Leseprobe V: Wenn Mängel und Mangel eine Beziehung führen...

Der folgende Text ist ein Auszug aus meinem in Kürze erscheinenden dritten Buch ("Zwischen den Fronten - Warum ich dem staatlichen Schulsystem den Rücken kehren musste"), welches meinen Weg zum Lehramt beschreibt – und meine Abkehr davon. Nur um dann doch wieder Lehrer zu sein. Nun, lange Geschichte. Lang genug für ein Büchlein jedenfalls.

 

[...]

Lange ging man von sinkenden Schülerzahlen aus – obwohl, in Folge der Migrationsbewegungen, auf lange Sicht eher eine Erhöhung derselben zu erwarten ist. Es wird also, wie es Thomas Heuzeroth der Welt formuliert, nicht reichen, auf kommende Budgetkürzungen stolz zu verzichten, um damit ja unter dem Strich für jeden Lernenden in Zukunft mehr Geld zur Verfügung zu haben, was bislang als geheimes Ziel der Kultusministerin vermutet wird.

 Der erwartete Sprung der Zahlen bis 2025 erfordert weitere finanzielle Mittel und vor allem deutlich mehr Lehrkräfte, die ja bereits heute auf-grund der Überalterung der Beamten fehlen.[i] In besonderem Maße betroffen: Die Gemeinschaftsschulen, die ja mit individueller Förderung und persönlicher Betreuung punkten möchte. Zwar hat das Land Baden-Württemberg auf diese neuen Zahlen reagiert und die zuvor gekürzten Studienplätze im Lehramt, vor allem auf Grundschulebene, wieder erhöht – ob die Lücken, die aufgrund der Fehlplanungen der letzten Jahre entstanden sind, damit ausgefüllt werden können, bleibt abzuwarten.

 Vor allem, wie auch Alexander Lorz (CDU) bestätigt, weil es nicht nur darum geht, den aktuellen Bedarf abzudecken, sondern auch die in der nahen Zukunft neu hinzukommenden Stellen zu besetzen. Die aktuelle Kultusministerin des Landes, Susanne Eisenmann von der CDU, erkennt dank ihrer visionären Arbeit jedenfalls eine positive Tendenz – wie sollte es auch anders sein. Als einen gewichtigen Faktor hierfür arbeitet sie heraus, dass im Südwesten eine Übernahme in das Beamtenverhältnis noch immer die Regel sein würde – andere Bundesländer diese Motivationsspritze nicht verabreichen könnten.[ii] Ob das reicht, jahrelange Misswirtschaft auszugleichen? Und kann man eigentlich ein Faktum, das bereits Jahrzehnte so war, als politische Eigenleistung verkaufen, nur weil es andere Bundesländer mittlerweile abweichend handhaben?

Die Lehrergewerkschaft GEW geht mit Frau Eisenmann weniger verblümt ins Gericht und fordert mehr echte Reformen statt publikumswirksamer Schaufensteraktionen und rügt, dass aufgrund des Lehrermangels das selbst gesteckte Ziel des individuellen Lernens durch die notgedrungen hohen Klassenteiler nicht erreicht werden könnte, wenn nicht zumindest sogenannte ››Pädagogische Assistenten‹‹, die die Lehrer entlasten sollen, eingestellt werden würden. Die Erhöhung der Lehramtsstudienplätze finden Vertreter der Gewerkschaft allerdings ebenfalls sinnvoll.[iii]

 

Unter dem Strich steht jedoch: Laut der neuesten Bedarfsrechnung des Kultusministeriums ist eine Lücke von über 10.000 Lehrkräften bis ins Jahr 2030 hinein zu erwarten.[iv] Für das Schuljahr 2019/20 rechnete man bundesweit mit 15.000 gänzlich unbesetzten Lehrerstellen, die Bertelsmann-Stiftung spricht gar von knapp 26.000 unbesetzten Stellen im Jahr 2025.[v] Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn de facto fehlen Deutschland noch viel mehr, nämlich bis an die 50.000 Lehrkräfte. Wieso? Weil knapp über 40.000 Stellen mit weniger qualifizierten Kräften, Pensionären und Quereinsteigern besetzt sind.[vi] In Brandenburg ist mittlerweile jede dritte neu eingestellte Lehrkraft Seiteneinsteiger und ohne entsprechenden pädagogischen Abschluss, bei den befristeten Verträgen sind es sogar über 50%.

Die brandenburgische GEW fürchtet in der Folge eine „Entprofessionalisierung“[vii] des Lehrerberufes – wobei, wenn die Lehrerausbildung in Brandenburg ähnlich läuft wie in Baden-Württemberg, muss man sich sowieso fragen, ob denn nicht bereits das Studium ››entprofessionalisierend‹‹ wirkt (vgl. Leseprobe 3). [...]

 

Lehrermangel. Ein geflügeltes Wort in Bezug auf Bildung im Alltag, in den Medien und im wissenschaftlichen Diskurs. Und ähnlich flatterhaft: Als ich 2012 anfing zu studieren, sagte man mir, dass es zurzeit sehr schwierig sein würde, Stellen zu ergattern oder gar verbeamtet zu werden. Ich habe diese weisen Ratschläge (oder waren es Warnungen?) nie auf ihre Richtigkeit überprüft, zu viel unpräziser Kauderwelsch steckte in ihnen, da die Einstellungs- und Verbeamtungschancen teilweise je nach Jahr, Bundesland, Landkreis und Schulform voneinander abweichen konnten. Und ein paar Jahre später, am Ende des Studiums, hieß es plötzlich, dass jede potenzielle Lehrkraft mit Handkuss begrüßt werden würde, ja beinahe eine Jobgarantie bestehe, da überall akuter Bedarf. Selbst das ››Seminar für Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte‹‹ und seine Vertreter flehten die kommenden Lehramtsanwärter in einer Einführungsveranstaltung des Referendariats regelrecht an, doch bitte in Baden-Württemberg zu bleiben, weil händeringend pädagogischer Nachwuchs gesucht werden würde. Nun ja, wirklich ungünstig, dass das Schulsystem und sein vorangestelltes, überarbeitungsbedürftiges Ausbildungskonzept aktuell leider keine gute Verfassung aufweist und noch weniger einen guten Eindruck hinterlässt [...].

 

Hauptgründe für den Mangel an Lehrkräften sind aber andere: In vorderster Front ist die Überalterung der Gesellschaft zu nennen, die auch vor dem Lehrerberuf nicht Halt macht. Eine hohe Zahl von Pensionären erfordert eine gleichsam hohe Zahl von Neueinstellungen. Auch für das Schuljahr 2018/19 konnten nicht alle offenen Stellen akkurat besetzt werden, obwohl das Land Baden-Württemberg eigens ein Maßnahmen-paket schnürte, um in erster Linie den chronisch unterbesetzten und eigentlich so wichtigen und prägenden Grundschulbereich einigermaßen abzudecken. Die Maßnahmen sollten vor allem ››flexible Bewerber‹‹ ansprechen, um diesen beispielsweise – trotz ihrer eigentlichen Ausbildung als Gymnasiallehrkräfte – eine unbefristete Stelle in der Primarstufe oder den Umzug in eher unbeliebte Provinz- oder Stadt-Gebiete schmackhaft zu machen. Vor allem die Junglehrer scheinen sich nämlich häufig zu weigern, sich auf alle möglichen offenen Stellen zu bewerben, weil damit das Verlassen ihrer Wunschstandorte bzw. ihrer Heimat einhergeht.[viii] Ein ››Ködern‹‹ derselben durch finanzielle Zuschläge wird in den Diskursen der Gewerkschaften deshalb hin und wieder ebenfalls diskutiert. Seit 2017 kann erstmals und offiziell von einem Bewerbermangel auch in der Sekundarstufe I (außer für das Gymnasium) gesprochen werden, wenn auch regional bedingt. Gestandene Lehrkräfte werden so beispielsweise in ländliche Gefilde, fern ab vom Schuss, zwangsversetzt, um die gewünschte schulische Grundversorgung sichern zu können – auch nicht gerade ein Faktor, der den Beruf attraktiver macht, auch wenn die Verfügungen in gewisser Weise Sinn machen, um das Problem kurzfristig zu lösen.

Ein weiterer Grund für die hunderten unbesetzten Positionen ist auch die Umstellung des Studiums: Die neuen Bachelor- und Master-studiengänge, die das altehrwürdige Staatsexamen in Rente schickten, erhöhten die Regelstudienzeit von 8 auf 10 Semester, wodurch eine Lücke an Absolventen entstand, die jetzt auch auf dem Arbeitsmarkt sichtbar wird. Aufgefangen wird die Personalnot in vielen Fällen – deckend mit meinen Erfahrungen – ausgerechnet durch bereits oder glücklicherweise noch vorhandene Lehrkräfte: Deputate nehmen zu, Teilzeitkräfte "dürfen" ihre Stundenanzahl erhöhen. Oder schon pensionierte oder vor dem Ruhestand stehende, sehr engagierte Personen reaktivieren sich selbst, um bei Not am Mann auszuhelfen.

Eine fast siebzigjährige Lehrerin, die ich bei meinem ersten Tag an der Gemeinschaftsschule kennenlernen durfte, blieb mir dabei in besonderer Erinnerung. Eigentlich in Rente, aber aus Liebe zu ihrem Beruf und der Freundschaft zu ihren Kollegen noch immer aktiv, ließ sie sich ein weiteres Jahr verpflichten, um in der integrierten Grundschule auszuhelfen. Mit Augen, in denen noch immer pädagogisches Feuer loderte, und einem stolzen Strahlen im Gesicht erklärte sie mir: „Es fühlt sich einfach richtig an – ich habe schließlich den besten Beruf der Welt: Mit Kindern zu arbeiten. Eigentlich ist das für mich gar kein Beruf, sondern eine Leidenschaft. Ich will gar nichts anderes machen.“ Ja, man muss diesen Job wirklich lieben, um nach all den Jahren noch diese Einstellung vertreten zu können. Mich hätte es brennend interessiert, ob sie dieses Empfinden in sich tragen würden, wenn sie in der Sekundarstufe unterrichten würde – das bezweifle ich stark. Nicht umsonst hörte man immer wieder Stimmen, ob während des Studiums oder im Lehrerzimmer, die sagten, dass sie äußerst froh wären, nicht im Chaos der Sekundarstufe versinken zu müssen. Und diese tollen Sätze, die diese Dame von sich gegeben hatte, hätte in demselben Klassenzimmer kein einziger der Lehrer aus der Sekundarstufe (und vielleicht auch der Grundschule) so wiederholen können, ohne währenddessen schrecklich ironisch zu werden.

Unabhängig davon: Die Schulen und die Kinder können und sollten sich mehr als glücklich schätzen, solche unverwüstlichen und schier endlos motivierten Menschen wie diese Kollegin in ihren Reihen zu wissen.

 

Die andere, weniger romantische Seite derselben Medaille ist, dass die Schulen und Kinder leider zwingend darauf angewiesen sind. Die Schattenseiten des Mangels lassen sich ebenso wenig vom Tisch fegen wie die anrührende Begeisterung der betagten Kollegin. Früher, als gemeiner Schüler, konnte mir der routinemäßige Gang zum Vertretungsplan den Tag versüßen. Geil, keine Mittagsschule! Nun, auf der Seite der Lehrer, ist die Situation eine andere, jeden Morgen bange Blicke: Welche Stunden fallen schon wieder aus? In welchen Stunden habe ich erneut Vertretung – und warum überhaupt schon wieder ich?! Wer ist schon wieder krank, aufgrund der maßlosen Belastung? Wer ist auf Fortbildung oder aus sonstigen Gründen außer Haus? Die Antwort auf die beiden letzten Fragen ist beinahe täglich die gleiche: Einige. Wenn nicht sogar viele. Vor allem die Krankheitstage häufen sich enorm, auch eine Folge der erhöhten Anforderungen. „Wenn ich das heutige Lehrerdasein mit meiner Tätigkeit vor rund 25 Jahren vergleiche“, verriet mir ein Lehrer mittleren Alters, sehr gefestigt und eigentlich im Reinen mit sich, „dann muss ich sagen, dass sich mein Arbeitspensum sicher um 50% erhöht hat.“

Einen massiven Arbeitszuwachs sieht er in zusätzlichen Betreuungsangeboten, einer erhöhten Anzahl von Elterngesprächen, vermehrten Konferenzen (Fach-, Schul-, Klassenkonferenzen etc.), Fortbildungen und sonstigen Schulveranstaltungen (Ausflüge, Infoabende etc.) begründet – eben der gefürchtete Rattenschwanz des Jobs, der über das Arbeiten mit Kindern hinausgeht. Die verpflichtende Ganztagesschule tut hierzu ihr Übriges – neben der regelmäßigen, sehr aufwändigen Formulierung von Lernstandserhebungen und Entwicklungsberichten. Die eigentlich ver-pflichtenden individuellen Coachings werden an manchen Schulen sogar komplett eingestellt, weil der personelle Spielraum dies nicht mehr zulässt.

Diese zeitliche Beanspruchung sowie das individuelle Belastungsempfinden steigt dagegen unaufhaltsam an – und dadurch auch die Anfälligkeit für psychische und physische Krankheiten. „Mehrere, vor allem jüngere Kolleginnen und Kollegen, stehen bereits an der nervlichen und körperlichen Belastungsgrenze, was die Burn-Out-Gefahr massiv erhöht“, erzählte er weiter. Auch er selbst habe vermehrt Tage, an deren Ende er erschöpft und ausgelaugt den kurzen Feierabend nach der zigsten Konferenz nicht mehr genießen könne. Die Vorstellung des faulen Lehrers, der vormittags recht und nachmittags frei hat, löst sich endgültig in Rauch auf. Die GEW spricht gar davon, dass die Lehrer gerade „wie Zitronen ausgepresst werden“[ix] würden.

 

In den Lehrerzimmern der Nation eröffnet sich eine regelrechte Paralleldimension: Ein kurzes Ringen nach Luft, ein kurzes, befreiendes Aufatmen, es wird geflaxt und gefachsimpelt. Das stete Klopfen an der Türe wird gekonnt ignoriert, man braucht die lächerlich kurze Pause, um überlebenswichtige Energie zu tanken. Endlich über Themen reden, die einen interessieren, mit Menschen, die diese verstehen – wenn nicht gerade der Rektor erneut an dringende Termine erinnert und den Pausen ihre Kostbarkeit raubt. Sobald sie, eher zu spät als zu früh, das Lehrerzimmer wieder verlassen, schwindet die Authentizität der Lehrkräfte, Mundwinkel wie Vorhang fallen, sie bringen das Elend so kraftsparend wie möglich, beinahe roboteresk, hinter sich.

Die Ferien? Dringend benötigter zeitlicher Puffer, um all das zu erledigen, was zuvor stets aufgeschoben werden musste. Und sei es nur ein inneres Abschalten, ein Runterkommen, ein Kraftschöpfen, Reserven auffüllen. Oder das Vorbereiten von durchdachten Unterrichtsstunden – hat nämlicher sonst auch keiner Zeit für. Falls man diese denn wirklich genießen kann, für angestellte und nicht-verbeamtete Lehrer sind die Sommerferien (gerade in Baden-Württemberg![x]) gleichbedeutend mit Arbeitslosigkeit, sie dürfen sechs Wochen auf dem Amt verbringen, in der Hoffnung, im nächsten Schuljahr wieder (ironischerweise an der gleichen Schule) unterzukommen. Bis zu zweitausend Lehrkräfte melden sich allein im Südwesten über die Sommerferien arbeitssuchend. Das tut selbst beim Niederschreiben weh, dass so etwas legal ist, wenn man überlegt, welche Verantwortung Lehrkräfte tragen und welche Leistungen von ihnen tagtäglich erwartet werden – und das angestellte Lehrer sowieso schon weniger verdienen als ihre staatstreuen Kollegen.

Und vor den Sommerferien? Nochmal Stress am Siedepunkt, alles fokussiert sich auf fällige Noten und Zeugnisse, Versetzungsentscheidungen, Organisationsbedürfnisse für das nächste Schuljahr, niemand hat mehr echte Lust, noch weniger als eh schon, die Stimmung kurz vor der Ex- oder Implosion.

 

[...]

 

Eine Verschiebung der Schwerpunkte in der Lehrertätigkeit ist sogar wissenschaftlich nachgewiesen und seit längerer Zeit Thema in entsprechenden Abhandlungen. Neuesten Erkenntnissen zufolge veränderte sich die Tätigkeitsstruktur der Lehrkräfte in den letzten Jahren derart nachhaltig, das immer weniger Zeit für die eigentlichen pädagogischen Kernbereiche aufgewendet werden kann: Die Unterrichtsplanung und -nachbereitung bleibt auf der Strecke, auch die unterrichtsnahe Lehrarbeit (z.B. Korrekturen) leidet massiv unter ››unterrichtsferner‹‹ Mehrarbeit und Aufgabenvielfalt (Konferenzen, Fortbildungen, pädagogische Gespräche etc.).[xi] Eine Lehrkraft kann da-mit immer weniger das tun, was sie eigentlich möchte bzw. wozu sie ausgebildet wurde – nämlich unterrichten. Das neue, gewandelte Berufsbild nimmt den Lehrkräften gegen ihren Willen und ohne sie zu fragen die Zeit für ihre Lieblingstätigkeit (immerhin der ausschlaggebende Grund von vielen für ihre Berufswahl!) und schüttet sie stattdessen mit anderen Aufgaben zu. Phantastisch. [...]

Die Forderungen von Frank Mußmann, der die neuesten Erkenntnisse zum Berufsbild 2.0 veröffentlichte, nämlich die Attraktivität des Lehrberufes zu steigern, für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen und den Anteil außerunterrichtlicher Verpflichtungen zu senken, stimmen mit der Ansicht des befragten Lehrers komplett überein: „Mittlerweile habe ich unter der Woche keine Zeit mehr für die Unterrichtsvorbereitung. Das geschieht alles am Wochenende – und dann auch mehr schlecht als recht, weil ich ja auch noch ein bisschen Zeit für mich selbst brauche.“

Eine weitere Lehrerin ergänzte dies wie folgt: „Bei mir ist eigentlich seit Wochen nur Türschwellenpädagogik angesagt. Für eine ausführliche, gute Unterrichtsvorbereitung fehlt mir die Zeit, die Lust – und der Nerv.“ Nicht gerade das, was man als naiver, vom Studium verblendeter Berufsanfänger hören möchte, angereichert mit lauter bunt glänzenden theoretisch-idealistischen Ideen aus dem Studium, wie ein auf-steigender Heißluftballon aus Kreativität und Einfallsreichtum, Schüleraktivität und Freude am Lernen – der jäh von den Stecknadeln der Realität auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird, um anschließend von der grummeligen Reinigungskraft, lieblos und ohne auf Erfordernisse der Mülltrennung zu achten, im nächstbesten Eimer verscharrt wird. Ohne Chance auf Wiederkehr. Genau wie die Motivation aller Beteiligter.

 

Diese Aussagen stimmen vor allem deshalb traurig, weil – der Theorie nach – gerade die Vorbereitung eines differenzierenden Unterrichts zu den Kernkompetenzen einer jeden zeitgemäßen Lehrkraft gehören sollte. Etwas salopp formuliert, muss ja jede der Individualität und der Prinzipien des Bildungsplanes gerecht werdende Unterrichtsstunde dreigleisig vorbereitet werden, angepasst auf das G-, M- und E-Niveau der Lernenden – dies wird schließlich bereits im Referendariat erwartet [...] Wenn die Lehrkräfte im Alltag aber nicht mal eine einzige Unterrichtstunde anständig planen können, wie und wann sollen sie dann erst ein 3-in-1-Stunde gestalten? Selbst die anfangs hochmotiviertesten Kollegen wirken schnell resigniert, da sie zügig erkennen müssen, dass eine derartige „Herkulesaufgabe nicht zu bewerkstelligen“[xii] ist. Solch gravierende Unterschiede zwischen Theorie und Praxis treiben selbst dem neutralen Beobachter wirklich Sorgenfalten und Zornesröte gleichermaßen ins Gesicht.

Schlimmer wird das nur noch, wenn man besonders qualifizierte Äußerungen der allwissenden Politik vernehmen muss: Der ehemalige Kultusminister des Landes, Andreas Stoch, immerhin unter der Flagge einer sozial-(demokratisch)en Partei bis 2016 im Amt, zeigte sich ziemlich unbeeindruckt von den Erfahrungsberichten der Lehrkräfte und äußerte zu der Forderung Thorsten Bohls nach mehr Personal oder zumindest verringerten Deputaten süffisant und lediglich, dass das Anbieten von Lerninhalten auf verschiedenen Niveaustufen nun einmal zum obligatorischen Handwerkszeug eines Gemeinschaftsschullehrers gehöre.

Tja, Augen auf bei der Berufswahl, liebe Lehrer. Blöd nur, dass niemand explizit das Studium des Gemeinschaftsschullehrers absolviert hat – oder bei der überstürzten Einführung gefragt wurde, ob man das denn machen möchte. Und falls ja, wie man das denn machen könnte. Die echte Krux beim potenziellen Verringern der Deputate liegt allerdings tatsächlich auch am Lehrermangel – es wäre ja auch einfach niemand da, die zu besetzenden Stunden aufzufangen. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz.

[...]

 

 

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[i] „Enormer Handlungsdruck. Viele Bundesländer müssen komplett umdenken“ - WELT-Artikel vom 11.07.2017.

Online abrufbar unter: https://www.welt.de/wirtschaft/article166546342/Enormer-Handlungsdruck-Viele-Bundeslaender-muessen-komplett-umdenken.html [Stand: 26.02.2019]

[ii] „Kampf gegen Lehrermangel: Baden-Württemberg gut gerüstet“ – Artikel des Zeitungsverlages Waiblingen vom 28.12.2018.

Online abrufbar unter:

https://www.zvw.de/inhalt.stuttgart-kampf-gegen-lehrermangel-baden-wuerttemberg-gut-geruestet.38673e8d-d187-42e2-b13a-07ce48072a3b.html [Stand: 27.02.2019]

[iii] „Gewerkschaft kritisiert _Schaufensterpolitik‘“ – Artikel der Stuttgarter Nachrichten vom 05.09.2018.

Online abrufbar unter:

https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.in-baden-wuerttemberg-beginnt-das-neue-schuljahr-gew-kritisiert-schaufensterpolitik.b47256c6-854b-4529-bc11-6cf089e2a724.html [Stand 28.02.2019]

[iv] Linek, Jens: Lehrkräftemangel: 10.600 neue Lehrerstellen bis 2030 benötigt. In: VBE-Magazin April 2019, S. 4.

[v] „Lehrermangel in Grundschulen bis 2030 größer als bislang erwartet“ – Artikel der Bertelsmann-Stiftung vom 09.09.2019.

Online abrufbar unter:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2019/september/lehrermangel-in-grundschulen-bis-2030-groesser-als-bislang-erwartet/ [Stand: 10.09.2019]

[vi] „15.000 Lehrer gesucht“ – Artikel der FAZ vom 02.08.2019.

Online abrufbar unter:

https://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/lehrermangel-bundesweit-fehlen-15-000-lehrer-16315006.html [Stand: 04.08.2019]

[vii] „GEW: Jeder zweite neue Lehrer ist Seiteneinsteiger“ – Artikel des rbb vom 22.08.2019.

Online abrufbar unter:

https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2019/08/brandenburg-lehrermangel-quereinsteiger-gew.html [Stand: 23.08.2019].

[viii] „Maßnahmenpaket gegen Lehrermangel zeigt Wirkung“ – Land Baden-Württemberg, 06.09.2018.

Online abrufbar unter:

https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pres semitteilung/pid/massnahmenpaket-gegen-lehrermangel-zeigt-wirkung/ [Stand: 26.02.2019]

[ix] Gewerkschaft kritisiert „Schaufensterpolitik“ – Artikel der Stuttgarter Nachrichten vom 05.09.2018.

Online abrufbar unter:

https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.in-baden-wuerttemberg-beginnt-das-neue-schuljahr-gew-kritisiert-schaufensterpolitik.b47256c6-854b-4529-bc11-6cf089e2a724.html [Stand 28.02.2019]

[x] „Schuljahr vorbei, Job weg“ – Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 25.07.2019.

Online abrufbar unter:

https://www.sueddeutsche.de/bildung/lehrer-sommerferien-arbeitslos-1.4539193 [Stand: 26.07.2019]

[xi] Mußmann, Frank: Arbeitszeiten im Lehrerberuf. Plädoyer für eine Stärkung der pädagogischen Kernbereiche. In: Pädagogik 2/19, S. 42-47.

[xii] „Lehrer wie Dompteure im Zirkus“ – Artikel der FAZ vom 27.02.2016.

Online abrufbar unter:

https://www.faz.net/aktuell/politik/wahl-in-baden-wuerttemberg /baden-wuerttemberg-lehrer-kritisieren-gemeinschaftsschulen-14062812.html [Stand: 28.02.2019]

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