Angst

Meinen Schülerinnen und Schülern erkläre ich regelmäßig, dass es vollkommen okay und normal ist, Ängste zu haben. Das ist keine Schwäche. Manche fürchten sich vor Höhe, manche vor Spinnen, manche vor der nächsten Klausur, manche vor Horrorfilmen. Das ist nicht immer rational, aber eine notwendige, reflexartige Reaktion des Körpers, die evolutionär betrachtet Sinn ergeben und unser Überleben gesichert hat...

Wird eine Gefahr entdeckt, werden z.B. bestimmte Hormone (u.a. Adrenalin) ausgeschüttet und Muskeln angespannt, um uns für einen kurzen Zeitraum leistungsfähiger und aufmerksamer zu machen, was wiederum die Erfolgschancen unserer Handlungsmöglichkeiten beeinflusst (z.B. Attacke, Flucht).

 

Viele dieser Ängste können abtrainiert werden, in dem sich Probanden beispielsweise über eine Konfrontationstherapie an sie ängstigende Situationen gewöhnen. Ein Klassiker in der Schule: Referate zu halten und vor anderen zu sprechen hilft dagegen, Referate zu scheuen. Klingt komisch, ist aber so. Und in manchen Fällen ist die Therapie zwingend notwendig, denn die oben erwähnten Angstreaktionen können u.U. so stark sein, dass sie zu einem gegenteiligen Effekt führen: Der Körper verkrampft oder Panikattacken machen einen angemessenen Umgang mit dem Stressor unmöglich.

 

Doch darum soll es gar nicht gehen. Wir haben gesehen, es ist normal und liegt in unserer Natur, gewisse Ängste zu haben, die teilweise sogar therapiert werden können, falls sie das alltägliche Leben negativ prägen.

Aber ist es auch normal, Angst zu haben? Grundlegend und ständig, im Alltag und im Beruf? Vermutlich nicht, man spricht in solchen Fällen von einer Angststörung, einem in der Persönlichkeit verankerten Merkmal. Was dann eine Schwäche ist. Und ja, ihr ahnt es, ich gebe es offen zu: Ich habe Angst. Jeden verdammten Tag.

 

Ein paar willkürliche Beispiele, die Liste ist unvollständig:

- Ich habe Angst vor Stillstand, aber andererseits fürchte ich Veränderungen.

- Ich habe Angst davor, Leute anzusprechen – und sei es »nur« die Verkäuferin im Supermarkt.

- Ich habe Angst davor, den Kopf auszuschalten und loszulassen, andererseits fürchte ich, dass ich den Kopf nie mehr ausschalten kann.

- Ich habe Angst davor, »neue« Leute kennenzulernen, aber ich fürchte mich auch davor, mit »alten« Leuten den Kontakt aufrechtzuerhalten, weil ich bei unseren Meeting nie etwas zu erzählen habe. Stell dir vor, du triffst einen alten Kumpel nach zwei Jahren wieder und er dich fragt: "Hey, was geht? Was gibt's Neues?"... und dir keine Antwort einfällt. Es gibt nicht nur nichts Neues, es gibt überhaupt nichts. Während er stundenlang von Gott und Frau und Welt fabuliert. Alle entwickeln sich weiter, allen geht es gut – was mache ich falsch? Alle fahren geradeaus, nur ich fahre in Schlangenlinien und muss alle halbe Stunde anhalten, um zu pinkeln.

- Ich habe Angst, wenn ich angerufen werde oder es an meiner Tür klingelt (vgl. hier).

- Ich habe jede Nacht Angst davor, dass der Wecker mich gleich aus der warmen Geborgenheit und der hemmungslosen Freiheit meiner Träume reißt. Andererseits fürchte ich, dass ich zu spät zur Arbeit komme.

- Ich habe Angst vor Kritik, aber auch vor Komplimenten. Mit beidem kann ich nicht umgehen.

- Ich habe Angst davor, Nähe zuzulassen, aber auch davor, einsam zu sein.

- Ich habe Angst davor, alt zu werden, aber andererseits fürchte ich mich davor, nie erwachsen zu werden. Denn gefühlt bin ich im Alter von 20 stehengeblieben. Dabei bin ich 31 verdammt!

- Ich habe Angst davor, mit Frauen zu interagieren, die potenziell interessiert scheinen. Auch weil es Jahre her ist, dass überhaupt mal etwas ging und ich mich wieder fühle, als wäre ich sogar erst 16 Jahre alt und würde nervös eine neue Welt erkunden. Also habe ich einerseits Angst davor, dass sich Damen für mich interessieren, andererseits fürchte ich, dass sich keine mehr für mich interessieren.

- Ich habe Angst davor, keine Familie zu gründen und mir weiter die Vorwürfe anderer anhören zu müssen, andererseits habe ich Angst davor, Kinder in diese Welt zu setzen, die ihr hässliches Gesicht an so vielen Ecken zeigt (Krieg, Klimawandel, Korruption, Armut, Inflation, Lebensmittelknappheit, Leistungsgesellschaft...). Das Leben der nachfolgenden Generationen wird härter, als es unseres nun gerade ist. Im Namen meiner imaginären Kinder habe ich Angst vor der Zukunft. Darüber hinaus hätte ich aktuell Angst davor, im familiären und durchgetakteten Spießerleben mit Eigenheim und Kids gefangen zu sein oder mein Leben voll auf den Nachwuchs ausrichten zu müssen. Wiederum andererseits hätte mein Leben dann endlich ein Ziel (siehe unten).

- Ich habe Angst davor, Verantwortung zu tragen, aber andererseits möchte ich kein stimmloser Lakai anderer sein.

- Ich habe Angst vor Konflikten.

- Ich habe Angst davor, ernsthaft zu sein (weil ich mich bei argumentativen Schwächen angreifbar mache), aber andererseits fürchte ich die Rolle des Hofnarren (weil ich meiner Verantwortung nicht gerecht werde und mich daher angreifbar mache).

- Ich habe Angst davor, der knorrige Buhmann zu sein, aber andererseits fürchte ich mich davor, nicht respektiert zu werden. Ein Mittelweg gelingt mir nicht.

- Ich habe Angst davor, mich erklären zu müssen. Andererseits fürchte ich mich davor, nicht verstanden zu werden.

- Ich habe Angst davor, dass Menschen meine zahlreichen Schwächen identifizieren. Manchmal fühle ich mich vor Eltern oder vor dem Spiegel wie ein Scharlatan. Andererseits fürchte ich mich vor Lob, weil ich es ironisch ad acta lege und es nicht meinem Gefühl entspricht. Ich habe Angst, dass man mir die Maske vom Gesicht reißt.

- Ich habe ständig Angst, körperlich oder geistig unterlegen zu sein.

- Ich habe Angst davor, geblitzt zu werden, aber ich fürchte den drängelnden Raser von hinten, der mir Lichthupen ins Gesicht schießt.

- Ich habe Angst vor Situationen, in denen ich groß und stark sein muss, andererseits fürchte ich Situationen, in denen ich klein und schwach bin.

- Ich habe Angst davor, beobachtet zu werden. Immer und überall. Weil mich die Minderwertigkeitskomplexe und die Unsicherheit dann überschwemmen und ich eine negative Bewertung erwarte. Beim Einparken, beim Unterrichten, beim Kochen, beim Vorlesen, beim Reden mit anderen, bei allem. Fast schon ein wenig paranoid. Andererseits fürchte ich, gar keine Beachtung (mehr) zu erhalten.

- Ich habe Angst davor, mir Hilfe zu suchen, aber andererseits fürchte ich mich vor dem Fortgang meines Lebens ohne Hilfe.

- Ganz allgemein: Ich habe Angst vor dem Leben, weshalb ich mich in fiktive Videospielwelten flüchte, in denen ich alles sein kann, was ich möchte. In denen ich alles nur Denkbare ausprobiere, weil ich jederzeit speichern und zurücksetzen kann. In denen ich Fortschritt und Entwicklung sehen und nachvollziehen kann. In denen bestimmte Mechanismen die Welt strukturieren und nicht das eiskalte Chaos.

 

Woran das liegt? Wenn ich das nur wüsste.

Wahrscheinlich habe ich Angst vor der Angst. Und Angst vor Zurückweisung, vor Ablehnung, vor Missgunst, vor Abneigung, vor einer Blamage, vor Konsequenzen.

 

Und woran das liegt? Vermutlich an fehlendem Selbstwertgefühl und mangels Selbstwirksamkeitserfahrungen. Eine genaue Diagnose steht aus. In meinen Geschichten habe ich ja bereits oft darüber geschrieben, mal direkt, mal indirekt. Hier deshalb nur eine Ergänzung:

Leider ist mein Beruf mein Leben, ich definiere mich über ihn, er gibt den Takt vor. Doch mein Beruf gibt mir aktuell nichts zurück, es ist ein zielloses Rennen im Hamsterrad. Egal was ich tue, es folgen keine positiven Resultate, und es folgen überhaupt keine Resultate. Ich musste ein neues Buch schreiben, damit ich wieder ein konkretes Ziel hatte, ein Ergebnis, ein Produkt, auf das ich hinarbeite konnte, ein Erfolgserlebnis. Ich fühle mich nicht wohl, und – noch schlimmer – Kinder fühlen sich nicht wohl. Ich werde immer arschiger und zynischer. Die Stimmung im Umfeld hat sich verändert, genau wie diverse Variablen und Rahmenbedingungen. Ich habe keine Zeit mehr für die wirklich wichtigen Dinge, für die Dinge, für die ich geschätzt werde/wurde, für die Dinge, die den Kindern zugutekommen. Mein Job besteht zu 75% aus Facetten, die ich nicht leiden kann oder in denen ich nicht gut bin. Das war mal anders. Als meine Rolle eine andere war. Und weil Berufs-Bury nicht funktioniert, funktioniert Freizeit-Bury nicht. Ich bin müde, ausgelaugt, deprimiert, frustriert, leer und unzufrieden. Was die Angst verstärkt. Mein aktueller Job ist nicht der Auslöser für meine Angst, aber ein Multiplikator. Ich versuchte, diesem Prozess entgegenzuwirken und z.B. endlich wieder Fußball zu spielen. Denn das kann ich einigermaßen, ich musste nichts Neues erlernen und von null starten, es mündete in positiven Vibes und Erfahrungen, es macht Spaß, Fortschritte sind spürbar. Außerdem führte es automatisch zu Sozialkontakten und Ablenkung. Doch es reicht nicht.

Vor einiger Zeit habe ich, mit einer für meine Verhältnisse unglaublichen Anstrengung, mein Referendariat an den Nagel gehängt und mich beruflich verändert. Weil ich mich leider nicht ändern kann, änderte ich die Umwelt. Und das gelang, zumindest zu Beginn. Nun, nach knapp dreieinhalb Jahren, in denen ich all meine Energie, meine Zeit und teils auch mein Geld in den Job investierte, holt mich die Vergangenheit ein und ich merke: Nein, das war es noch nicht. Oder: Das war es wieder nicht. Es ist nervtötend. Wie oft denn noch soll ich die Umstände ändern, ohne dass sich etwas für mich ändert? Liegt es an mir oder liegt es am Job? Sind wir einfach nicht kompatibel? Und falls ja: Wäre das schlimm? Vermutlich nicht. Schlimm wäre nur die Ungewissheit, in welche Richtung die Reise weitergeht. Ich habe Angst davor, erneut das Handtuch zu schmeißen, aber noch mehr Angst davor, einfach so (bis an mein Lebensende) weitermachen zu müssen. Den aktuellen Job verändern, oder doch kompletter Neustart? Noch bin ich ja einigermaßen jung (wahlweise 20 oder 16.)

 

Bestimmte Leute empfehlen mir regelmäßig, einfach zu schreien und all den Ballast abzuwerfen. Doch das geht nicht, denn dazu fehlt mir die Kraft und ich hätte Angst, dass jemand den kümmerlichen Stiefbruder eines Schreis hört. Dann doch lieber weinen? Aber dann hätte ich Angst, dass mich jemand sieht und mich für einen elendigen Schwächling hält.

Und dass ich ein Schwächling bin, ist spätestens jetzt kein Geheimnis mehr. Ich selbst wusste das schon lange. Mein Kopf redet mir das schließlich regelmäßig ein. Aber ist Selbsterkenntnis nicht der erste Schritt zur Besserung?

 

Ich habe nicht länger die Energie, etwas anderes vorzugaukeln. Statt zu konfrontieren, vermeide ich. Ich meide das Leben. Weil ich mich nichts traue.

Denn ich habe Angst.

Jeden verdammten Tag.

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