Unter der Lupe: Was ist eigentlich ein Text?

Texte: Der Grund, warum dieser Blog nie Erfolg hatte und haben wird. Weil er gegen gekünstelte Insta-Filter-Pics und dämliche werbefinanzierte Opening- und Produkttest-Videos auf YouTube natürlich chancenlos unterlegen ist. Womöglich zu Recht, denn auch ich könnte ja mit der Zeit gehen. Oder mich darum scheren, wie groß meine Leserschaft ist. Dass ich das definitiv nicht tue, zeigt folgende Auseinandersetzung, die niemand freiwillig lesen sollte/wird, der nicht außerordentlich besondere special interests besitzt.

 

Ein Text, der der Frage nachgeht, was eigentlich ein Text ist. Schräger wird's nicht. Wobei: Das ist wahrscheinlich gelogen. Ein kleiner und wenig amüsanter Ausflug in die Welt der Linguistik.


Die Schwierigkeit der Definition

 

Texte sind außerordentlich komplexe Phänomene, die keiner einheitlichen Definition unterliegen, da einerseits alltägliche und andererseits wissenschaftliche Erklärungsansätze koexistieren. Im Alltag werden Texte als schriftlich fixierte und inhaltlich kohärente (Kohärenz, von lat. cohaerentia = Zusammenhang) sprachliche Einheiten wahrgenommen, die aus aneinandergereihten Sätzen bestehen.
Diese Definition ist der Wissenschaft nicht präzise bzw. allumfassend genug. In der Linguistik (Sprachwissenschaft, lat. lingua = Zunge, Sprache) gibt es zwei größere Strömungen, die den Begriff des Textes zu fassen versuchen und dabei unterschiedliche Schwerpunkte setzen:

Sprachsystematische Ausrichtung Kommunikationsorienterte Ausrichtung
  • Fokus auf das Sprachsystem → zugrundeliegende Regeln
    der Sprachverwendung & Sprachbildung
  • Texte = grammatisch kohärente Folge von Sätzen
  • nur syntaktisch-semantische Beziehung der Sätze relevant
    • Syntax (Satzlehre, gr. syntaxis = Ordnung, Reihenfolge)
    • Semantik (Bedeutungslehre, gr. sēmantikós = bezeichnend)
  • Kritik an Sprachsystematischer Ausrichtung: Texte ≠ isolierte
    Objekte, sondern eingebunden in Kontext und Kommunikations-
    situation
  • Texte = komplexe sprachliche Handlungen mit kommunikativer
    Funktion

Klaus Brinker schlägt eine Verschmelzung beider Ansätze vor, um dem komplexen Phänomen Text gerecht werden zu können.  Sein integrativer Textbegriff formuliert, dass Texte innerhalb eines bestimmten Kontextes eine vom Emittent (Sender, lat. emittere = aussenden, losschicken) festgelegte Funktion erfüllen. Sie bestehen aus einer begrenzten Folge von sprachlichen Zeichen, die inhaltlich und grammatisch kohärent (= zusammenhängend) sind, und können darüber hinaus sowohl schriftlich fixiert als auch mündlich vorgetragen sein.

Auch Thomas Lindauer berücksichtigt beide linguistischen Strömungen und bezeichnet Texte als Zusammenspiel von materiellem Text (Oberflächen-struktur, Grammatik) und kognitivem Text (Kommunikationssituation, Funktion). Erst wenn ein kognitiver Text erkannt werden kann, darf dem materiellen Text »wahre Texthaftigkeit« zugesprochen werden. Ob der Rezipient (Empfänger, lat. recipere = annehmen, aufnehmen) jedoch einen Text als »echten Text« erkennt, hängt von seinem Sprachwissen (z.B. Erkennen von Zeichen, Textsorten, sprachlichen Mitteln etc.), seinem Weltwissen (z.B. Erkennen von Zusammenhängen und der Textfunktion) und seiner Einstellung gegenüber dem Emittenten und seiner Sprache ab. Schlussendlich sind Texte seiner Meinung nach also subjektive Konstrukte.

 

Kritik an diesen Definitionsversuchen äußert Kirsten Adamzik, auch wenn sie die Abkehr von der Fokussierung nur eines Teilaspektes des Phänomens begrüßt. Jedoch hält sie die integrativen Ansätze mehr für Zusammenstellungen wesentlicher Merkmale als für allgemeingültige Definitionen. Sie macht ihre Kritik an drei kontroversen Kriterien fest, die trotz der vorhandenen Definition noch unklar seien:

 

Dimension der
Medialität
  • Sind auch mündliche Texte »echte Texte?«
    • Argument gegen mündliche Texte: schriftliche Sprache unterscheidet sich von mündlicher Sprache
    • Argument für mündliche Texte: mündliche Texte sind (historisch) ursprünglicher → z.B. mündlich tradierte
      Märchen wurden zeitlich erst deutlich später aufgeschrieben
  • monologische vs. dialogische Texte
    • Brinker: nur monologisch, Dialoge gehören zur Gesprächsanalyse
    • aber: Dramen/Theaterstücke werden der Textlinguistik zugeordnet

 Dimension der
Objektivität

  • Gibt es überhaupt einen objektiven Textbegriff
  • produktbezogene (objektive) vs. verwenderbezogene (subjektive) Kriterien
    • Texte = objektive Phänomene oder abhängig von (kompetenten) Rezipienten (Lindauer)?
    • falls rein subjektiv: normative Definition überflüssig, nur mögliche Kriterien für Texthaftigkeit wichtig

 Dimension des
Umfanges

  •  Wie lang sind Texte (Minimalumfang)? Wann sind Texte abgeschlossen? Wer legt das Ende fest?
    • Markierung des Endes über sprachliche Begrenzungssignale (Emittent) oder inhaltliche Sinnzuschreibung (Rezipient)?
    • viele Texte sind thematisch verbunden (Intertextualität) und haben Bezüge zum Genre → kein Ende, da indirekter
      oder direkter Verweis auf andere Texte?

Ihr Lösungsvorschlag lautet, Texte als prototypische Konzepte zu verstehen, anstatt die Formulierung einer einschnürenden Definition zu versuchen. Die tiefgreifende Analyse aller potenziellen Eigenschaften von Texten soll helfen, definitorische Schwierigkeiten zu überwinden und eine differenzierte Betrachtung zu ermöglichen. Die zugrundeliegende Fragestellung "Was ist eigentlich... ein Text?" wandelt sich dabei zur Frage "Was ist ein typischer Vertreter eines Textes?". Diese Prototypentheorie versucht, geeignete Beispiele zu analysieren, die mehrere zentrale Merkmale vereinen. Allerdings liegt die Eignung eines Textbeispiels als Prototyp erneut im Auge des Betrachters. Adamzik skizziert vier Beschreibungsdimensionen, nach denen sich Texte auseinanderdividieren lassen:

 Thema

(Was?)
  • Analyse »statischer«, »dynamischer« und »kognitiver« Objekte (z.B. Handlungen, Agenten, Bedingungen etc.)
  • Fokus auf »echten Inhalt« statt auf thematische Geschlossenheit (Brinker, s.u.)

 Funktion
(Wozu?)

  • Folge der Handlungsabsicht des Emittenten oder der Interpretation des Rezipienten? → Analyse verschiedener Perspektiven

 Sprachliche
Gestaltung
(Wie?)

  • Lexik (Wortwahl), Grammatik (Sprachsystem), Kohäsion (formale Verknüpfung einzelner Textteile)

Situativer
Kontext

  • Bezugsgröße für Produktion & Rezeption von Texten (Kommunikationssituation, Intertextualität, Verweise etc.)

Die Textanalyse nach Brinker

 

Untersucht werden können Texte nach textinternen und textexternen Analysedimensionen, die sich mit den wissenschaftlichen Nahbereichen der Pragmatik (Kommunikationssituation, gr. pragma = Handlung, Sache), Syntax (Satzlehre, gr. syntaxis = Ordnung, Reihenfolge) und Semantik (Bedeutungslehre, gr. sēmantikós = bezeichnend)überschneiden. Brinker schlägt dazu drei Schritte vor:

Schritt 1:
Analyse des
Kontextes

  • Beschreibung der Kommunikationssituation und Interaktionsbedingungen
  • Reflexion der Konsequenzen für die Textkonstitution → Einfluss auf Textsorte, Funktion, sprachliche Mittel etc.

Schritt 2:
Analyse der
Textfunktion

  • (direkte oder indirekt signalisierte) Funktion einzelner Textabschnitte und des Gesamttextes
    • Information, Appell, Deklaration, Kontakt oder Obligation

 Schritt 3:
Analyse der
Struktur

  • grammatische Ebene (grammatische Kohärenz)
    • implizite und explizite Wiederaufnahme
    • Tempuskontinuität
    • grammatisch-konjunktionale Verknüpfungen
  • thematisch-inhaltliche Ebene (inhaltliche Kohärenz)
    • Textthema
    • Form der Entfaltung (deskriptiv, narrativ, explikativ, argumentativ, sach-/meinungs-/wertbetont)

Ein paar der in der Tabelle verwendeten Begriffe und Analysekriterien werden im Folgenden näher erläutert.

 

a) Analyse des Kontextes

Die Kontextanalyse, also die Untersuchung der außertextlichen Faktoren, ist der primäre Schritt und nimmt die Kommunikationsform (Mediennutzung, Mündlichkeit/Schriftlichkeit), den Handlungsbereich (privat/offiziell/öffentlich) und die jeweiligen Auswirkungen auf die Textkonstitution unter die Lupe. Der Kontext hat direkte und indirekte Auswirkungen auf die Sprache und damit auf die Gestaltung der Texte. Einfaches Beispiel: Eine Chat-Nachricht an den besten Freund wird anders formuliert als eine E-Mail an den Chef, obwohl beide der gleichen Absicht (z.B. Wunsch, Entschuldigung) entspringen können.

 

b) Analyse der Textfunktion

Die Textfunktion beschreibt die mit konventionell (= gebräuchlich, gewöhnlich) geltenden Mitteln ausgedrückte Kommunikationsabsicht des Emittenten im Text, die der Rezipient erkennen soll. Nicht zu verwechseln mit der Textwirkung, also der tatsächlichen, nicht vorhersehbaren Folge, die aus der Rezeption des Textes resultiert.

 

Eine der Grundlagen bzw. Möglichkeiten zur Analyse der Textfunktion findet sich im Sprechhandlungskonzept bzw. den Illokutionsindikatoren des amerikanischen Philosophen John Searle. Mit sprachlichen Handlungen (Illokutionen) versucht der Emittent zielgerichtet auf den Rezipienten einzuwirken. Der Versuch erfolgt über intentionale und konventionalisierte Muster, die das Verständnis auf Seiten des Rezipienten ermöglichen sollen. Sprachliche Handlungen sind laut dieses Konzepts Grundeinheiten für die Textkonstitution. Eine sprachliche Handlung besteht dabei aus vier Teilen, wovon die ersten drei Teile zeitgleich ausgeführt werden:

Illokutiver Teil

 Sprechhandlungstyp, z.B. Versprechen, Ratschlag, Behauptung, Befehl...

Propositionaler Teil

Inhalt, z.B. des Versprechens

Äußerungsakt

Ausdruck, mit dem das Versprechen getätigt wird

Perlokutionärer Teil

Wirkung, nicht konventionalisiert

Texte besitzen meist eine dominierende Illokution (z.B. Wunsch) und mehrere untergeordnete bzw. stützende (z.B. bestenfalls überzeugende Begründungen). Verschiedene Illokutionsindikatoren, also konventionalisierte sprachliche Mittel, signalisieren den Typ der sprachlichen Handlung:

Sprachliche Indikatoren
(textintern)

explizite performative Formel

 z.B. "Ich verspreche"...

Satztyp

z.B. Fragesätze

Satzmuster

z.B. Tempus

Abtönungspartikel/Modalwörter

z.B. "bestimmt", "bloß"

prosodische Merkmale

z.B. Intonation, Lautstärke

propositionaler Gehalt

Inhalt

Kontextuelle Indikatoren
(textextern)

institutioneller Rahmen

z.B. am Arbeitsplatz
Rollenverhältnis z.B. Chef - Angestellter
Hintergrundwissen z.B. Dauer/Art der Zusammenarbeit

Nicht immer reichen die oben gelisteten Merkmale auf der Ebene der Textoberfläche bzw. der Sprache aus, um die Textfunktion zu beschreiben. Höher in ihrer Wertigkeit einzuschätzen sind die Interaktionsbedingungen und das Verhältnis zwischen Emittent und Rezipient, denn nur so lassen sich beispielsweise ironische Bemerkungen entschlüsseln. Auch der propositionale Teil kann sich aufgrund des Kontextes verändern: Der Satz "Wir werden wiederkommen." lässt sich sowohl als Drohung oder freundschaftliches Versprechen interpretieren.

 

Ernst Ulrich Große analysiert die Textfunktion über Dominanzkriterien und erfasst dazu die verwendeten Ausdrücke auf quantitativer Ebene. Er arbeitet für seine »Text-Statistik« also nah an der Textoberfläche und bezeichnet die Textfunktion als Gebilde aus folgenden Komponenten:

Typen semantischer Sätze

  • Kombination aus proportionalem Gehalt (Inhalt an sich)...
  • ... und metapropositionaler Basis (Instruktion, z.B. X wünscht Inhalt, Y kritisiert Inhalt etc.)
  • Problem: Häufigkeit nicht immer aussagekräftig (Vernachlässigung des textuellen Zusammenhangs)

Appellfaktor

  • Häufigkeit wertender Wörter und rhetorischer Figuren zur Beeinflussung des Rezipienten
  • maßgebliches Unterscheidungskriterium für werbende vs. informierende Texte

Präsymbole

  • vorausgehende Orientierung durch Titel, Gattungsbezeichnung, Medium etc.

Handlungsregeln

  • Beachtung der »sozialen Regeln« (kontextabhängig + intersubjektiv)

 

Zusammengefasst können also sowohl innertextliche als auch außertextliche Elemente als Indikatoren herangezogen werden, die die Textfunktion direkt oder indirekt signalisieren:

direkte Signalisierung

sprachliche Formen

Emittent drückt seine Intention gegenüber dem Rezipienten aus
(z.B. performative Verben wie wünschen, verlangen, kritisieren...)

indirekte Signalisierung

thematische Einstellung

Emittent drückt seine Einstellung zum Thema aus (z.B. über Wertungen)
kontextuelle Faktoren situativer bzw. institutioneller Rahmen + gesellschaftlicher Handlungsbereich

 

Bleibt die Frage, welche grundlegenden Funktionen Texte eigentlich erfüllen können bzw. sollen. John Searle spricht von fünf textuellen Grundfunktionen, die alle ihre eigenen performativen Verben mitbringen:

Informationsfunktion
(z.B. berichten, informieren)

  • Zweck: Vermittlung von Wissen
  • Variante 1: sachbetont, thematische Orientierung (z.B. Bericht, Beschreibung)
    • Fokus: objektive Wiedergabe eines Sachverhalts
  • Variante 2: meinungsbetont, evaluative Orientierung (z.B. Rezension, Leserbrief)
    • Fokus: Bewerten eines Sachverhaltes/Produkts

Obligationsfunktion
(z.B. schwören, beten)

  • Zweck: freiwillige, willentliche Verpflichtung zu einer Handlung (z.B. Vertrag, Angebot)
  • stark institutionalisiert, direkte Signalisierung über konventionalisierte sprachliche Formen

Kontaktfunktion

(z.B. danken, gratulieren)

  • Zweck: Herstellung persönlichen Kontakts (z.B. Brief, Postkarte)
  • oft an gesellschaftliche Anlässe gebunden (Geburtstag, Hochzeit), an gesellschaftliche Erwartung gebunden

Deklarationsfunktion

(z.B. bescheinigen)

  • Zweck: Einführung eines Faktums (z.B. Urkunde, Testament)
  • stark institutionalisiert, direkte Signalisierung über konventionalisierte sprachliche Formen

Appellfunktion

(z.B. auffordern, empfehlen)

  • Zweck: Meinungs- oder Verhaltensbeeinflussung (z.B. Werbung, Kommentar, Bedienungsanleitung)
  • Variante 1: normativ (zugrundeliegendes Interesse des Emittenten), direkter Appell
    • Imperativsätze ("Entdecke Grönland!"), Interrogativsätze ("Haben Sie schon Grönland entdeckt?")
  • Variante 2: evaluativ (Rezipient soll Meinung übernehmen), indirekter Appell
    • emotionales statt rationales Argumentationsschema, persuasiv (überredend)
    • keine direkte Ansprache nötig, da Rezipient sich über Werbung bewusst
    • "Wilde Abenteuer im Schnee, danach das wohlige Knistern des Feuers im Kamin -
      toller Urlaub für Paare nur in Grönland."

c) Analyse der Textstruktur

Die Textstruktur meint das Gefüge an Relationen, die zwischen Sätzen bestehen, also den inneren Zusammenhang auf grammatischer und inhaltlicher Ebene (Kohärenz). Der Satz gilt dabei als zentrale Struktureinheit des Textes, wenngleich sie sich im Mündlichen oder Gedanklichen aufgrund der fehlenden, den Text segmentierenden Interpunktion nur schwer fassen lassen. Die Definition eines Satzes ist ähnlich wie die Definition eines Textes schwierig zu formulieren und in der Wissenschaft je nach Schwerpunkt unterschiedlich ausgestaltet. In der Textlinguistik wird das Phänomen des Satzes unter zwei verschiedenen Aspekten zu greifen versucht, angelehnt an die Bilateralität sprachlicher Zeichen (Ferdinand de Saussure):

Ausdrucksorientierte
Satzanalyse

  • Valenzgrammatik (Satz als sprachliche Einheit bestehend aus Verb + den von ihm abhängigen Elementen, z.B. Subjekt
    und Objekte)
  • Haupt- und Nebensätze zur besseren Segmentierung
  • Existenz von Ausdrücken ohne Satzwert, aber relevanter Funktion (z.B. Grußformeln)
  • Satz = syntaktische Struktureinheit

Inhaltsorientierte
Satzanalyse

  • Sprechakttheorie → illokutionärer Akt (Beziehungsherstellung, Absicht) + propositionaler Akt (Inhalt)
  • unterschiedliche Illokution bei gleicher Proposition möglich ("Wir werden wiederkommen.")
  • Proposition (ausgedrückter Sachverhalt) = semantische Struktureinheit

 

Wie können nun aufeinanderfolgende Sätze zu einem Text verschmelzen? Zum Einen über die grammatische Kohärenz, also die semantisch-syntaktische Beziehung zwischen Sätzen, die durch sprachliche Mittel (z.B. Konjunktionen)hergestellt wird. Hier hat vor allem das Prinzip der Wiederaufnahme maßgebliche Bedeutung:

Explizite
Wiederaufnahme

  • Querverweis innerhalb des Textes (textimmanent, syntaktisch)
  • Referenzidentität (Koreferenz): Bezeichnungsgleichheit bestimmter sprachlicher Ausdrücke in aufeinanderfolgenden Sätzen
    • Beispiel: "Ein Mann auf dem Fahrrad". Person als Referenzträger, Wiederaufnahme/Wiederholung durch... 
      • Artikelwechsel, da nun bekannt → der  Mann
      • dasselbe oder anderes Nomen, Synonym → der Radler
      • Pronomener

Implizite
Wiederaufnahme

  • Querverweis im Sprachsystem (sprachimmanent, semantisch)
  • semantische Kontiguität: inhaltliche Beziehung zwischen Ausdrücken
    • Gegenstandsbeziehungen sind im Sprachsystem verankert und müssen nicht explizit erwähnt werden
    • Beispiel auf kultureller Basis: Operation → Krankenhaus
      • geht es um eine Operation, ist für den Rezipienten der Aufenthalt in einem Krankenhaus automatisch enthalten
  • Querverweis im Weltsystem (sprachtranszendent, erfahrungs- bzw. wissensabhängig)
    • Beispiel: "Trump schüttelte Merkel nicht die Hand." → wenn Wissen über Politik vorhanden, dann Nennung der Ämter/Bedeutung nicht nötig

 

Zum Anderen spielt die inhaltliche Kohärenz eine wichtige Rolle, also der kognitive Zusammenhang der Sätze und damit die logisch-semantische Relation. Auch auf diese besitzt das Prinzip der Wiederaufnahme Einfluss, eine erste thematische Orientierung ermöglicht z.B. die wiederholte Nennung der Hauptfiguren. Der thematische Kern eines jeden Textes kann jedoch noch nach anderen (kommunikativen) Prinzipien abgeleitet werden: Einerseits kann er explizit genannt sein (z.B. in der Überschrift), benötigt aber je nach sprachlicher Verknappung ein gewisses Vorverständnis des Rezipienten. Andererseits lässt er sich aus dem Text abstrahieren, z.B. aus inhaltlichen Wiederholungen, der Textfunktion oder der Textsorte (s.u.) heraus.

 

Die gedankliche Ausführung des Textthemas (»Thematische Entfaltung«) ist abhängig von kommunikativen bzw. situativen Faktoren. Es lassen sich hierbei vier große Grundformen feststellen, die über eine Analyse des Beitrags einzelner Bestandteile zum Gesamtinhalt und ihrer logisch-semantischen Relation ableitbar sind:

Deskriptive Texte

  • Spezifizierung (Aufgliederung)
  • Situierung (Einordnung Raum & Zeit) 

 

 

einmaliger Vorgang,
historisches Ereignis
 Bericht, Zeitungsartikel...
(informativ)
regelhafter Vorgang Bedienungsanleitung, Kochrezept...
(instruktiv bzw. appellativ)
Bezeichnung von Gegenständen und
Lebewesen
Beschreibung, Lexikonartikel...
(informativ)

 Argumentative Texte

  • Überzeugung als Ziel
  • viele konditionale, logische und kausale Satzverknüpfungen
  • historische/politische/kulturelle Einbettung
  • Stützen der Argumente durch Belege
 

 Kommentar, Erörterung, Werbetext...

(appellativ)

Narrative Texte

  • »erzählenswertes, unterhaltendes Ereignis«
  • Situierung, Repräsentation des Ereignisses (z.B. Komplikation,
    Auflösung), Resümee
Erzählung, Märchen, Roman, Kurzgeschichte...
(informativ)

Explikative Texte

  • Ziel: Wissenserweiterung
  • Aufzeigen von Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen
Abhandlung, Essay, Referat....
(informativ)

Textsorten

 

Jede Textsorte besitzt konventionalisierte, typische Verbindungen kontextueller, sprachlicher und funktionaler Merkmale, an denen sie sich erkennen lassen. Diese festgelegten Strukturen erleichtern den kommunikativen Umgang und bieten zeitgleich Orientierung für Textproduktion und -rezeption. 

Textsorten bezeichnen also komplexe Muster sprachlicher Kommunikation, die innerhalb einer Gesellschaft aufgrund von kommunikativen Bedürfnissen gewachsen sind.

 Nicht-literarische Texte

(deskriptive, explikative,
appellative Texte)

 Texte des privaten Gebrauchs  Brief, E-Mail, Postkarte, Tagebucheintrag, Leserbrief, Social-Media-Kommentar...
 Wissenschaftliche Gebrauchstexte  Essay, Abhandlung, Hausarbeit, Erörterung..
 Didaktische Gebrauchstexte  Schulbuchtext, Anleitung, Referat...
 Publizistische Gebrauchstexte  Bericht, Interview, Werbetext, Satire...

 Literarische Texte

(narrative Texte)

 Epische Texte  Roman, Novelle, Kurzgeschichte, Märchen, Fabel, Sage...
 Lyrische Texte  Gedicht, Ballade, Lied, Elfchen, Sonett, Ode...
 Dramatische Texte  Tragödie, Komödie, Bürgerliches Trauerspiel...

 

Wolfgang Kesselheim analysiert Textsorten auf sprachorientierter Ebene. Textualitätshinweise (Verknüpfungen, Themen, Bezüge, Funktionen etc.) sind für ihn gleichzeitig Musterhinweise, an sich die Textsortenzugehörigkeit erkennen lässt:

performative
Hinweise

  • durch eine sprachliche Äußerung beschriebene Handlung, deutlicher Hinweis auf Musterhaftigkeit
    • "ich gratuliere dir" → Brief, Karte
    • Text im Perfekt → Erzählung, Text im Präsens → Beschreibung

nicht-performative
Hinweise

  • verdeckte, nicht-sprachliche Hinweise
    • Textabgrenzung bzw. -medialität (Buch, Karte, Heft...)
    • Textgliederung (Absätze, Verse, Kapitel...)
    • Textverknüpfung (Gedichte, Romane...)
    • Thematischer Zusammenhang (Sportbericht, Zigarettenwerbung...)
    • Textnützlichkeit (für Emittenten und/oder Rezipienten)
    • Textbezüge (Rezension, Parodie...)

Textsorten sind demnach ein Resultat aus Materialität (Papier, digital etc.) sowie sprachlicher Formgebung und können durch verschiedene zugrundeliegende Textmuster realisiert werden. Die Textsorte Kochrezept kann z.B. aus den Mustern "Historie des Gerichts" (narrativ + informativ) und der "Darstellung des Kochprozesses" (informativ + appellativ) bestehen.

 

Bei Klaus Brinker, der eine kommunikationsorientierte Analyse der Textsorten bevorzugt, ist die Funktion das Basiskriterium für die Unterscheidung von Textsorten. De kommunikative Sinn einer Textsorte lässt sich über den kontextuellen Faktor (soziale Rollen, Interaktionsbedingungen etc.) erschließen. Textsorten bezeichnet er als Einheiten eines jeweiligen sozialen Systems, wobei jedes System (z.B. Schule, Familie, Büro, Medien) eine eigene, spezifische Kommunikation verfolgt, die die Regularitäten des Systems (z.B. Codes, Sprache, Erwartungen) widerspiegelt.

Soziales System

 Wissenschaft und Bildung

Organisation

Hochschule

Interaktion

Austausch zwischen Professor und Student

Textsorte

E-Mail, konventionalisiert (z.B. Anrede)

Funktion

Erinnerung, Information, Sprechstundentermin...

Textsorten sind also sowohl eine Reaktion auf als auch eine Grundlage für das Kommunikationsangebot des Systems. Dabei ist eine Kopplung mehrerer Subsysteme denkbar (z.B. ein Elternbrief mit dem Bezug zu den Systemen Schule und Familie). Systeme und ihre Textsorten können sich dabei weiterentwickeln und ausdifferenzieren: So entstanden aus den Stellenanzeigen die Kontaktanzeigen, die das vorhandene Kommunikationsschema etwas variierten. Textsorten und ihre Muster sind folglich konventionalisiert, aber gleichzeitig offen für Veränderungen.

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