Die Zeit

Früher, in meiner Kindheit, erzählte man mir, die Zeit würde besonders dann schnell vergehen, wenn man Spaß hat, wenn man genießt. Heute jedoch habe ich das Gefühl, dass die Zeit im Allgemeinen rast, unaufhörlich, stetig, unbeeinflussbar.
Die Welt zieht verschwommen vorbei, als säße ich in einem übermotorisierten Sportwagen, festgebunden auf dem Beifahrersitz, ohne Möglichkeit des Eingreifens: Gas geben, lenken, bremsen und schalten übernimmt der Steuermann namens Zeit...

Verschwitzt und panisch ob meiner Kontrolllosigkeit winde ich mich auf dem Sitz, versuche mich zu lösen, blicke ich mich um:

Über den rechten Seitenspiegel muss ich hilflos beobachten, wie mir Erinnerungen an Personen und Ereignisse entgleiten, im Dunst des eigenen Gehirns verschwinden, wie sie wirken wie Kerzen kurz vor dem Erlöschen. Durch das Seitenfenster betrachte ich leblose Gestalten mit verwaschenen Konturen, die vorüberziehen, die bereits vergessen werden, bevor ich sie in ihrer wahren Gestalt erkennen kann. Schaue ich nach vorne durch die Windschutzscheibe, schützt sie mich entsprechend ihres Namens zwar vor dem Fahrtwind, aber nicht vor den lüsternen Blicken der Angst, die mir einflüstern, jeden Moment mit voller Geschwindigkeit von der Fahrbahn abzukommen oder mit anderen Wagen zu kollidieren, womöglich ebenfalls besetzt mit hilflosen Passagieren in Geiselhaft der Zeit.

Würde ich schreien, wenn ich nicht geknebelt wäre?

Würde ich gegen die Fensterscheiben hämmern, wenn ich nicht gefesselt wäre?

Würde ich die Handbremse ziehen, wenn ich die Wahl hätte?

Würde ich die Richtung ändern, wenn ich lenken könnte, und falls ja: Welche Richtung würde ich dann wählen?

 

Werden wir konkreter:

Aus dem Nichts erschüttern Schicksalsschläge das nähere Umfeld in immer regelmäßigeren Abständen, die Krankheit und Tod in das Bewusstsein treten lassen wie alle Lebewesen früher oder später ins weiße Licht treten werden. Patientenverfügung, Erbangelegenheiten, Testamente, Bestattungsarten, Chemotherapie, Dialyse, Bestrahlung - Begriffe eines neuen, erwachsenen und von einer gewissen Schwere getragenen Zeitalters, die leider dazugehören wie das Sterben zum Leben, die man aber nicht akzeptieren kann oder will, vor denen man nicht länger wegrennen kann.

Fürchte ich mich? Ein bisschen, ja. Denn die meisten Menschen sterben nicht an Krebs oder bei Autounfällen, sondern wegen der Zeit. Sie ist die häufigste Todesursache.

 

Schlagartig bin ich in meinem dritten Jahr an der Schule und werde demnächst, nach drei gemeinsamen, wenngleich von Corona zerrütteten Jahren, ausgerechnet die Kinder abgeben müssen, die einen großen Anteil daran besitzen, dass ich, entgegen früherer Erfahrungen, in diesem Beruf trotz oder wegen meiner Eigenwilligkeit gleichsam akzeptiert wie respektiert arbeiten, leben und aufgehen konnte. Die einen großen Anteil daran besitzen, dass ich diesen Beruf doch noch ergriffen habe, zumindest bis auf Weiteres. Die hoffentlich genauso so viele positive Erinnerungen an mich mit durch ihr weiteres Leben tragen, wie ich gerne an sie zurückdenken werde. Die mit mir gemeinsam gewachsen sind, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise.

Fürchte ich mich davor, dass unser sehr gutes Verhältnis dem üblichen Lauf der Dinge entsprechend aufweicht? Dass sie sich nun naturgetreu zu den Großen zählen, mich als früheren Lehrer hinter sich lassen und ein leises, vielleicht sogar erzwungenes "Hallo" auf dem Pausenhof das höchste der Gefühle und gleichzeitig alles ist, was bleibt? Ein bisschen, ja.

 

Völlig unerwartet macht die Zeit zwischendurch eine 180°-Drehung und ohne Kollaps des Raum-Zeit-Kontinuums verordnet sie eine Reise ins Geschichtsbuch menschlicher Abgründe, existenzieller Not und gewaltsam ausgetragener Konflikte. Fürchte ich mich? Nein. Bin ich verunsichert? Ja.

Ruckartig ist schon wieder März, obwohl gestern noch Weihnachten war; über Nacht leben wir unser öffentliches Leben schon seit zwei Jahren versteckt hinter Masken; unversehens ist der FC Bayern bereits 10 Jahre am Stück Deutscher Meister und die Bundesliga nur noch ein Schatten ihrer selbst; Knall auf Fall ist jedes Innehalten namens Wochenende vorbei bevor es beginnt; kurz nach den Faschingsferien ist kurz vor den Osterferien und damit bereits kurz vor den Pfingstferien und ehrlicherweise ist das Schuljahr damit quasi vorbei; völlig überraschend gehen die kleinsten Familienmitglieder plötzlich schon seit mehreren Jahren zur Schule so als hätten sie einige Lebensjahre übersprungen; die belächelte Generation der Post-2000er-Ära ist auf einmal bis zu 22 Jahre alt; zack ist das Studium vorbei ohne etwas für den späteren Berufsalltag gebracht zu haben; unverständlicherweise bin ich jäh im Klub der Dreißiger gelandet, obwohl ich mich weder äußerlich noch innerlich seit den Mittzwanzigern verändert habe; nun sollten mich wider Erwarten wirtschaftliche Spielregeln der Zeit wie Steuererklärungen, Altersvorsorge, Rente und Geldanlagen interessieren, von denen während des Heranwachsens niemand auch nur ein Wort verliert.

Fürchte ich mich? Ein bisschen, ja.

 

Denn ganz plötzlich hätte ich, parallel zum hastigen Voranschreiten der Zeit, mindestens im Inneren eigentlich erwachsen werden sollen. Und sei es nur, um mit ihren rastlosen Einfällen klarzukommen, ihre Macht anerkennen und tolerieren zu lernen, mich ihrem Willen zu beugen.

Fürchte ich mich? Nein, denn auf Erwachsenwerden hatte ich nie Lust. Und ironischerweise nie Zeit für. Sorry. Not sorry. Darauf erst mal ein Melonen-Eis und eine Runde Pokémon.

 

In kurz: Die Zeit vergeht (zu?) schnell. So fühlt es sich zumindest an, und jeder Stillstand, jede Ruhepause und jedes Schläfchen birgt die Gefahr, etwas zu verpassen. Der Zeitraffer verzeiht nicht. Um mich selbst aus einem alten Text zu zitieren: "Unaufhaltsam huscht das Leben dahin. Ein Königreich für eine Stoppuhr. Besser noch: Eine echte, funktionierende Zeitmaschine. Um Rache an der Zeit nehmen, für all die verschwendeten Augenblicke."

Empfindet man das ab einem gewissen Alter anders als noch zuvor? Schwindet die verschwenderische, aber lebensbejahende Sorglosigkeit der Jugend einem reifen Verständnis für eigene und fremde Vergänglichkeit? Bedeutet die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen das eigene Vergangenheits-Ich im Spiegel zu sehen und die Sehnsucht nach der schönen und unbeschwerten Kindheit zu befeuern? Kann man die Puzzleteile beider Zeitalter, des jugendlichen und des erwachsenen, irgendwie miteinander verbauen, kombinieren, sodass ein schönes Bild entsteht?

 

Die Zeit ist ein spannendes Phänomen, zugleich objektiv messbar und subjektiv empfindbar. Wird gelangweilt auf sie geachtet, dann schlendert sie gemächlich, so der Eindruck. Wird ihr Fortschreiten dagegen ignoriert, weil man eine bessere Beschäftigung findet als dem Lauf des Zeigers zu folgen, beginnt sie zu sprinten. So kommt es, dass zwei Personen im selben Raum die Zeit und ihre Länge unterschiedlich wahrnehmen. Für Schülerinnen und Schüler verstreichen die 45 Minuten im Klassenzimmer für gewöhnlich schleppend, für Lehrkräfte dagegen viel zu rasant.

 

Nun, um den Anfang dieses Beitrages wieder aufzunehmen und damit die Lehre aus meiner Kindheit: 

Wenn die Zeit also saust und braust, macht das Leben entgegen der eingeredeten Wahrnehmung doch irgendwie und trotz aller Widerstände Spaß?          

Obwohl man Negatives immer näher an sich heranlässt als Positives?

Obwohl Gespräche, die man selbst führt oder beiläufig mitbekommt, fast immer vermeintlich ungute Dinge thematisieren, Probleme statt Lösungen, Ärger statt Freude, Hass statt Liebe?

Obwohl man völlig pflichtversessen immer an die Arbeit denkt statt an die Freizeit, obwohl man völlig paranoid an den Stress denkt statt an die Erholung, obwohl man völlig selbstvergessen an andere denkt statt an sich, obwohl man völlig verunsichert an den Krieg denkt statt an den Frieden?

Obwohl die Ereignisse der nahen Umgebung und der weiten Welt ein schreckliches Bild von eben dieser zeichnen? Und wäre es an dieser Stelle einerseits unmoralisch oder gar verwerflich, sein eigenes Leben vorsichtig als schön zu bewerten? Oder muss ich das sogar offensiv tun, weil meine Probleme im weltweiten Vergleich alberne Kinkerlitzchen sind?

 

Die Zeit wird auch in dieser Hinsicht die Antworten geben.

Irgendwann.

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