenk auf dem nass-kalten und rutschigen Untergrund gen Wasser, taste mädchenhaft mit dem rechten Fuß behutsam nach der Temperatur des frischen Nasses und zucke merkbar zusammen. Verdammt eisig.

 

In einer für  mich beeindruckenden Phase der Konzentration und Ruhe kämpfe ich mich tiefer hinein, mein Körper sagt nein, mein Kopf sagt ja. Langsam, aber sicher. Ich fühle mich kurz schuldig, weil ich die brave Ruhe der Natur störe, empfinde mich als ungebetenen Eindringling. Die mich attackierende Kälte vertreibt diesen Gedanken allerdings schnell. In meinem Gesicht spiegelt sich der Fortschritt des vorsichtig geführten Kampfes wider. Der Bereich im Rahmen der Badehose ist besonders mühselig, alles zieht sich zusammen, ich aber ziehe weiter.

 

Dann bin ich drin, komplett, nur mein Kopf schaut heraus, ein fremder Beobachter würde mich wie einen im Moor versinkenden Touristen wahrnehmen. Das Wasser hält mich mit seinem eisigen Griff herzhaft, aber liebevoll umschlungen. Und obwohl ich ewig gebraucht habe, mein ganzer Körper rebelliert hatte: Jetzt ist es wirklich wunderbar. Eine sichtliche Welle an Vitalität, an Vigilanz, an Energie bricht über mich herein. Meine Synapsen feuern, meine Gliedmaßen können sich zwischen sadistischem Brennen und rastlosem Tatendrang nicht gänzlich entscheiden.

 

Ich vergesse alles um mich herum.

 

Dann ist die Minute, die sich wie dreißig angefühlt hat, vorbei. Das Handtuch wischt die letzten Spuren meiner Handlung beiseite, der Kapuzenpullover setzt alles in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Ich spüre aber eine seltsame Motivation in mir, freue mich auf den anstehenden Kneipengang mit Freunden, als wäre er etwas Neues, Besonderes, Spektakuläres. Zügigen Schrittes laufe ich heimwärts, stolpere mehrmals aufgrund meiner Unkonzentriertheit, immerwährenden Tollpatschigkeit und kindlichen Vorfreude.

 

Aber nichts kann mich aufhalten.

 

***

 

Beinahe übermütig werfe ich meinen Rucksack auf mein altes Ledersofa, schaue kurz nach, ob noch ein Bierchen im Kühlschrank steht – als hätte ich es nach diesem anstrengenden Tag verdient – und nicke zufrieden, als ich eine der attraktiven braunen Flaschen mit blauem Etikett erblicke.

 

Aber zuerst: Duschen. Ich schnappe mir noch kurz eine sommerlich wirkende Erdbeere, bevor die mattweiße Tür automatisch zuklappt, und gehe ins Bad. Nach einem kurzen skeptischen, aber dennoch zufriedenen Blick in den Spiegel – heute läuft es eben – springe ich unter die Brause.

 

Das zu Beginn kalte Wasser lässt mich kurz zusammenfahren, trotz der vorherigen Erfahrungen im Tümpel, ich freue mich, als es endlich warm und dampfend auf meinen Körper trifft. Wie an Autoscheiben im Regen perlt die Flüssigkeit an mir herab. Ein wohliges, gemütliches Gefühl, ganz im Kontrast zum erfrischenden Wasser im Wald. Aber heute wird es mich nicht einschläfern.

 

Nach der genossenen Dusche suche ich mir eines meiner karierten Lieblingshemden aus dem alten, spärlich ausgestatteten Einbau-Kleiderschrank, ziehe mich in vollem Optimismus an, schon komplett, sogar rein in die leicht verdreckten, aber gemütlichen Vans, Musik an, Bierchen auf, kleine Pre-Party. Ich habe richtig Lust.

 

Kurzer Sprung, ein paar Stunden später.

Der Abend verläuft, wie ich es mir gedacht und erhofft hatte. Die üblichen Leute, einige davon sehe ich leider nur noch selten, schwelgen in Erinnerungen an die ersten Monate an der Hochschule, dümmliche Witze, freiwilliges und absichtliches Verzichten auf Ernsthaftigkeit und Zukunftsorientierung. Den Moment genießen, im bunten Glanz der baumelnden Lichterketten, draußen auf Bierbänken, die ganze Gruppe gemeinsam, manche vorsichtig in dicken Jacken, andere schon vorausschauend und mutig in Shirts und Sommerlaune. Es ist eine tolle Zeit, mein Umfeld merkt, dass ich Spaß habe und denselben vermittle. Und ich auch.

 

Dann die Sekunde, die alles verändert.

 

Beiläufig schaue ich auf mein Handy – wie man das heutzutage eben so macht, automatisiert, ohne wirklichen Grund, ohne Erwartung wichtiger Nachrichten, die Uhrzeit ist eigentlich auch nicht relevant – es blinkt grün, also WhatsApp. Ich denke mir nichts dabei, in meiner guten Laune und meiner angetrunkenen Leichtigkeit lese ich die Nachricht einmal, dann häufiger, unschlüssig, ungläubig. Alles wirkt in diesem Augenblick surreal. Ich lese nur „Unfall“, „verstorben“, „heute“, wie Reklametafeln in Großstädten, die überproportional hell in meine Augen treten, mich blenden, sich bewegen und wieder verschwinden. Alle weiteren Worte treten zurück, verschwimmen vor meinen nun glasigen Augen, ungewiss, ob wegen der Tränendrüsen oder der Trunkenheit.

 

Und plötzlich tauche ich ein. Als würde ich mich in einer abgeschirmten Seifenblase befinden, nein, schlimmer, unter Wasser. Ich sehe meine Leute um mich herumsitzen, noch wird meine neue Situation, meine Gefühlsänderung nicht sonderlich bemerkt. Wie und wieso auch. Ihre Konturen verwischen, sie wirken viel weiter entfernt als sie eigentlich sind, ich höre ihre Gespräche und ihr Gelächter nicht mehr, sehe höchstens, wie sich ihre Körper, Köpfe und Münder puppenhaft, nahezu unwirklich bewegen. Mich selbst sehe ich ebenfalls unscharf, meine Gliedmaßen nur noch schemenhaft, meine Regungen sind schwerfällig.

 

Selbst wenn ich etwas sagen wollte – es würde keiner hö­ren, meine Kehle ist wie mit Bast zugeschnürt. Es fühlt sich an, als würde mich eine unsichtbare Hand nach unten drücken, mir meinen teuren Atem stehlen und meine Lunge mit Flüssigkeit vollpumpen.

 

Plötzlich wird mir warm, und schlecht – und bevor es komplett dunkel um mich wird, versuche ich langsam aufzustehen, meine Beine sind jedoch steif und wacklig. Ich wuchte mich ungelenk, viel auffälliger als angedacht, am Tisch vorbei und laufe in Richtung Toilette. Ich höre keine Stimmen, ich sehe meine Gruppe gar nicht erst an, aber ich spüre ihre mich verfolgenden, erstaunten Blicke in meinem Rücken. Überrumpelung, Unsicherheit – auch bei ihnen.

 

Ich streife an den Wänden entlang, reiße mir schmerzhaft einzelne Finger auf. Die Umstehenden begutachten mich spöttisch, halten mich für einen gemeinen Säufer, der sein Limit nicht kennt. Am Waschbecken stoße ich einen anderen Menschen bei­seite – keine Ahnung, ob ich auf der Damen- oder Her­rentoilette bin – und klatsche mir verschwenderisch kaltes Wasser ins Gesicht, beiläufig natürlich auch auf mein Baumwollhemd und meine Hose, ohne es zu bemerken. Ich versuche, wieder aufzutauchen, mich in den Zustand von heute Mittag zu versetzen, ohne Erfolg, trotz des familiär wirkenden eisigen Wassers. Aber ich sehe klarer, immerhin, sehe die erschrockenen, hilflosen Gesichter um mich herum, nehme den nun dank meiner Taten klitschnassen Boden wahr. Aber ich gehe einfach. Raus. Mir wird es schlagartig zu stickig, zu bedrohlich, ich fühle mich wie in einem bizarren Schaufenster einer Irrenanstalt, wie ein tapsender Schlafwandler.

 

Draußen, bei meinen Freunden, begegnet mir lediglich Häme, da sie denken, ich hätte mich erbrochen. Dabei könnte ich kotzen. Die Kommentare prallen an mir ab. Ich versuche, zu schauspielern, scheitere jedoch kläglich. Trotzdem wollen oder können nur wenige die feine Veränderung meiner Stimmlage, aber gewichtige Schwankung meiner Stimmung erkennen. Aber auch sie sagen nichts, hilflos, scheu. Nicht in dieser glückseligen Gesellschaft, die feucht-fröhliche Situation verbietet es geradezu. Weder dem netten Abend noch dem heiklen Thema würde dies gerecht werden können.

 

Ich sage ebenfalls nichts. Ich habe keinen Grund und keine Berechtigung, den anderen ihren Abend zu versauen. Mittlerweile sehe ich halbwegs klar, aber nur in einen Tunnel, und reagiere auf nichts mehr von außen. Auf keine Zurufe, auf kein Zerren.

 

Ich vergesse alles um mich herum.

 

Irgendwann stehe ich spontan auf, ohne Vorankündigung, werfe einen kurzen irritierten, beinahe befremdlichen Blick aus meinen milchigen Augen heraus zurück, und ertrinke langsam in den gierigen Schatten des Heimwe­ges.

 

Und nichts kann mich aufhalten.

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