Leseprobe I: Wie alles begann...

Der folgende Text ist ein Auszug aus meinem in Kürze erscheinenden dritten Buch ("Zwischen den Fronten - Warum ich dem staatlichen Schulsystem den Rücken kehren musste"), welches meinen Weg zum Lehramt beschreibt – und meine Abkehr davon. Nur um dann doch wieder Lehrer zu sein. Nun, lange Geschichte. Lang genug für ein Büchlein jedenfalls.

 

„Wer nichts wird, wird Lehrer.“

Solche und ähnliche superkreative Abwandlungen eines beliebten deutschen Sprichwortes musste ich mir anhören, als ich damals für meine Verhältnisse großspurig verkündete, nun doch an einer dieser – für einen aus einer Arbeiterfamilie stammenden Dorfjungen regelrecht prächtig schimmernden – Pädagogischen Hochschulen angenommen worden zu sein, nach einem (!) langen Wartesemester, welches ich mit Jobben im Einzelhandel überbrückt hatte. Peinlich genug [...]. Schuldtragend für das Wartesemester: Mein gerade noch so befriedigendes Abitur. Ebenfalls peinlich: Das Eröffnen einer eigenen Kneipe gehört seit jeher zu meinen heimlichen Lebensträumen, also hätte sogar die Originalversion dieser eingangs zitierten äußerst intelligenten Lebensweisheit bei mir voll ins Schwarze getroffen.

„Du willst doch nur ständig Ferien haben, du Halbtagsjobber.“ Ja, wollte ich tatsächlich, ohne dies aber klischeehaft zu denken – ich wusste schon damals, dass die meisten Lehrkräfte, die ihren Beruf ernst nehmen, in den Ferien nicht wirklich Ferien machen, und letztendlich besitzen Lehrkräfte nach den Statuten auch nur 30 Tage Urlaubsanspruch, wie jeder andere Arbeitnehmer auch, wenngleich über 60 Tage offiziell als ››unterrichtsfrei‹‹ – aber eben nicht arbeitsfrei! – deklariert werden. Aber versuchen Sie, diesen Fakt mal jemandem außerhalb des Pädagogik-Zirkels zu verklickern, keine Chance, die Berufsbeschreibung des Lehrers oder der Lehrerin ist charakterisiert durch wildeste Visionen und Vorurteile der Normalsterblichen. Auf rhetorischen Gegenwind reagieren sie dann sofort allergisch, schnippisch, besserwisserisch, die Berufsgruppe ist schließlich klar definiert und gleichermaßen abgestempelt. Ohne echtes Wissen, dafür mit eigenen und als Beweismittel eher geringfügig zugelassenen (Pseudo-)Erfahrungen wird da versucht, verschwörungstheoretisch zu argumentieren, um sein Weltbild, seine selbstkonstruierten Thesen stützen zu können. Wie wenn man einem modernen Impfgegner unter Schweißfluss auf Repeat geschaltet erläutern muss, dass diese Impfungen bereits über Jahrzehnte eine vielleicht gar nicht so verkehrte Idee waren und dank ihnen bestimmte Krankheiten nahezu ausgerottet werden konnten. Oder man mit fanatisch-idiotischen Globuli-Jüngern darüber debattiert, dass ein um mindestens sechs Zehnerpotenzen verdünnter Wirkstoff abgesehen vom Placebo-Effekt schon allein rechnerisch keinerlei (nachweisbare) Ergebnisse hervorbringen kann. Von der beschworenen Heiligkeit der Produzenten, die in der Realität meistens mit den von Homöopathie-Anhängern so geächteten Pharma-Konzernen unter einer Decke stecken (oder sogar identisch sind) und ebenfalls fett Geld mit dem Unwohlsein der Menschen scheffeln, bleibt bei genauerem Hinsehen auch nicht viel übrig. Spielt aber keine weitere Rolle.

Alle diese Themen haben eines gemeinsam: Sie sind leidig, nerven und strengen an. Auch in dieser Hinsicht möchte dieses Buch also Aufklärung leisten, indem es einen Blick in das geheimnis- und sagenumwobene (Arbeits-)Leben der Lehrkräfte eröffnet. Und, soviel lässt sich bereits verraten – da bleibt nur wenig über von den Klischees des Pöbels.

 

Aber woher stammen eigentlich diese unverrückbaren Stereotype? Sind sie vielleicht aus Neid gegenüber des Beamtenstatus – des neuen Adels – und seines mehr als rosigen Gehaltes gewachsen? Oder ist das so einfach so ein Überbleibsel der eigenen Schulzeit, dass man Lehrkräfte per se als strebsame und neunmalkluge Fachidioten in Erinnerung behält, obwohl man ihnen früher dennoch gleichzeitig Faulheit und Müßiggang vorwarf, wenn die nur halbherzig ausgefüllte Klassenarbeit auch nach zwei langen Wochen noch nicht korrigiert ausgehändigt worden war?

Natürlich, es gab auch zu meiner Zeit Lehrkräfte, denen man regelrecht ansah, dass sie sich gemütlich in die Hängematte der nahenden Pension zu retten versuchten. Lehrkräfte, die jede Unterrichtseinheit bereits mehrfach gehalten beziehungsweise abgespult hatten und daher keine explizite Vorbereitungszeit mehr benötigten, die Unterrichtszeit souverän und ohne Hektik hinter sich brachten, um sich dann nachmittags – mit sehr viel mehr Enthusiasmus und Eifer – ganzen Herzens dem eigenen liebebedürftigen Gärtchen vor dem zügig abbezahlten Domizil oder dem Beobachten regionaler Vogelarten widmen zu können. Eine klare Trennlinie zwischen Hobby aus Leidenschaft und Beruf, die es vielleicht seltener gibt, als man vermutet, denn der gemeine Lehrer nimmt seine Arbeit meist mit nach Hause – inklusive der psychologischen Päckchen.

Man fand Lehrkräfte vor, mehr verpeilt als vorbildlich, die nicht genau erklären konnten, wie sie denn zuvor in diesen Beruf geraten waren, aber sich nun irgendwie durchwurschtelten und die man als naiver Bankdrücker trotz oder aufgrund ihrer offensichtlichen Hilflosigkeit vielleicht irgendwie sogar zu schätzen lernte. Es gab weiterhin Lehrkräfte, die ein Leben lang aufgrund ihrer nahezu hitleresken Autorität im Hinterkopf haften bleiben, ganz alte Haudegen von früher, bei denen man zwar auch nichts lernte, aber zumindest die Klappe hielt – und sich als Fünftklässler, gerade erst aus dem wohlig warmen Bauch der fürsorglichen Grundschule entbunden, in vollem Strahl in die Hose pisste, während das vom absolutistisch Herrschenden gelehrte Fach für alle Zeit verdorben wurde – in meinem Fall Geographie.

Andererseits ließen sich auch motivierte, junge, freundliche Lehrkräfte entdecken, die die Fackel der Faszination eines Faches weitertragen und sogar übergeben konnten, die die Schüler respektvoll, fordernd und helfend zugleich, unter ihre Fittiche nahmen – oder zumindest in ihrer unbekümmerten, authentischen Art und Weise Freude machten, obwohl man das Fach vielleicht dezent zum Kotzen fand (ohne dies natürlich laut auszusprechen). Lehrkräfte, die wandelnde Lexika verkörperten, sich in jeder Angelegenheit überdurchschnittlich auskannten, ähnlich eines gruseligen, ständig Wissen aus allen Richtungen aufsaugenden Schwammes aus Interesse und paranormaler Gedächtnisfähigkeit, zu denen man, wenn man sich unbeobachtet fühlte, heimlich aufschaute, während man sie in derselben Sekunde aufgrund ihrer Fähigkeiten und den daraus resultierenden Anforderungen verfluchte.

Weiterhin wurden die Schulflure selbstverständlich von einer großen Zahl an kruden Erscheinungen bewohnt, die jeder aus seiner eigenen Schulkarriere kennen dürfte: Nerdige Physiklehrer, die am liebsten gar nicht erst nach Hause gehen wollten, sondern stetig weiterexperimentieren und die Welt zu erklären versuchten, ohne jedoch eine echte Erklärung dafür zu besitzen, warum sie selbst so verrückt sind, wie sie sind. Chemie-Lehrer, in deren Augen, wenn man genauer hinschaute, bei durchgehendem Lärm und akutem Desinteresse immer wieder die Frage aufflackerte, ob sie die Schülerinnen und Schüler lieber langsam mit einem hinterhältigen Gas meucheln oder doch lieber schnell mit einem großen Knall ins Jenseits schicken sollten. Reli-Lehrer, die aufgrund ihres Faches als Lehrer zweiter Klasse belächelt wurden, weil sie so weit gehen (mussten), es nicht einmal mehr mit echten Inhalten zu versuchen, sondern gleich esoterischen Kauderwelsch auftischten und sich bei ihrem pseudo-moralischen Geschwafel nicht einmal blöd vorkamen, trotz versammelter Klasse mit hochgezogener Augenbraue, einer Klasse, die weder ihn noch das Fach im Allgemeinen ernst zu nehmen wusste – Religion, die verlängerte Pause zwischendurch, Mandala malen, Märchen lauschen, Ablenkung vom echten Schulstress. [...] Wenn man nicht gerade zufällig als ein piepsiges Erste-Reihe-Mädchen geboren wurde, schreckte die Lehrkraft und das Fach zwar ab und man fühlte sich irgendwie für dumm verkauft, aber da der Unterricht im Allgemeinen ziemlich chillig war, keimte nie richtiger Hass auf – wie bei mir zum Beispiel in Mathematik. Gott bewahre.

Oder Latein-Lehrer, gefangen in der Mode der 60er-Jahre und delikaten Sandalen-mit-Socken-Outfits, die offensichtlich Selbstgespräche führten – natürlich auf Latein, oder zumindest griechisch. Die sich so sehr in die zu übersetzenden Texte hineinversetzen konnten, dass ihr heimlicher Wunsch durchschimmerte, sie hätten doch viel lieber in der Hochphase der antiken Kultur gelebt, statt hier, in dieser ordinären Moderne ein paar primitive Dumpfbacken, die nicht einmal eine (tote) Sprache zu ehren wussten, leidvoll und zu niemandes Erbauung unterrichten zu müssen. In vielen Fällen, so merkte man damals als Schüler schnell, schien die Merkwürdigkeit des Charakters unmittelbar mit den studierten Fächern zusammenzuhängen. Aber, wie diese Auflistung auch zeigt: Es gibt nicht nur einen einzigen Phänotyp von Lehrkräften, dementsprechend sind auch die üblichen ››Pauschalklischees‹‹ nicht wirklich anwendbar. Denn: Es gibt, gab und wird sie für alle Zeit in allen Facetten, in allen Formen, in allen Ausprägungen geben, diese Lehrer.

Nur… welcher davon wollte ich sein?

 

Nicht einfach zu beantworten. Wie spätestens mein Abiturzeugnis darlegte, war ich mitnichten ein guter Schüler. Zum Standing eines Klassenclowns hatte es leider ebenfalls nicht ganz gereicht. Dennoch war ich vor allem in der Oberstufe dafür bekannt, ein (imaginäres) Zertifikat für besonders unsensiblen Humor verdient zu haben – wenn auch auf Kosten der Leistung. Aber man kann schließlich nicht alles haben. Meinen eigenen Kopf und Willen zeigte ich in geschickt platzierten Unmutsbekundungen und Wortgefechten mit den verachteten Englisch- und Mathelehrerinnen (ohne dabei grundlegend störend und respektlos frech gewesen zu sein), meine Kreativität bei Schreibaufgaben und wortgewandten Ausflüchten im Fach Deutsch, meine sporadisch vorhandene Motivation in den Fächern Geschichte und Gemeinschaftskunde. Eine ehemalige Geographielehrerin, die Nachfolgerin des Erdkunde-Führers, verlieh mir das Prädikat ››Betonklotz mit Augen‹‹, welches ich mit ehrlichem Stolz empfing und bis heute trage, bezeugte es doch meine eher kühl-rationale Persönlichkeit, mein auffällig löchriges Gedächtnis als auch das überschaubare Arbeitspensum, welches mich durch Schule und später Studium trug, wenn ich gerade nicht so gefesselt war. Nur das Nötigste, aber nie so wenig, dass es wirklich eng geworden wäre.

Vor allem das Fach Geschichte hatte es mir dann aber angetan. Inspiriert durch einen Lehrer, der mir ab der Mittelstufe – ich glaube ab der 8. Klasse, bin mir aber nicht mehr ganz sicher, wie gesagt, löchriges Gedächtnis –, die Bedeutung, Vielgestaltigkeit und den Reiz historischer Inhalte bis hin zum Abitur aufzeigte. Ich weiß nicht genau, wie dieser eine Lehrer das geschafft hatte, vielleicht durch seine sympathische, engagierte und irgendwie normale, unaufgeregte und unaufdringliche Art – einfach mal kein stumpfer Gegenspieler, an dem man sich aus Prinzip zu reiben versuchte, sondern ein Verbündeter in der schier aussichtslosen Schlacht um gute Noten, bei der ich mich sonst oft fühlte, als wäre ich nur mit meinen Fäusten bewaffnet in eine Messerstecherei oder ein High-Noon-Revolver-Duell geraten. Jedenfalls: Er lehrte und vermittelte Geschichte nicht als staubtrockenen Buchinhalt, sondern war fasziniert vom eigenen Fach und seiner Bedeutung bis in die heutige Zeit hinein, und konnte diese Faszination irgendwie auf mich überspringen lassen. Obwohl der Unterricht, rein methodisch gesehen, dennoch meist klassisch und ohne bemerkenswerte Überraschungen, Aktionen oder Einfälle verlief.

So kam es, dass ich Blut geleckt hatte, das Studium des Faches war nur folgerichtig. Und wie sehr die Lehrkraft mich geprägt hat, zeigen auch meine heutigen Interessensschwerpunkte. Die neuere Geschichte, so zirka ab der Französischen Revolution, gilt bis heute als mein Favorit. Für die Antike oder die Menschwerdung wende ich dagegen nur ungern geistige Kraft auf. Warum? Eine andere Lehrperson war damals für meinen Geschichtsunterricht verantwortlich – eine, die meine Hingabe und mein Interesse nicht wecken konnte. Ob man das allerdings ihr vorwerfen kann, weiß ich nicht, schließlich ist es schon ein arg kniffliges Unterfangen, Kinder in der fünften oder sechsten Klasse für derart komplexe Themen begeistern beziehungsweise es ihnen schmackhaft und gleichzeitig verständlich machen zu können. Insgesamt zeigt das aber mal wieder, welchen mitunter großen Einfluss einzelne Lehrkräfte – oder ein Verbund aus diesen – auf die persönliche Entwicklung eines Kindes beziehungsweise eines Jugendlichen besitzen können – oder eben auch nicht.

Konnte ich nun nicht auch ein derartiger Motivator, ein Begeisterer für meine vertretenen Fächer sein? Der Jürgen Klinsmann* der Geisteswissenschaften? Viel Freude vermitteln, irgendwie für ein sommerliches Bildungsmärchen sorgen, ohne inhaltlich ganz dick aufzutragen?

Ein bisschen wollte ich also sein wie mein Geschichtslehrervorbild, auch wenn er allein körperlich eine ganz andere Erscheinung war – dazu umfassend kompetent. Und, ohne zu wissen warum, war mein Gehirn seit frühester Zeit irgendwie besessen davon, Lehrer zu werden. Vielleicht, weil ich schon immer gerne las, schrieb und mich kreativ auslebte, oder andererseits keinerlei handwerklichen Talente vorweisen konnte. Und: Irgendwie packte mich der Ehrgeiz, den Unterricht so ansprechend zu gestalten, dass spätere Generationen nicht diesen eintönigen Buchunterricht erleben mussten, wie ich und viele andere ihn bereits ertragen durfen. Mit Humor hantieren, Neugier wecken, Spaß haben – eben einfach anders, nicht so schwerfällig und ausdruckslos.

Die Ziffern auf meinem trotz alledem freudig empfangenen Zeugnis ließen dann ja auch keine allzu großen Sprünge zu. Geschichte an der Uni studieren? Vielleicht noch möglich, aber was macht man damit im Anschluss? Studium abgeschlossen – und jetzt? Diese Ungewissheit, als Akademiker vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen und nicht zu wissen, wohin es mich treibt oder treiben kann, wollte ich tunlichst vermeiden. Hätte mein nahes Vergangenheits-Ich gewusst, wie sich die Dinge entwickeln… nun ja.

Oder doch erst eine Berufsausbildung absolvieren, was mir im Nachhinein sehr löblich und sinnvoll erscheint, eine praktische und handfeste Grundlage, ein potenzielles Studium dann zur Vertiefung oder Schwerpunktsetzung? Aber welche Ausbildungen hätte es gegeben, die meine Interessen wirklich widerspiegeln? Die Auswahl und kreativen Bezeichnungen der Ausbildungsberufe stehen den hunderttausenden an potenziellen Studiengängen doch ein wenig nach. Und heutzutage ist es – vielleicht auch deshalb – ja einfach ››in‹‹, studieren zu gehen. Unabhängig des erwarteten, erwartbaren und tatsächlichen Ertrags. Zusätzlich war es für mich und mein familiäres Umfeld etwas Besonderes und Seltenes, ein Studium anzutreten. In der Rückschau kann ich die Begeisterung darüber nicht mehr ganz nachvollziehen – und auch meiner Familie versuchte ich zu vermitteln, dass studieren gehen, zumindest an einer Pädagogischen Hochschule, nun wirklich keine vor Stolz feuchten Augen hervorrufen muss. Warum? Erzähle ich später.

 

Aber egal. Hätte, hätte. Vielleicht wäre mein Leben, meine Berufsfindung anders verlaufen. Mit Sicherheit sogar. Vielleicht hätte mir das Uni-Studium, egal ob Geschichte, Marketing oder Journalismus, aber gar keinen Spaß bereitet. Es ist müßig, darüber zu philosophieren. Es bleibt, was übrig ist: Ich habe nun einmal Lehramt studiert, ohne Lehrer (im Staatssystem) zu werden. Ich habe das Gebäude, welches ich nie richtig aufgebaut habe und haben konnte, wieder eigenhändig eingerissen.

 

Alles weitere: offen. Mutig, aber richtig.

Hoffe ich.     

 

 

 

*Als diese Zeilen geschrieben wurden, hatte er sein perfides Gesicht innerhalb des lausigen Schmierentheaters rund um Hertha BSC noch nicht gezeigt.

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