Zugfahrten ins depressive Milieu

Durchmogeln. Das kann eine Lebenseinstellung sein. Meine ist es. Und ich genieße dafür Respekt. Werde dafür bewundert, spüre andererseits aber auch Missbilligung.

Blöd nur, dass der Zug des Lebens mich irgendwann dazu auffordern wird, die Weichen neu zu kalibrieren. Es nä­hert sich kein Abgrund, auch kein Sprengsatz, nichts, keineswegs. So schlimm ist es nicht.

 

Aber das monotone Geklappere des Zuges, die Fahrt in die immer gleiche Richtung, die sich wiederholenden wenigen lohnenswerten Haltestellen – all das wird mich sicherlich später einmal frustrieren.

Ob ich an diesem Punkt angelangt bin?

Das Leben läuft. Irgendwie schaffe ich alles, was ich mir vornehme. Zumindest, was die Noten, die Aufgaben, die Fortbildung betrifft. Einen kurzen Moment nach dieser gedanklichen Feststellung fährt der Zug plötzlich aber über unebenes Gelände. Beginnt zu wackeln. Bin ich so inkompetent, wie ich mich fühle? Mein Gedächtnis ist faktisch nicht vorhanden. Nichts kann ich mir merken, was nicht absoluter Nonsens ist. Wenn überhaupt. Was ich lese, bleibt nicht hängen. Was mir jemand erzählt? Puff. Einfach weg.

Bin ich bereit? Bin ich gut vorbereitet? Und für was überhaupt?

 

Nur eines der scheinbar marginalen Probleme, welche erst in der Summe ihre wahre, dunkle Macht entfalten. Nächster Stein in den Gleisen, wieder rüttelt es. Handwerkliches Geschick? Um Gottes Willen. Eine einzigartige Meinung, die ich ohne Polemik, aber mit Nachdruck und Argumenten, unbeeinflusst von anderen, äußern kann? Fehlt. Interessen? Nichts von Belang, reine Nische, Nerdkram.

Vielleicht sitze ich deshalb genau hier, schreibe, schaue aus dem Fenster, während die Landschaft – natürlich verregnet – an mir vorbeizieht. Der Zug rast. Wie das ganze Leben. Unaufhaltsam huscht es dahin, ein Königreich für eine Stoppuhr. Besser noch: Eine echte, funktionierende Zeitmaschine. Um Rache an der Zeit nehmen, für all die verschwendeten Augenblicke.

 

Manchmal kommt ein grimmiger Schaffner vorbei. Lieber wäre mir: Eine nette, adrette Schaffnerin. Blickt mich kurz an. Kontrolliert mich, auch kurz. Sehr kurz. Verschwindet. Ich wünschte, sie würde sagen: „Hey, dort drüben, im anderen Abteil. Da sind Leute. Nette Leute, wie du. Ganz okaye Leute, intelligente, lustige Leute. Wie du. Geh hin.“ Kurz würde ich mir es überlegen. Um es dann vermutlich zu lassen. Eine der Gelegenheiten, bei der ich lieber aus dem Fenster schaue und mich fest an das Bekannte klammere. Ah, hier, diese Gebäude. Diese Ansammlung Bäume da, sieh an. Groß sind sie geworden. Eine selbst gestellte Aufgabe, erneut nicht gelöst. Und das, obwohl sie rein hypothetisch war, nur in der eigenen Phantasie gestellt. Aktiv jemanden kennenlernen, statt gekennenlernt zu werden, oder so ähnlich – unmöglich.

 

„Weichen stellen!“ Scheint der Lokführer zu sein, der da unversehens so abartig brüllt.

„Wie denn?“, denke ich verzweifelt, sage aber nichts. Wie immer, ich sage nichts. Zu sehr spukt es in meinem Hinterkopf. Zu schüchtern? Die Leute, die mich richtig kennen und daher mögen, lachen darüber. Ich und schüchtern? Alter, du wirst eventuell vielleicht möglicherweise sogar Lehrer oder sowas, wie passt das denn bitte zusammen? Hör dir mal selbst zu, was du wieder für eine Scheiße laberst.

Aber die kennen mich eben. Da kann ich sein, wie ich bin, da habe ich nichts zu verlieren. Da spielt Selbstvertrauen keine Rolle. An einem bekannten Bahnhof steige ich gerne kurz aus, sogar bei Regen, genieße die frische Luft, wische mir die Tropfen aus dem Gesicht, bringe mein Resthaar in Ordnung. An diesem bekannten Bahnhof kann ich navigieren, weiß, wo ich den saftigsten Burger und das sauberste Klo finden kann.

An einem unbekannten Bahnhof aussteigen? Nein, lieber nicht. Auch wenn ich den Burger hier nicht schon tausendmal ge­gessen, das Klo nicht schon tausendmal benutzt habe.

 

Wieder schallt es aus der vordersten Kabine: „Stell die Weichen, verdammt! Du kannst das doch!“

Konnte, meint der verrückte Lokführer wohl. Früher irgendwie schon. Doch die vielen kleinen Taschen und Köfferchen, die ich mittlerweile im Gepäckregal der Befindlichkeiten über mir verstaut habe, beengen mich von allen Seiten. Nur zu gerne würde ich einen Rollkoffer, meinetwegen auch nur eine Handtasche, am nächsten Bahnsteig abstellen und vergessen können. Leider nicht so einfach.

 

Und jetzt? Warten? Auf was?

Bis die Schaffnerin meiner Träume die Kabine betritt und mir den Weg weist? Oder der Schaffner meiner Alpträume mir einen Tritt in den Hintern versetzt – und mir damit die Richtung zeigt? Wahrscheinlich würde beides helfen. Oder auch nichts.

 

Ich schlafe ein. Mal sehen, was passiert. 

 

***

 

Aufgewacht. Schweißgebadet, natürlich. Einer der dicken Koffer, der mich immer und überall hin verfolgt. Ich schubse ihn von mir weg – er rollt stetig zu mir zurück. Befindet sich der Zug in einer für mich ungünstigen Schräglage?

Schwer zu sagen.

 

Ziemlich befremdlich, dieser schwarze Koffer. An vielen Stellen sichtbar, fühlbar. Immer dabei, immer aktiv. Nervt mich wahnsinnig, kann aber nichts dagegen tun, sogar wirklich nicht. Meine Freunde stört es scheinbar aber nicht. Oder sie verheimlichen es. Wirklich nett von ihnen, das ehrt sie.

Das Selbstvertrauen aber, mein ärgster Feind neben der unliebsamen Prüfungsordnung (gerade) sowie dem VfB Stuttgart (ganzjährig), meldet sich ebenfalls nicht. Wird hingenommen.

 

Ich habe es an anderer Stelle erwähnt: Damals – damals ging es. Mit dem Selbstvertrauen, mit dem Optimismus, Hand in Hand. Wie ein frisch verliebtes Paar saßen wir damals hier im Zug. Viele Kollegen, beliebt bei den Mädchen, die Sympathie wie ein Blumenkränzchen auf dem Haupt tragend. Ziemlich naiv, ich. Und sie. Jetzt? Sitzen wir wieder hier. Nebeneinander. Ohne uns anzusehen oder gar zu berühren, wie ein lang vertrocknetes Abbild einer anfangs netten Romanze. Oder wie eine zu lange Ehe.

Bisschen Sport, bisschen gesündere Ernährung. So weit gehe ich bisher, um diese Ehe vor dem Scheitern zu bewahren. Erfolg trat nur bedingt ein. Weil: Der schwere schwarze Koffer, ja, der klebt an mir. Und klopft mir in regelmäßigen Abständen – zu den ungünstigsten Zeitpunkten – beherzt an die Schädeldecke.

 

Wann fand dieser Entfremdungsvorgang statt? Schwierige Frage. Ich sitze doch täglich hier in diesem Zug. Habe immer mein Bestes gegeben – oder zumindest das, was ich für mich als das Beste empfand –, blieb bei dem, was ich verstand, was ich als nützlich betrachtete, was mir Spaß machte. Doch als alle anderen in gut ausgerüstete ICEs umstie­gen – oder zumindest so taten –, bin ich in meiner Bummelbahn sitzengeblieben. Und dann fiel – wie so oft hier, danke geliebte DB – wohl die Klimaanlage aus. Und seitdem läuft’s flüssig.

 

Mein ganzer Körper wird durchgeschüttelt. Notbremsung? 

Würde nichts bringen. Ich würde eh nicht aussteigen, nicht einmal dann. Hab’s versucht, ehrlich. Keiner konnte mir helfen. „Alles in Ordnung“, sagen die gelehrten Weißkittel, „kann man nichts machen“. Hyperhidrose, klingt für mich eher nach einer sehr effektiven Pokémon-Attacke mit Genauigkeit 100, und fühlt sich auch exakt so an. „Alles in Ordnung“. Meine widerspenstige Psyche sagt da natürlich etwas anderes. Warum auch immer. Und das entgegen jedes Widerstandes, auch wenn dieser mittlerweile ziemlich porös erscheint.

 

Bin ich echt schon so dermaßen weit an der Weiche vorbeigefahren?

Ärger erfasst mich. Kurzes Aufregen, kurzer Nässecheck – mh, na wunderbar. Leute kommen in mein Abteil. „Nicht jetzt!“, schreie ich flehentlich in mich hinein. „Bitte! Bitte!“. Zu spät. Und dann auch noch Personen, die ich aus Prinzip nicht leiden kann. Lachhaft überflüssig weite Hosen, Bling-bling, umgedrehte Caps. Äußerst schlechte Handy-Musik mit substanzlosen Texten in noch minderer Qualität. Das Deutsch eines minderbemittelten, räudigen Straßenköters. Aber scheinbar massive Coolness. Und sogar Zufriedenheit mit sich selbst. Voll krass unfair. 

 

Scheiße. Was tun? 

Zum Glück hält mich mein weißes T-Shirt erstmal am Leben. Auch wenn der dicke schwarze Koffer drückt. Überall hin. Nicht anlehnen, sonst knallt er mir gegen den Rücken. Nicht die Beine übereinander legen, sonst trifft er mich dort. Nicht sitzen, sonst… ach verdammt.

Ich spüre seinen stechenden Druck in und an meiner Stirn. Nicht nur das Kopfweh aufgrund der drei pöbelhaften Jugendlichen vor und neben mir, nein, meine Schläfen tropfen. Wenn ich diese drei Teenies doch nur kennen würde. Dann würden sie nichts sagen, es einfach ignorie­ren und mich nicht anstarren.

Ok, die starren gar nicht, zugegeben, sie sagen auch nicht viel, und wenn, dann nichts meine Angst, mein Gebrechen betreffend. Nicht mal, als der Zug hält und die Banausen endlich verduften. Aber: Sie hätten was sagen können! Wollten sie, aber dann kam ihre Haltestation, echt!

 

Reiß‘ dich zusammen. Jetzt nicht auch noch paranoid werden.

Draußen wird es dunkel. Und damit kühler. Beruhigend. Nicht viel, aber etwas. Eigentlich mag ich den Sommer. Eigentlich. Bis auf dieses eine Detail.

 

Erneut eine Runde dösen?  Ja, wenn ich etwas kann, dann das. Und wieder viel zu viel Zeit und Potenzial vertrödeln. Mal schauen, was der kommende Tag so mit sich bringt.

Vielleicht lerne ich ja jemanden kennen?

 

***

 

Was habe ich eigentlich diesem nicht-existenten Gott getan?
Jeder hat doch seine Fehler, und manche Menschen sind nun wirklich wandelnde Fehler, wieso muss ich all diese Sorgen und Ängste mit mir herumtragen?

 

Oh, erwischt. Der Schaffner war es. Ich selbst, ich ganz allein, habe mein Ticket heute nicht dabei, und ich hasse diesen Typen aus eben diesem Grund – obwohl er nichts dafür kann. Sondern er nur seinen faden, schlecht bezahlten Job ausführt.

Als hätte er nur darauf gewartet, fährt mir mal wieder der dicke schwarze Koffer an die Handinnen­flächen und die Achseln, dann versuche ich, mich zu konzentrieren. In der Folge entschuldige ich mich, etwas Klügeres ist mir nicht eingefallen. Und er lässt es gut sein. Einfach so.

„Ist gut, ich kenne dich doch“, sagt er. „Du fährst hier jeden Tag. Ich weiß doch, dass du ein Universal-Jahresticket XXL besitzt, das hast du mir schon zigmal gezeigt. Kein Problem, passiert den Besten.“

Habe ich gesagt, ich hasse ihn?

 

Selbst Toleranz verlangen, nach außen hin aber in seiner eigenen Art und Weise, in seinen Gedanken, keine aussenden. Vorurteile, das Sich-lustig-machen über kleine Schwächen der anderen Menschen. Ich nutze das aus, will es aber umgekehrt nicht auf mich angewendet wissen.

Ich bin die Selbstironie in Person. Außer es wird ernst. Es wird persönlich. Wenn es um meine Taschen, meine Köfferchen geht. Dann schmerzt es. Dann hört der Spaß auf. Es holpert mal wieder. Schlechte Schienen. Und ein Zeichen.

 

Die Grenze des Humors. Ich selbst ziehe sie nicht. Ich finde: Je schwärzer, desto besser. Finster wie die Nacht, die gerade an mir und meinem rasenden Freund, dem Zug, vorbeizischt, so muss er sein, erst dann ist er ein nötiges Befreiungsmittel aus dem schnöden Alltag, erst dann trennt er die Spreu vom Weizen.                

Die zahlreichen winzigen funkelnden Lichter am düsteren Horizont, auch die davor, gefallen mir. Sie erinnern mich an pseudo-intellektuelle Kalendersprüche und Wandtattoos: Immer ein positives Gefühl in einem tragen, trotz der beklemmenden Dunkelheit. Grün auf weiß steht es da, mit Schmetterlingen. Dieses Licht reflektiert aber nicht immer von mir. Ich will mit meinen Sprüchen derb sein, witzig sein – ohne aber jemanden zu verletzen. Umgekehrt wollen die anderen Menschen das womöglich auch nicht. Nur: Das Licht strahlt in diesen Momenten nicht hell genug.

Zumindest sehe ich es nicht.

 

Ich gehe aufs Töpfchen. Kämpfe mich durch die zu engen Gänge. Und realisiere: Alle, wirklich alle tragen ihre eigenen Köfferchen mit sich herum. Der eine dort: Ziemlich fettleibig, schwabblig. Und stinkt. Da ist sie auch schon: Meine Intoleranz. Er denkt: Guck dir den an! Schmaler Wurf. Mit nassen Klamotten. So ein schwitzender Lauch. Oder?

Vielleicht denkt er gar nichts. Vielleicht bin ich ihm egal. Vielleicht hat er genug mit sich selbst zu kämpfen. Ich schäme mich. Ich will besser sein als er. Will besser aussehen. Mache mich indessen zum absoluten Volldeppen, weil ich ihn so abschätzig einschätze. In der Zwischenzeit wünsche ich mir: Hoffentlich denkt der nicht so. Er könnte einer der nettesten Menschen auf der Welt sein. Der dicke Klops.

 

Toilette im Zug. Absoluter Härtefall. Es mieft fürchterlich. Noch mehr als der kräftige Typ draußen. Aber auch mehr als mein fauliges, heuchlerisches Inneres?

Gelbe Flüssigkeiten ringsum, auf und unter dem nun hochgeklappten Klodeckel. Dasselbe Spiel auf, unter und neben der Brille. Widerlich. Diese verdammten Schwachmaten. Nicht mal richtig pissen können die. Ich stehe da, lasse laufen, es rumpelt und holpert. Mit dem gelb-orangen Strahl aus meinem Genital tänzele ich seltsam vor mich hin, Manneken Pis zum Leben erwacht. Ich versuche dilettantisch, mein Gleichgewicht zu halten. Und treffe nicht immer ins schäumende Schwarze. Finde es jetzt aber lustig.

Stell dir vor, der mollige Typ muss sich jetzt da draufwuchten, wenn er einen dampfenden, braunen Hügel durch den Zugabfluss rauschen lassen möchte. Zum Wegschreien.

Abspülen, Hände waschen. Ekelhaft.

 

Draußen die Erkenntnis: Bin ich einer von vielen? Oder noch schlimmer: Bin ich noch unerträglicher als die anderen Unerträglichen?

 

Ich komme an meinen Platz. Und tatsächlich: Der dicke Typ mit der Figur eines Sackes Schrauben steht jetzt auf. Plötzlich schäme ich mich. Schon wieder. Er weiß ganz genau, dass ich vor ihm an beziehungsweise auf seiner als Ziel auserkorenen Örtlichkeit des fäkalen Vertrauens war.

Kurzer Check des schwarzen Koffers. Er rollt an, zu Recht.

 

Auch der dicke Typ walzt im Anschluss wieder in meine Richtung. Ich habe plötzlich einsetzende Klaustrophobie. Obwohl er vermutlich gar nicht Klaus heißt. Er setzt sich. Er hat es über sich ergehen lassen, wie die Toilette sich hilflos seiner sicherlich drakonischen Ausscheidungen hat ergeben müssen. Ich bin ein Arsch.

 

Taschen, Koffer – und dazu schwarzer Humor. Eine satanische Mischung. 

 

***

 

Ironie des Schicksals.

Wieder sitze ich hier – in „meinem Abteil“ quasi. Die immer gleiche Strecke, derselbe Sitzplatz. Aber eine Variable hat sich verändert: Ich habe Besuch. Auch quasi.

 

Stellt euch vor: Der dickbäuchige Typ, wohl auch Dauerfahrer  – klar, Laufen steht ihm nicht so gut zu Gesicht – wohl auch gefangen im (selbst verschuldeten?) Trott, sitzt heute bei mir. Neben mir. Durch die Spiegelung im Fenster kann ich ihn beobachten. Wie jede minimale Bewegung seinerseits eine erheblich Qual für ihn und auch für mich ist. Er beklagt sich aber nicht.
Arbeitet es ihn ihm? Nimmt er es hin? Oder kämpft er?

 

Dann kommt die Süßigkeitenfrau mit ihrem zittrigen Verkaufswagen in unser Abteil. Eine, wie sie eigentlich nur in Fantasy-Jugendbüchern, die trotz oder wegen des einfachen, kinderbuchartigen Schreibstils sogar von den Großen verschlungen werden, existiert.

Kurzes Grinsen.
Ob ich überhaupt noch einen klitzekleinen Rest der zuckerhaltigen Dickmacher bekomme, wenn der adipöse Mann dort eine gewaltige Schneise durch die Leckereien frisst? Zum Leidwesen seines Herzens, seines Sitzes und seiner Zähne?

Kurzes Schämen.          

 

Aber vielleicht hat er eine Hand am Hebel, der die Weichen verstellt, denn er sagt: „Nein, danke.“ Das klingt nun nicht komplett überzeugt, sicher. Aber er tut es. Er springt über seinen mächtigen Schatten. Ich bin dran.

 

Natürlich möchte ich etwas. Nur was? Das knifflige Auswahlverfahren unter Zeitdruck und direkter Beobachtung lässt den bekannten schwarzen Koffer anrollen. Muss ich mittlerweile – glaube ich – gar nicht mehr erwähnen. Egal.

Viel interessanter ist das Prozedere. Denn es ist ein Spiegelbild der Realität. Oder eine Parodie? Für euch vielleicht. Für mich keineswegs. Ich erkläre es. An lebensnahen Beispielen lernt man es zu verstehen, sagt man doch.

 

Natürlich nehme ich eine Süßigkeit, die ich kenne. Auch wenn ich sie vielleicht gar nicht mehr so schmackhaft, so anziehend finde. Überdosis, vielleicht, satt gesehen und gegessen. Aber ich weiß eben, wie sie schmeckt. Das Fremde? Müsste man erforschen. Eine ganz neue Welt betreten und möglicherweise scheitern, enttäuscht werden. Das ist merklich schwieriger, als die alte, nervend gewohnte Süßigkeit zu verschmähen. Obwohl diese einem schon gar keine echte Freude mehr bereitet.

Und sogar die Süßigkeit selbst innerlich insgeheim hofft, von einem besseren, sie schätzenden Käufer verzehrt zu werden. Sie sehnt sich nach anderen Händen, anderen Mündern, wenn sie sich denn sehnen könnte. Und obwohl dieser bessere Käufer niemals kommen wird, weil sie darauf keinen aktiven Einfluss haben kann, bleibt sie sich treu und hofft weiter und weiter. Auch ein Koffer, den man mit sich herumschleppt. Denn es ist völlig verzweifelt, fatal traumwandlerisch.

Ich schweife ab, ein neuer Tagtraum, stelle ich mir doch gerade ernsthaft ein lebendiges Stück Milchschokolade vor und projiziere die Wirklichkeit des Zusammenlebens auf es. Das Traurige: Sogar in der Fiktion nehme ich gleichwohl das Altbekannte, so festgefahren sind die Strukturen und Abläufe in meinem Gehirn, obwohl es mir nicht das vollkommene Erlebnis bieten kann und wird. Die letztliche Geschmacksexplosion fehlt. Ich habe es so gewollt. Auf (neue) Leute und Situationen zugehen – außer mit 3 Promille – unmöglich. Ein Bier zur Lockerung, das wäre jetzt was.

Süßigkeitenfrau, du kennst mich mittlerweile auch ein bisschen, hilf mir doch!

Sie geht. Ich habe zu lange gebraucht. Und stehe mit leeren Händen da. Weder das eine, noch das andere.

 

Was beim Prozess des Leute-Kennenlernens nervt? Vieles. Auch ganz ohne den schwarzen Koffer, ganz ohne das minimal durchlöcherte Selbstwertgefühl.

Small-Talk? Würgereiz. Was studierst du? Wo wohnst du? Wie lange schon (auf beides bezogen)? Pah. Unnötige Details, wen juckt das? Diese eindrucksvoll ausdrucks- und letztlich inhaltslosen Standardgespräche.

Ein Jammer. Verschwendete Zeit. Meine Meinung. Scheinbar ist tatsächlich aller Anfang schwer. Dabei habe ich einfach keine Lust auf sozialen Alibi-Quatsch. Socializen gehört nicht zu meinen Kernkompetenzen.

Erzähl mir doch lieber gleich etwas anderes. Was reißt dich mit, was fasziniert dich? Bei welchen Tätigkeiten vergisst du die Zeit? Was sind deine Träume? Und was fehlt dir, sie zu verwirklichen? Was nervt dich?  Vor allem Letzteres, denn: Ein gemeinsamer gelebter Hass, davon bin ich überzeugt, verbindet noch viel mehr als eine gemeinsame Liebe. Gemeinsamkeiten, das kann man prinzipiell sagen, um diese geht es. Egal, ob positiv oder negativ.

 

Und wenn mich wirklich jemand mag – jemand weibliches, wohlgemerkt, dann schrecke ich zurück. Weiß noch schlechter, wie ich eigentlich reagieren soll, bin überfordert und geschmeichelt zugleich, warte ab, statt aktiv zu werden. Ich genieße es, während es mir eigentlich unangenehm ist. Oder umgekehrt?

Jedes kostbare Kompliment wird, statt es begierig aufzusaugen und abzuspeichern, in Einzelteile zerlegt, als rosarote Brille des Gegenübers abgetan, man beteuert die Postfaktizität ihrer Aussagen, redet sich selbst klein.                                  

 

Und dann fällt mir wieder dieses hoffnungslose Stück Schokolade ein, dass mich gar nicht will, und ich auch gar nicht weiß, ob ich es (noch) möchte – aber habe damit eine funktionierende Ausrede. Eine schlechte zwar, aber eine Ausrede, um flüchten zu können.

Ich spreche sie nicht aus, würde mich nie trauen, sie auszusprechen. Aber sie ist in meinem Kopf. Immer und überall.

 

Der dicke Typ pennt übrigens. Schnarcht wie Sau.

 

Irgendwie mag ich ihn mittlerweile.

 

***

 

Es lärmt und poltert.

 

Ich bin, unbeeindruckt davon, schläfrig, immer wieder am Dösen und Träumen. Träume heute von Bäumen im Herbst, wieso auch nicht. Sie stehen tapfer aufrecht, wippen mit ihrer verbliebenen Kraft. Wohlwissend, dass eine nachhaltige, unumkehrbare Veränderung anstehen wird, die optisch wehtut.

 

Früher waren sie mit den schönsten Blättern geschmückt. Saftiges Grün, lagen perfekt im zugigen Wind, wirkten ansehnlich. Viele erfreuten sich daran, Mensch und Tier, fanden die Pracht an den Zweigen ansprechend und sommerlich. Aber plötzlich verfärben sie sich. Macht nichts, auch das Gelb, Rot und Siffbraun steht dem Baum gut, kommen an. Er weiß aber, was folgen wird.

Blättchen für Blättchen springt wagemutig von den blanken Ästen, stürzt sich selbstsüchtig gen Abgrund, in den sicheren Tod, ohne an das große Ganze zu denken.

Und der Baum steht da. Muss weiter da stehen. Wacker. Aber traurig.

 

Ich wache auf. Wirklich verrückt, alles was ich hier in diesem Zug erlebe, real oder fiktiv, scheint eine kuriose Hommage an mein Leben zu sein, mal offensichtlich konstruiert, mal unabsichtlich passend. Hohe Literatur. Nur in mies.

Somit bin auch ich ein Baum. Unflexibel und Starrköpfig. Ebenfalls mit flüchtenden, suizidalen Blättern. Ich schaue mir mein Spiegelbild in der staubigen Fensterscheibe an, während draußen tatsächlich mehrere Bäume – gesunde und ungesunde, große und kleine, volle und kahle – an mir vorbeirauschen. Und sehe mein Vergangenheits-Ich ständig und ruckelnd auf der ungeputzten Scheibe aufflimmern, wie mit einem alten Super 8-Projektor.                                Dann ein Tunnel. Anschließend ist mein gegenwärtiges Selbst zurück. Leider?

 

Die Natur, die Gene, könnte man sagen, da steckt man nicht mit drin, ein wehrloses Opfer von X und Y, von dominant und rezessiv, von Sozialisation und Erziehung. Da kommt man nicht dagegen an.

Sehr schade eigentlich um die Wuschelei, um den Reiz dieses malerischen Chaos, dieses Auflehnen gegen Frisurkonventionen.

Aber heutzutage sind doch auch Winterbäume in, oder? Könnte man zumindest meinen, wenn man so umherguckt, in den Medien, im Sport. Alles kein Problem. Aber auch in der echten Welt?

 

Gegenüber im Abteil sitzt auch einer dieser Blattlosen. Aber dem steht es merkwürdigerweise. Kann man das schon vorher testen oder gar wissen? Oder muss man sich einfach trauen, um sehen zu können, wie schmuckvoll die kommende Befreiung in Raten wirklich sein wird? Oder lässt man alles – beziehungsweise nichts – schrittweise und natürlich auf sich zukommen?

Der erste Moment wird schrecklich sein. So oder so. So wie der erste Moment der Erkenntnis.

 

Wieder beginnt das Abwägen.

Als könnte man Eigenschaften und Äußerlichkeiten auf so eine alte, schwere Eisenwaage legen – um herauszufinden, was einem psychisch und physisch andauernder schaden wird. Fett – sind andere. Dumm wie Brot – sind auch andere. Humorlose Empörungsfanatiker – sind ebenso andere. Engstirnige Konservative – gleichermaßen.

Ich versuche, den Spieß ausnahmsweise umzudrehen: Was sind die, und vor allem, was bin ich aus positivistischer Sichtweise? Wenn man so eine Pro- & Contra-Tabelle erstellt und das Contra einfach mal außen vor lässt? Und spielen da die Ungereimtheiten überhaupt noch eine Rolle?

Oder bin nur ich selbst so oberflächlich, dass ich meine eigene Person und andere Menschen in derartiger Weise messe und beurteile? Und das Ganze nur, um dann zu merken, dass ich meinen eigenen Idealen gar nicht entspreche?

 

Angst vor dem Blattwechsel (positive Sichtweise, eigentlich: unumkehrbarer Blattausfall) habe ich nicht. Das ist eben vorprogrammiert, nur eine Frage des Abfindens, des Arrangierens damit. Aber Angst davor, dass es jemand anspricht, jemand neckisch bemerkt, ist vorhanden, obwohl eigentlich nicht weiter tragisch.

Je nach Form des Hauptes. Die sich erst noch zeigen wird.

 

Vor mir liegt ein DB-Reiseheft. So ein schmieriges, zerknittertes Exemplar, wie in Flugzeugen, bereits durch hunderte griffige Finger gewandert. Nur Standard-Reisetipps und uninteressante Foto-Storys finden sich darin.

Dann fällt mir etwas auf. Rubrik: Stars und Sternchen. Promi-Klatsch. Die Protagonisten: Bruce Willis, verdient Geld wie Heu. Jürgen Vogel, witziger Typ. Vin Diesel, äußerst strammer Kerl. Und dann beim Sport: Pep Guardiola, spezielles Exemplar Mensch, aber eben nicht gänzlich unerfolgreich. Andre Agassi, ehemaliges Tennis-Ass.

 

Und alle haben sie diese eine, auffällige Gemeinsamkeit. Die einfach irrelevant zu sein scheint, wenn man ehrlich ist.

Kurzes Aufheitern der Laune.

Doch dann ein erneuter, blitzschneller Umschwung. Problem: Die sind auch alle älter. Haben alle Kohle ohne Ende, sind bekannt, können alles, haben alles, dürfen alles.

 

Aus der Traum. Zurück auf Anfang.

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