Vom Denken

Kritisches Hinterfragen und »Querdenken« wird gerne einmal verwechselt. Das ist nicht nur schade für den Begriff des »Querdenkens«, der von einer ehemals positiven, kreativen Fähigkeit zu einer negativen Eigenschaft verkommen ist. Sondern auch für diejenigen, deren multiperspektivisches, kritisches sowie sachliches Denken und Handeln oder deren (wissenschaftliche) Berufe aufgrund der fälschlichen Begriffsannäherung in Verruf gebracht worden sind.

 

Eine Auseinandersetzung.

Denn ausgerechnet die einfältigsten Verschwörungsgläubigen und »Querdenkenden« stilisieren sich aktuell zu besonders kritischen Geistern empor, verkörpern jedoch maximal den Dunning-Kruger-Effekt in Reinform und lassen Reflexions-, Medien- oder Sachkompetenz schmerzlich vermissen. Sad, but it‘s true: Meistens finden sich in ihren Aussagen nicht einmal homöopathische Dosen an simpler Vernunft oder gesundem Menschenverstand. Ihre Sprechchöre mit alternativen Faken sind die Globuli der alternativen Medizin: Clever vermarkteter Unsinn ohne jegliches rationale Fundament und noch weniger Inhaltsstoffen.

 

Um weiteren Verwechslungen vorzubeugen, hier eine kleine Unterscheidung beider »Denkarten«:

Kritisches Hinterfragen bedeutet die Öffnung der eigenen Perspektive, das Hinzuziehen anderer bzw. diverser Ansichten, Meinungen und Forschungsergebnisse. Die Antworten, die gefunden werden, sind oft uneindeutig und variabel, können sich also gleichsam wie wissenschaftliche Erkenntnisse stetig verändern und sind nicht in Stein gemeißelt. Zufälle, Leerstellen und Ambivalenzen werden toleriert und akzeptiert, da es keine einfachen Wahrheiten und nicht nur Schwarz oder Weiß gibt. Informationen werden aus mannigfaltigen Quellen gewonnen, sortiert und nach festgelegten, objektiven Kriterien bewertet. Die Emotionalität wird zugunsten eines rationalen Zugangs zurückgedrängt.

Kritisches Hinterfragen ist aus diesen Gründen harte Arbeit und eine ständige, nie endende und dadurch teils unbefriedigende Auseinandersetzung – und vermutlich deshalb so unbeliebt bzw. untauglich für die aufmerksamkeitsökonomischen Spielregeln des Internets, die prägnante Phrasendrescherei fordert und fördert anstatt vielschichtige, in die Tiefe gehende Inhalte kommunizieren zu wollen oder zu können (?).

 

Diese modernen, digitalen Spielregeln und ihre Konventionen bedient jedoch die gemeine »Querdenkerei« und ihre Tradierung von Verschwörungserzählungen, was deren aktuellen und weitreichenden Erfolg im Netz erklärt.

Die extrem enge Perspektive, die entgegen dem früheren Wortsinn des »Querdenken«-Begriffes nicht über den eigenen Tellerrand hinausblickt, duldet keine Komplexität, keine Zufälle und keine Widersprüche. Die einfachen Antworten, die die Komplexität eines Themas nicht didaktisch reduzieren sondern gekonnt ignorieren, stehen von vornerein fest, beschuldigen eine bestimmte Gruppe von oder einzelne Menschen (klassisches Feindbild), unterteilen die Gesellschaft in sich gegenüberstehende Parteien und wollen auf emotionaler statt rationaler Ebene überzeugen.

Für die Informationsbeschaffung werden ausschließlich Quellen der eigenen »Bubble« (zu Deutsch »Filterblase«) benutzt, nämlich solche, die der eigenen Meinung entsprechen und diese festigen. Die Algorithmen der großen sozialen Plattformen erledigen diese Vorsortierung und Filterung ganz automatisch. Anderweitig gewonnene Informationen werden so verbogen bzw. karikiert, dass sie wiederum zur eigenen Ansicht passen, oder es werden zugunsten dieser eigenständig neue »Fakten« geschaffen. Mit dieser regelmäßigen Bestätigung ihres eigenen Weltbildes im Rücken beginnen »Querdenkende« ihre eigene Rolle und die Relevanz ihrer Anschauungen zu überschätzen. Einen zusätzlichen Boost erhalten ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwertgefühl durch ihre fälschliche Annahme, sich in Besitz »geheimen Wissens« zu befinden. Solange, bis ihre Gehirne dem eigenen Größenwahn erliegen und ihre eigens konstruierte Welt, eine Collage aus unvollständig zusammenzusammenklaubten und noch unvollständiger geprüfter Informationsfetzen, zur vermeintlichen Wirklichkeit aller wird. Dabei ist ihr Wissen weder geheim noch Wissen, im schlimmsten Fall sogar noch spirituell und esoterisch aufgeladen bis entstellt.

 

So viel dazu. Ach, komm, ich bin gerade im Flow, oder wie der Montessori-Lehrer sagen würde: Die »Polarisation der Aufmerksamkeit« hat mich übermannt. Weiter geht’s:

Während der »echte kritische Geist« also Zeit benötigt, nachdenken und abwägen muss, poltern »Querdenkende« ihre immer gleich gestrickten Parolen, um das Gegenüber mundtot zu machen, noch bevor es Luft holen kann. Klassischer Fall von „Wer schreit, der lügt.“ Könnte man zumindest meinen, denn eine Lüge erfordert per definitionem eine Täuschungsabsicht.

Dabei befindet sich ein Großteil der »Querdenkenden« selbst in der Rolle der Getäuschten, der Nachplapperer, der Beeinflussten. Die meisten von ihnen sind Mitläufer:innen, obwohl sie das Gegenteil sogenannter »Schlafschafe« sein möchten: Aufrührerische Hetzer, Hirten und vermeintliche Welterklärer, Geistheiler oder andere Phantasten mit absurden Selbstbezeichnungen, aber ohne Hang zur Realität, erlangen mit ihnen und durch sie Reichweite, können Werbung schalten und Kohle scheffeln. »Querdenkerismus« ist für die Strippenzieher eine gut geölte Gelddruckmaschine. Kein Wunder sind die ehemaligen Pandemie-Leugner plötzlich Ukraine-Krieg-Experten, sie müssen ja im Gespräch bleiben, das Publikum lechzt nach neuen Verschwörungen und Wahnvorstellungen, und wer nun einmal Merch verkaufen, Klicks generieren und Relevanz behalten möchte, der muss liefern.

»Querdenkende« sind also indoktrinierte Marionetten, doch warum lassen sie sich vor einen ideologischen Karren spannen? Womöglich, weil sie in Existenznöten und mit tiefgehenden (aber unberechtigten?) Sorgen leben, oder sich einfache Antworten in einer immer komplexeren und vernetzter lebenden Welt wünschen. Weil sie ihr Vertrauen in staatliche, politische und gesellschaftliche Institutionen und Player verloren haben – herauszufinden warum, ist unser aller Aufgabe. Weil sie weder dem gesellschaftlichen Wandel und der modernen Lebensrealität, die Offenheit und Individualität betont, noch dem medialen Wandel gewachsen sind – und zugegebenermaßen auch nie dazu in die Lage versetzt wurden. Kein Wunder, dass die meisten Fake-News-Verbreitenden im Internet über 50 Jahre alt sind. Diese Menschen sind nicht dumm, haben kein Intelligenzproblem, sondern sind Opfer ihrer Zeit, Opfer der ökonomisch-sozialen Umwälzungen, Opfer ihrer eigenen Prägung. Und deshalb wiederum leichte Opfer für rhetorisch wuchtige Ideologen vom falschen Rand der Gesellschaft.

Unsere gesellschaftliche Aufgabe müsste es nun sein, diese Befunde zu analysieren, um diese Menschen wieder abzuholen, zu integrieren, zu demokratisieren. Anstatt draufzuschlagen, was leichter fällt und wieder der eigenen Abgrenzung und Selbsterhöhung dient. Denn diese Menschen sind nicht dumm, was die Anzahl ihrer akademischen Abschlüsse beweist. Wobei gute Schul- und Studienabschlüsse ja nicht zwingend auf Intelligenz oder Empathie hinweisen müssen. Sie haben zwar vom jeweiligen Thema keine Ahnung (was prinzipiell okay ist, niemand ist ein Universalgenie, aber man sollte sich dann auch für keines halten), wissen nicht, wie man online recherchiert bzw. Quellen prüft, haben jeglichen Sinn für Relationen verloren (z.B. Corona-Einschränkungen = DDR 2.0) und sehnen sich, wie alle Menschen, nach Geltung und Aufmerksamkeit, aber sie sind höchstwahrscheinlich nicht ausschließlich bescheuert. Sie sind Opfer ihrer Zeit, Opfer der ökonomisch-sozialen Umwälzungen, Opfer ihrer eigenen Prägung. Sie vermischen die beiden Standardfloskeln älterer Herrschaften namens „Früher war alles besser“ und „Das haben wir aber schon immer so gemacht!“ zu einem hochpolitischen und hochexplosiven Gemisch, welches sie zu verteidigen gewillt sind. Und scheinen deshalb wiederum leichte Opfer für rhetorisch wuchtige Ideologen vom falschen Rand der Gesellschaft zu sein, die an dieses Gemisch nur zu gern und mutwillig das Feuerzeug halten.

Ist nicht das erste Mal in der Geschichte. Fehlt nur noch eine Inflation, dann... oh, ups. Nein, im Ernst: Es gilt nun zu verhindern, dass die größten Opfer in der Folge die größten Täter werden, andere indoktrinieren, ihren hasserfüllten Umgang im Netz ins echte Leben tragen, sich nicht an Recht und Gesetz halten.           

 

Der Begriff der »Alternative« erhält in diesem Kontext ebenfalls eine gefährliche Färbung. War Merkels Politik für sie selbst noch »alternativlos«, wimmelt es nun von Alternativen: »Alternative für Deutschland«, »alternative Fakten«, »alternative Pädagogik«, »alternative Medizin«.

Der zugrundeliegende Tenor ist immer der Gleiche: Das staatlich Vorgegebene ist böse. Grundsätzlich eine These, über die sich in vielen Punkten trefflich diskutieren lässt, denn vieles in staatlicher Hand bzw. Systemimmanentes gehört dringend modernisiert (z.B. Schulsystem, Säkularisierung). Bei »Alternativos« klingt das jedoch gleich radikaler, endgültiger. Nehmen wir das Beispiel Medizin.

Parole: „Die Schulmedizin ist Teufelswerk! Wissenschaft ist gekauft!“ (Die ganz absurden Thesen wiederhole ich nicht, dabei würde ich vor Lachen vom Stuhl fallen).

Folgeparole: „Wir glauben lieber an Alternatives! Wir öffnen unseren Geist und unseren Geldbeutel lieber für die Homöopathie, die hässliche Tochter der Naturheilkunde!“ Jeder kann mit seinem Geld machen, was er möchte. Meinetwegen kann er es auch für Zucker-Placebos ausgeben. Das Problem an der Sache mit der Homöopathie: Es wird mit einer gewissen Ideologie vermarktet, mit einer Botschaft, mit einer Attitüde, nämlich der oben angeführten Parole. Man nimmt homöopathische Mittel nicht aus medizinischer Erforderlichkeit, sondern aus Überzeugung. Man ist nicht nur (betrogener) Kunde, sondern Jünger.

Deswegen braucht es auch keine wissenschaftlichen Beweise zur Wirksamkeit, denn Wissenschaft ist, wie gelesen, ja eh gekauft und untersteht der fiesen Pharma-Lobby. Konsequent gedacht. Dass ich alle Kügelchen des Landes in einen großen Bottich mischen könnte und es danach keine (!) Methode mehr gäbe, diese wieder nach ihren Eigenschaften bzw. Inhaltsstoffen zu sortieren, ist zweitrangig. Es reicht völlig, einen Hauch Mystik und zwei Löffel esoterischen Kauderwelsch zusammenzurühren. Und diese Produkte, die noch besonders anspruchsvolle und irgendwie ironische Namen erhalten, stehen dann, völlig lächerlich, in den Apotheken gleichberechtigt und ohne Aufklärung neben richtiger Medizin im Regal steht. Warum auch entfernen oder erläutern, Ärzte und Apotheker verdienen mehr als gut daran, Homöopathie ist eine Cashcow, die abseits der »normalen« Pharma-Lobby gemolken wird, aber nach den gleichen Maßstäben arbeitet: Am Leid und an den Krankheiten anderer Geld verdienen.  

Vermeintliche Legitimität erhalten diese Schein-Medikamente hauptsächlich über eine lose verbundene Bande von Schein-Ärzten, die sich »Heilpraktiker« schimpfen, deren Methoden und Mittel laut deutschem Recht keine heilende Wirkung haben müssen, sondern lediglich keinen Schaden anrichten dürfen. Aber es kommt noch schlimmer: Homöopathie ist sogar Kassenleistung, während ich Maulwurf für eine echte, überlebenswichtige Hilfe namens Brille gnadenlos zur Kasse gebeten werden kann. Da sind wir wieder bei einem Punkt angelangt, den man berechtigterweise und sachlich an unserem System kritisieren dürfte und sollte.

Davon gibt es ziemlich viele, auch in die entgegengesetzte Richtung. Denn die »Alternativos« sind wie die »Querdenkenden« nicht selbst die Ursache der Krankheit, sondern das Symptom. Abgesehen davon, dass sich rund um Homöopathie und Heilpraktiker ein riesiges Sammelbecken medizinischer Scharlatanerie aufgetan hat, ist ihre pestähnliche Verbreitung gerade im süddeutschen Raum auf etwas anderes zurückzuführen: Viele der Bürger:innen, die sich diesen Alternativen zuwenden, fühlen sich im »normalen« System nicht ernstgenommen, schnell abgefrühstückt, als beliebige Nummer und nicht ganzheitlich gesehen. Eine interessante Parallele zum Schulsystem. Auch die massive Unterversorgung mit richtigen Ärzten auf dem Land spielt da eine nicht untergewichtige Rolle. Beide Probleme schreien nach einer echten, politischen Behandlung.

Aber um sachliche Kritik ging es ja nie, es geht ums Abgrenzen, ums persönliche Andersmachen um seiner selbst willen, frei von staatlichem Einfluss, aber leider auch frei von Vernunft.  Jedenfalls: Wer den Schritt zum überzeugten »Alternativo« bereits gegangen war, dem fehlte nur noch ein kleines Stück zur ersten Verschwörungstheorie. Auch wenn nicht alle »Alternativos« gleichzeitig »Querdenkende« sind (und umgekehrt), schien eine gewisse Überschneidung zwischen Globuli-Fans und Impfverweigernden zu existieren.

 

Noch ein Wort zur »alternativen Pädagogik«, die auch meine Schule praktiziert: Ja, sie arbeitet pädagogisch und didaktisch anders als es an staatlichen Schulen gemacht wird. Sie ist aber jederzeit und in jeder konzeptionellen Kleinigkeit wissenschaftlich, genauer empirisch, bildungstheoretisch und lernpsychologisch, begründbar. Abgesehen davon arbeiten wir uns dennoch entlang staatlicher Vorgaben und bieten staatliche Abschlüsse an. Blöd, was? Ich bin es leid, immer mit verkappten Hippies und Esoterikern in eine Schublade gesteckt zu werden bzw. dass Eltern denken, unsere Schule wäre ein Hort für (wohlhabende) Spinner und ihre Hirngespinste.

„Montessori? Das klingt doch schon so herrlich alternativ!“

„Ja, aber ich muss dich enttäuschen, zwischen meinem »alternativ« und deinem »alternativ« liegen Welten. Hier wird mit Augenmaß und gesundem Menschenverstand gearbeitet.“

 

So, nun aber wieder zurück zum sachlichen Ton:

Bildung und Aufklärung auf Augenhöhe kann grundsätzlich vor »Querdenkerismus« bewahren. Leider sind die Fronten mittlerweile so verhärtet, dass die Menschen, die ihren Standpunkt rigoros mit dem emotionalen Streitkolben verteidigen, auf der Sach-ebene nicht länger zu erreichen sind. Umso wichtiger ist die Beziehungsebene, das persönliche Warum des Ganzen herauszufinden und zu erörtern. Das heißt jedoch nicht, dass man akut menschenfeindliche Aussagen tolerieren darf oder muss, ganz im Gegenteil.

Ein »echter kritischer Geist« geht aber auch in dieser Hinsicht auf sein Gegenüber ein, vernimmt unterschiedliche Wahrnehmungen, lernt kennen, versucht vielleicht sogar zu helfen, auch wenn es weh tut, auch wenn man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt, auch wenn es Energie frisst. Zumindest sollte man das probieren, wenngleich es sehr idealistisch anmutet und vor allem im Netz einem Kampf gegen Windmühlen gleicht.

 

Aber ist die rationale Auseinandersetzung mit den »Queris« nicht auch die Pflicht einer kritischen, humanistischen Gesellschaft? Vermutlich schon, denn ein pauschales Abstempeln dieser Personengruppe wäre eine querdenkerischer, vereinfachender und der Sache nicht gerecht werdender Reflex – und das wollen wir doch nicht.

 

Oder?

 

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