Die große Verunsicherung

Auch wenn es de facto nicht stimmt, dass Europa seit 1945 ohne militärische Auseinandersetzungen bzw. bewaffnete Konflikte auskam: Das Ende des Zweiten Weltkrieges und spätestens das Ende des Kalten Krieges galt für die Menschen meiner und der vorherigen Generation als stummes Versprechen, zumindest innerhalb Europas nie wieder auf das schäbigste aller Mittel der Interessendurchsetzung namens Krieg zurückzugreifen.

 

Doch der Angriffskrieg Russlands hat alles verändert.

Der Glaube, dass die Menschheit endlich mal etwas aus ihrer eigenen Vergangenheit gelernt und sich mindestens moralisch von schrecklicher Barbarei, Unmenschlichkeit und primitiver Gewalt distanziert hat, war ein existenzieller Kern unserer modernen, europäischen Freiheit und Offenheit. Ein Europa, das zusammenarbeitet und sich die Hände reicht, statt sich diese aus nationalistisch-territorialen Ansprüchen heraus abzuhacken – ja, das war unser fortschrittliches Europa, gebaut auf den schrecklichen Erfahrungen, fatalen Fehlern und Massengräbern unserer Vorfahren. Vorfahren, die – schon allein zeitlich betrachtet – noch lange nicht vergessen sein dürften. Regelmäßig versuchen wir unseren Kindern bewusst zu machen, wie froh wir uns schätzen dürfen, im Wohlstand der Gegenwart leben zu können, wie marginal unserer Probleme (abgesehen vom Klimawandel) im historischen Vergleich sind, dass Gewalt nie Lösung sein darf und nie Lösung war. Und nun das.

 

Der russische Angriff, unabhängig von Interessen, Vorgeschichte und Einflussfaktoren, bricht dieses Versprechen, zerstört den Glauben. Ich hatte wirklich gehofft, Panzer, Raketen und Soldaten nie wieder außerhalb des Geschichtsbuches auf europäischem Boden in Aktion sehen zu müssen. Wenn schon nicht auf der ganzen Welt – das wäre utopisch –, dann immerhin hier bei uns. Doch auch das war schlicht naiv. Und obwohl mein Menschenbild nie sonderlich positiv war, bin ich nun erschüttert, verunsichert und sprachlos.

 

Vermutlich, weil einiges an "damals" erinnert. Geopolitische Interessen, instabile bzw. belastete Beziehungen, taktisch ausgenutzte Krisen, Säbelrasseln, Appeasement, Bündnisse, Luftangriffe, propagandistische Falschinformationen – Schlagwörter, die die Geister der Vergangenheit im Bewusstsein vieler rufen. Hoffentlich zu Unrecht.

 

Wer jedoch denkt, dass die Ukraine geographisch weit genug von Deutschland distanziert sei, als dass es uns nicht kümmern bräuchte, der täuscht. Der Atlas zeigt schnell: Die Ukraine ist das größte Land Europas, ihre Hauptstadt Kiew liegt nicht weiter entfernt als Rom (Fluglinie) und sie hat eine gemeinsame Grenze mit unserem Nachbarland Polen. Unbedeutend? Eher nicht.

 

Auf die eine oder andere Art, auf kurz oder lang, wird dieser begonnene Krieg auch uns beeinflussen und strapazieren. Neben dem gebrochenen Herzen, das uns Europäer nun schmerzlich vereint, werden uns weitere Wunden zugefügt werden. Innere und äußere Krisen ziehen bei einem Krieg immer gemeinsam in die Schlacht, um unnötiges Leid zuzufügen.

 

Bisher konnte meine Generation das Glück der lang anhaltenden Friedenszeit und der europäischen Gemeinschaft nicht richtig wertschätzen, da wir nichts anderes kannten.

Jetzt sollten wir schnell lernen, es zu können. Denn ich für meinen Teil will mich daran klammern und es nie wieder hergeben.

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